Keine heiße Luft

Forschung Erleben

ICARUS kombiniert Schutz vor Gesundheitsrisiken durch Luftschadstoffe mit Klimaschutz.
[Foto: Universität Stuttgart/ Uli Regenscheit]

Um zwei große Umweltprobleme kreist die öffentliche Debatte immer wieder: Wie ist es zu schaffen, Luftschadstoffe wie beispielsweise Feinstaub deutlich zu verringern? Und wie lassen sich die international vereinbarten Ziele zum Klimaschutz erreichen, damit sich die Erde nicht immer weiter erwärmt? Bislang wurden beide Fragen getrennt betrachtet. Mit einem Gesamtkonzept für die Stadt Stuttgart wollen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Stuttgart dazu beitragen, die Luft sauber und den Ausstoß von Treibhausgasen möglichstgering zu halten.

Wie kann etwas dem Klima nutzen, aber der Stadtluft schaden? Auf den ersten Blick ein Widerspruch, doch Prof. Rainer Friedrich nennt ein einfaches Beispiel: Ersetzt man eine Erdgas- durch eine Holzheizung, ist letztere CO2-neutral, weil Holz ein nachwachsender Rohstoff ist. „Die Gesundheitsschäden, die durch die Schadstoffe entstehen, dieeine Holzheizung ausstößt, sind aber als viel höherzu bewerten, als der Nutzen durch die CO 2 -Einsparung“, erklärt der Leiter der Abteilung Technikfolgen abschätzung und Umwelt am Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung (IER) der Universität Stuttgart.

Bisher habe man Klimaschutz und Luftreinhaltung als getrennte Herausforderungen betrachtet, die in unterschied-lichen Abteilungen innerhalb der Behörden angesiedelt sind. Weil sich die jeweiligen Maßnahmen abergegenseitig beeinflussen, ist dieses Vorgehen nicht sinnvoll. Daher beteiligt sich das IER am Projekt ICARUS (Integrated Climate forcing and Air pollution Reduction in Urban Systems). In dem mit 6,5 Millionen Euro ausgestatteten Forschungsprojektdes EU-Programms „Horizon 2020“ untersuchen Institute aus mehreren Ländern bis zum Jahr 2020 für Stuttgart und acht weitere europäische Städte, wie im Rahmen eines integrierten Luftreinhalte- und Klimaschutzkonzepts die Stadtluft sauber und die Städte klimaneutral werden können.

Datensammeln vom Fahrrad
Datensammeln vom Fahrrad: Um die Feinstaubbelastung an verschiedenen Stellen in der Stadt zu messen, steigen die Wissenschaftler selbst in die Pedale.

Kurzfristige Maßnahmen, langfristige Vision

Die Universität Stuttgart nimmt innerhalb des Projekts eine wichtige Stellung ein. „Wir entwickeln und erproben die Methodik zunächst für Stuttgart, bevor sie in den anderen Städten zum Einsatz kommt“, erklärt Friedrich. Beteiligt sind neben dem IER und der Stadt Stuttgart Prof. Günter Scheffknecht und sein Team vom Institut für Feuerungs-und Kraftwerkstechnik (IFK) sowie der Lehrstuhl für Verkehrsplanung und Verkehrsleittechnik des Instituts für Straßen- und Verkehrswesen (ISV) um Prof. Markus Friedrich. Mit den Verkehrsmodellendes ISV lässt sich beispielsweise berechnen, wie sich eine City-Maut auswirken würde.

