Industriell zum Unikat

Hightech vereint ungleiche Paarung aus Massen- und Einzelfertigung

Personalisierte Produkte zum Preis von Massenware – die Studie „Mass Personalization“ und ein neues Leistungszentrum an der Universität Stuttgart arbeiten darauf hin.

Mass Personalization macht dem Einheitslook ein Ende.
Mass Personalization macht dem Einheitslook ein Ende.

Industrie 4.0 ist in der Praxis angekommen. In Studien und mit einem neu ins Leben gerufenen Leistungszentrum suchen Forscherinnen und Forscher der Universität Stuttgart aktuell nach einer Verbindung zu einem anderen Megatrend: der Individualisierung. Dabei könnte die Personalisierung den Bogen spannen zwischen automatisierter Massenproduktion und prä-industrieller Einzelanfertigung. Das Stichwort der Stunde heißt „Mass Personalization“.

Als einer der Vordenker dieser Vision blickt Prof. Thomas Bauernhansl, Leiter des Instituts für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF) der Universität Stuttgart und des Fraunhofer Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA), weit in die Vergangenheit: „Vor der ersten industriellen Revolution war die Produktion handwerklich geprägt. Ein Schuster fertigte Schuhe nach Maß, jedes Paar war eine Einzelanfertigung.“ Das kostete durchschnittlich einen Monatslohn und brachte Qualitätsschwankungen mit sich, wenn ein Schuster nichts taugte. Durch die Industrialisierung schrumpfte diese Mannigfaltigkeit zur Massenproduktion. Bis Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Individualisierung Einzug hielt und mit ihr – nach Baukastenlogik – die Fertigung aus normierten Einzelteilen, was zur heutigen Vielfalt in den Schuhläden führte.

Für Bauernhansl und seine Kollegen der nächste konsequente Schritt: Jeder soll maßgefertigte Schuhe bekommen, aber zum Preis und in der konstanten Qualität der Massenproduktion. „Wir werden nur noch zum Teil den Baukasten nutzen, dafür aber Teile in Stückzahl Eins entwickeln und herstellen – und das alles mit den Mitteln neuer Technologien wie etwa dem 3D-Druck.“ Dabei denken die Forscher über relativ banale Produkte wie Schuhe weit hinaus. In ihrer Studie „Mass Personalization“ nehmen die fünf Fraunhofer-Institute in Stuttgart die Themen Mobilität, Wohnen und Gesundheit in den Fokus – und damit Bereiche von enormer gesellschaftlicher Relevanz mit zahlreichen Facetten und hohem technischem Anspruch.

Klassische Grenzen auflösen

„Die Kunst ist es, die klassischen Grenzen zwischen Herstellern und Verbrauchern aufzulösen“, sagt Bauernhansl und verdeutlicht: „Ein Kunde will nicht zwingend eine Bohrmaschine kaufen, er will zunächst nur ein Loch in der Wand. Das müssen wir ihm bieten.“ Um den Kunden herum errichtete „Ökosysteme“ könnten unter Beteiligung vieler Wertschöpfungspartner gemeinsame Plattformen ermöglichen, die ihm individuelle Leistungen böten. Dieses Konzept nennen die Forscher „B2U“, das für Business to User steht. Dabei ist der Nutzer Mittelpunkt aller Anstrengungen.

Einzelanfertigung ohne gravierende Mehrkosten: Das ist zunächst eine gedankliche Hürde. Immerhin kostet auch ein Maßanzug das Vielfache eines Modells von der Stange. Bauernhansl zerstreut diese Bedenken: „Bisher musste der Hersteller antizipieren, was seine Kunden in Zukunft kaufen möchten. Heute kann der Kunde über spezielle Services das gewünschte Produkt selbst mit entwickeln und so die komplexitätsgetriebenen Kosten senken.“ Ein bereits funktionierendes Beispiel dafür hat die Firma Schunk entwickelt, ein Hersteller von Greifsystemen und Spanntechnik in Lauffen am Neckar. Das Unternehmen erstellte die Plattform eGrip, auf der Anwender 3D-Modelle der zu greifenden Objekte hochladen und, unterstützt von der Entwicklungsabteilung, den passenden Greifer gestalten können. In weiteren Stufen, davon ist Bauernhansl überzeugt, ließe sich auch die Entwicklung vollständig automatisieren beziehungsweise als zusätzlichen Service hinzukaufen. Immer mit dem langfristigen Ziel, personalisierte Produktion zum Preis von Massenproduktion zu ermöglichen, um den Ansatz wirtschaftlich nachhaltig werden zu lassen.

Die Studie zum Thema „Mass Personalization“ hatte den Zweck, den Handlungsbedarf und erste Lösungen aufzuzeigen. Im Mittelpunkt der Forschung steht jetzt ein Leistungszentrum für Mass Personalization, das Universität Stuttgart und Fraunhofer mit einem Gesamtvolumen von 12,5 Millionen Euro vorantreiben. Daneben sollen bereits bestehende Institutionen wie der Stuttgarter Forschungscampus ARENA 2036 eine wichtige Rolle spielen, zum Beispiel um „smarte“ Autos für die personalisierte Mobilität zu entwickeln.

Vom Wohnen bis zum digitalen Arzt

Chancen für die ungleiche Paarung aus Massen- und Einzelfertigung sehen die Forscher auch für den Bereich Wohnen. Zwar wird heute schon nach individuellen Wünschen gebaut. Verändern sich jedoch die Anforderungen an das Wohnen im Laufe des Lebens, ist ein Umbau häufig nur mit großem Aufwand verbunden. Bauernhansl: „Wir suchen nach neuen Konzepten für Räume, die leichter anpassbar sind.“ Auch „smarte“ Gebäudetechnik spielt hier eine Rolle, um etwa älteren Menschen länger ein selbstbestimmtes Wohnen zu ermöglichen. Dritter Schwerpunkt der Massenpersonalisierung ist die Gesundheit mit der Vision des „digitalen Arztes“. „Personalisierung ist hier essenziell, um zu einem höheren Qualitätsniveau zu kommen, bei gleichzeitig niedrigeren Kosten“, sagt Bauernhansl. Dabei ließen sich über Sensorik erhobene Daten auswerten und individuelle Therapien entwickeln oder ideal angepasste Medikamente herstellen. Zwingende Voraussetzung sei eine lückenlose Verfügbarkeit und der Schutz der Patientendaten. Hier sei der Gesetzgeber gefragt, so Bauernhansl.

Ein Konzept wie B2U ist nach Ansicht des IFF-Leiters eine Chance für Hochlohnländer wie Deutschland, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Zumal die personalisierte Produktion die regionale Fertigung fördert, sodass Zeitvorteile nicht durch lange Lieferwege konterkariert werden. „Das Konzept passt zu unseren Hightech-Fähigkeiten“, ist sich Bauernhansl sicher. Der deutsche Maschinenbau könnte auch dadurch profitieren, dass viele Anlagen aufgerüstet oder neu konzipiert werden müssten. „Viele Unternehmen verstehen schon heute Kraft und Logik des Konzepts“, sagt Bauernhansl. Denn sie können Kosten für die Entwicklung senken und zugleich eine stärkere Kundenbindung erreichen.

Jens Eber

  • Prof. Dr.-Ing. Thomas Bauernhansl, Leiter des Instituts für Industrielle Fertigung und Fabrikbetrieb (IFF), Tel. +49 (711) 970-1101, E-MailWebsite

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