Hinauf zur Sonne, zum Futter: Für viele im Wasser lebende Mikroorganismen ist es lebenswichtig, gezielt nach oben schwimmen zu können. Wie sie aber im oft trüben Nass oben und unten unterscheiden können, ist bei einigen Organismen bis heute nicht verstanden. Zuverlässig funktionieren würde ein verblüffend einfacher physikalischer Trick, bei dem es zum selbstorgabisierten Ausgleich zweier Kräfte kommt. Das hat nun eine internationale Kooperation um Prof. Clemens Bechinger, Leiter des 2. Physikalischen Instituts der Universität Stuttgart und Fellow am Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, gezeigt. Ihre Entdeckung liefert nicht allein eine elegante, mögliche Erklärung natürlichen Verhaltens. Damit ließen sich in Zukunft auch schwimmende Mikroroboterschwärme selbstorganisiert steuern.
Wer klein ist, hat es schwer, zumindest wenn es ums Schwimmen geht. Der Stuttgarter Physiker und
Max-Planck-Fellow Clemens Bechinger erinnert an das sommerliche Bad im Baggersee. „Macht man einen
kräftigen Brustschwimmzug und legt danach die Hände an“, sagt der Professor, „dann gleitet man im
Wasser einige Meter weiter.“ Unser relativ massiger Körper wird vom Wasser nur langsam abgebremst,
wir erleben es als dünnflüssig. Für Mikroorganismen ist Wasser aber zäh wie Honig. Neben einer
daran angepassten Schwimmtechnik müssen viele Mikroschwimmer in ihrer – oft trüben – Umwelt noch
eine zweite Herausforderung bewältigen: Sie müssen sicher den Weg nach Oben finden. Wie ihnen das
gelingt, erforscht Bechinger in einer internationalen Kooperation.
Die richtige Orientierung ist für viele Organismen eine Überlebensfrage. Tiefere Zonen können
wegen Sauerstoffmangels tödlich sein – oder der Weg nach Oben verspricht Nahrung und Licht, um dort
etwa Photosynthese zu betreiben. Anders als Fische mit einer Schwimmblase sind Kleinstschwimmer oft
schwerer als Wasser, drohen also nach unten abzusacken. Dieses „Sedimentieren“ zu vermeiden ist für
viele Bakterien ebenso wichtig wie für größere Einzeller, etwa Mikroalgen oder die aus dem
Biounterricht bekannten Pantoffeltierchen. Der Fachbegriff für dieses Verhalten heißt „negative
Gravitaxis“. Wer dabei an einen Fahrdienst gegen die Schwerkraft denkt, liegt nicht falsch. Wie
aber finden die Schwimmer nach oben? Bechinger erklärt, dass einige Wissenschaftler über Rezeptoren
spekulieren, die den Kleinstschwimmern über die Abnahme des Wasserdrucks den Weg nach Oben weisen.
Allerdings ändert sich der Wasserdruck über die mikroskopische Körperlänge nur minimal. Ob so ein
relativ komplexer Mechanismus tatsächlich existiert, ist daher offen.
Die asymmetrische Birnenform könnte die Ausrichtung nach oben bewirken
Viel einfacher und eleganter sind dagegen rein physikalische Lösungen. Eine solche Lösung
verwenden beispielsweise einzellige Grünalgen der Gattung Chlamydomonas. Diese Organismen sind an
einer Stelle etwas schwerer, so dass dieses Ende immer nach unten zeigt und damit – ähnlich einer
Boje – für eine stabile Lage sorgt. Sitzt nun unten etwa eine Geißel, dann treibt sie den
Organismus automatisch nach oben.
Allerdings gibt es eine Vielzahl von Mikroschwimmern, bei denen ein solcher Bojeneffekt
ausgeschlossen werden kann. Dennoch können sie zuverlässig nach oben schwimmen. Die Physiker der
Kooperation hatten den Verdacht, dass die Körperform dieser Organismen eine entscheidende Rolle
spielt. Pantoffeltierchen zum Beispiel sehen wie langgezogene Birnen aus. Diese asymmetrische
Gestalt, so vermuteten die Forscher, könnte für eine stabile Ausrichtung nach Oben sorgen.
Um das präzise zu untersuchen, entwickelten die Forscher ein Experiment mit L-förmigen
Modellkörpern aus einem Kunststoff, der etwas schwerer als Wasser ist. Gegenüber lebenden
Organismen hat dies den Vorteil, dass die Form und das Gewicht sehr gut kontrolliert werden können.