Das IFK analysiert die Luftschadstoffe und ordnet sie den jeweiligen Quellen zu, um herauszufinden, was zu welchen Teilen für die hohen Luftschadstoff-Konzentrationen verantwortlich ist. „So wird zum Bei spiel deutlich, dass fast ein Viertel des Feinstaubs in Stuttgart aus Holzheizungen kommt“, sagt Friedrich. „Wir haben zwei Ziele“, erklärt der Physiker. „Zuerst möchten wir kurz- und mittelfristige Maßnahmen identifizieren, die besonders effizient sein könnten.“ Dazu haben die Wissenschaftler Listen mit Vorschlägen erstellt, die sie derzeit diskutieren. Ausgewählte Maßnahmen bewerten sie ganzheitlich hinsichtlich ihrer Vor- und Nachteile, wie etwa sinkender Gesundheitsrisiken, Kosten, Komfort- und Zeitgewinnen oder -verlusten sowie des Klimaschutzes. Aus den effizientesten Maßnahmen entwickeln die jeweiligen Forschergruppen für jededer Modellstädte eine Strategie. „Diese wird den Klimaschutz und die Luftreinhaltung jedoch nur begrenzt verbessern.

Die gewünschten drastischenVerbesserungen erreichen wir damit noch nicht“, so Friedrich. „Also haben wir uns im zweiten Teil die Aufgabe gesetzt, Visionen zu entwickeln, wie die Städte längerfristig aussehen könnten, sodass sie wirklich klimaneutral sind und die Luft kaum noch verschmutzen – und das, ohne dass Wohlbefinden und Wohlfahrt der Bevölkerung darunter leiden.“

Weg von der Straße

Dass ICARUS weit über aktuelle Debatten um Grenzwerte hinausgeht, verdeutlicht Friedrich am Beispiel Stuttgarts: Der überschrittene Grenzwert fürden etwas gröberen Feinstaub PM10 liegt bei maximal 50 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft an nicht mehr als 35 Tagen pro Jahr. Die feineren Feinstäube sind jedoch deutlich schädlicher, hohe chronische Gesundheitsrisiken entstehen weniger durch kurzzeitige Spitzen, als vielmehr durch eine lebenslange Exposition. Zwar ist der Grenzwert für die kleineren Feinstäube eingehalten, dennoch schädigt diederzeitige Luftbelastung die Gesundheit.

„Deshalb geht es zwar auch um die Einhaltung von Grenz­werten, viel wichtiger ist aber die Minimierung der Gesundheitsrisiken durch die Luftschadstoffe.“ Noch präziser soll die ICARUS-Studie dadurchwerden, dass nicht mehr nur die Werte der Messstationen an Hauptstraßen Beachtung finden, sondern auch Orte, an denen sich die Menschen dauerhaft aufhalten. Das gilt vor allem auch für Innenräume: „Wir wollen berechnen, welchen Schadstoffen die Menschen konkret an ihrem Aufenthaltsort ausgesetzt sind. Dadurch können wir auch Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit betrachten, die mit der Außenluft nichts zu tun haben."

Auf der Basis der Ergebnisse soll in zwei Jahren eine Vision für ein grünes Stuttgart im Jahr 2050 entstehen. Die wichtigsten neu zu gestalteten Bereiche werden Verkehr und Heizung sein, die Hauptverursacher heutiger Umweltprobleme in der Stadt. Tendenziell werde man wohl beide auf strombasierte Verfahren umstellen, schätzt der Forscher – die Heizung mit Wärmepumpen in Kombination mit Nah- und Fernwärme sowie Solarthermie. Der Verkehr wird mit selbstfahrenden Fahrzeugen erfolgen, wahrscheinlich mit elektrischen Antrieben, evtl. auch mit Brennstoffzellen, bei denen der benötigte Wasserstoff mit regenerativ erzeugtem Strom hergestellt wird.

Die Visionen entstehen auf dem heutigen Stand der Erkenntnisse und mithilfe von in die Zukunft projizierten Trends, „wohl wissend, dass die Visionen so nicht Realität werden“, sagt Friedrich. „Aber sie sind erforderlich, um eine Richtung vorzugeben, in die sich Energie- und Verkehrssysteme entwickeln müssen. Und sie werden angesichts neuer Erkenntnisse sukzessive angepasst.“ Die Stadt Stuttgart und die anderen Modellstädte haben sich verpflichtet, die Ergebnisse von ICARUS politisch zu diskutieren, „damit das Ziel, Luftreinhaltung und Klimaschutz in Kombination zu verbessern, hoffentlich keine Vision bleibt.“

Daniel Völpel

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