Das L hat jeweils einen sechs und einen neun Mikrometer (Millionstel Meter) langen Arm. Die
Forscher wählten diese Form, weil sie in zwei Dimensionen – also im Flachen – ein Maximum an
Asymmetrie bietet. Sie stellten ihre Schwimmer mit einem Verfahren her, wie es ähnlich die
Halbleiterindustrie in der Chipproduktion einsetzt.
Schwer- und Reibungskraft wirken an L-förmigen Körpern gegeneinander
Für den Antrieb entwickelten die Stuttgarter eine pfiffig einfache Lösung. Sie beschichteten
die Unterseite des kurzen Arms mit einer Goldschicht, die so hauchdünn ist, dass sie dieses Ende
des Schwimmers nur unwesentlich schwerer macht. So blieb der Bojeneffekt ausgeschlossen. Richteten
die Physiker nun Laserlicht in einer bestimmten Wellenlänge auf die Goldschicht, dann erwärmte sich
dort die Flüssigkeit und erzeugte einen Vortrieb am unteren Ende des L‘s.
Die Experimente zeigten tatsächlich, dass die L-Form für ein stabiles Schwimmen nach oben
sorgt. Das theoretische Modell der Forscher ist zwar komplex, trotzdem lässt sich das Verhalten der
Mikroschwimmer verstehen. Sobald die Forscher den Antrieb einschalten, setzt dessen Kraft von unten
an der Mitte des kurzen L-Arms an. Borge ten Hagen, der als Doktorand zusammen mit seinem Professor
Hartmut Löwen an der Universität Düsseldorf die Computersimulationen durchführte, erklärt: „Das
bewirkt, dass das L sich nun in Richtung des langen Arms dreht.“ Der Grund: Die Schwerkraft will
das L, das von der Antriebskraft wie auf einer Bleistiftspitze balanciert wird, zur schweren Seite
hin umkippen. Dieser Drehung gegen den Uhrzeigersinn wirkt aber mit einsetzender Bewegung eine
zweite Kraft entgegen: die Reibungskraft des von oben anströmenden Wassers. Diese will das L im
Uhrzeigersinn drehen, denn sein kurzer unterer Arm wirkt wie eine senkrecht in der Strömung
stehende Strömungsbremse. „Das wäre wie in einem fahrenden Ruderboot mit Linksdrall“, sagt
Bechinger, „dem ich durch Eintauchen des rechten Ruders entgegen wirke.“
Eine selbstorganisierende Steuerung für Mikroroboter
Passt die Aufstiegsgeschwindigkeit, dann heben sich diese beiden gegensinnigen „Drehmomente“
gerade auf. Der L-Körper schwimmt in der Schwerkraft stabil nach oben. Zudem ist der
Geschwindigkeitsbereich, in dem das funktioniert, relativ groß, fanden die Forscher heraus. „Der
Effekt ist also robust“, sagt Bechinger. Erst oberhalb einer bestimmten kritischen Geschwindigkeit
wird die Bewegung instabil, und die Schwimmer torkeln auf einer schraubenförmigen Bahn nach unten.
Die theoretischen Berechnungen, an denen neben zwei Physikern der Universität Düsseldorf noch einer
von der schottischen University of Edinburgh und ein Strömungsmathematiker aus Honolulu auf Hawaii
beteiligt waren, stimmen exzellent mit den Experimenten überein.
Vor allem ist der Effekt universell, weil er rein physikalisch ist. Er gilt für alle
Mikroschwimmer, deren Körperformen von einer Kugelgestalt abweichen. „Die Asymmetrie sorgt für die
Richtung nach oben“, betont Felix Kümmel, der als Doktorand in Stuttgart an dem Projekt arbeitet: „
Über einen solchen Mechanismus wurde zwar bereits spekuliert, aber erst unsere Experimente zeigen,
dass das tatsächlich auch funktioniert“. Für die Forscher ist dieser selbstorganisierende Effekt
aber auch aus anderen Gründen interessant, da sich damit auch Schwärme von Mikrorobotern in ihrer
Bewegung einfach steuern lassen. Solche Systeme werden derzeit intensiv untersucht. Sie könnten
eines Tages zum Beispiel für den gezielten Transport von Medikamenten im Körper oder die Reinigung
von Gewässern eingesetzt werden.
Kontakt:
Prof. Clemens Bechinger
Universität Stuttgart, 2. Physikalisches Institut, Fachbereich Physik
Pfaffenwaldring 57
70550 Stuttgart
Tel: +49 711 685-65218
www.pi2.uni-stuttgart.de/cms