Amtliche Bekanntmachung Nr. 35/2023. Herausgegeben im Auftrag des Rektorats der Universität Stuttgart

Richtlinie zur Berechnung des wissenschaftlichen Alters für Stipendienvergabe-, Stellenbesetzungs-, Berufungs- und Evaluierungsverfahren

Vom 28. Juli 2023

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Veröffentlicht am: 9. August 2023
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Richtlinie zur Berechnung des wissenschaftlichen Alters für Stipendienvergabe-, Stellenbesetzungs-, Berufungs- und Evaluierungsverfahren

Vom 28. Juli 2023

Diese Richtlinie wurde vom Senat in seiner Sitzung am 21. Juni 2023 beschlossen.

Vorbemerkung

Das wissenschaftliche Alter ist eine Messgröße, die sich abhängig von der jeweiligen Karrierestufe auf unterschiedliche Zeiträume beziehen kann. So kann bspw. bei Stipendienvergabe die Studiendauer relevant sein, von der unvermeidbare Ausfallzeiten in dieser Zeit – oder Nachwirkungen früherer Ereignisse, die das Studium verzögert haben – abgezogen werden müssen. Im Kontext von Professuren sind üblicherweise die Leistungen relevant, die in der Zeit seit der Promotion erbracht wurden und die entsprechend dieser Richtlinie ins Verhältnis zu setzen sind.

Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Alter ist das biologische Alter als Messgröße unzulässig, da das Verhältnis von Leistung und Zeitraum hier unbeachtet bleibt. Es stellt einen Verstoß gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) dar, Personen aufgrund ihres Alters nicht zu berücksichtigen oder nachteilig zu behandeln. Daran ändert auch die beamtenrechtliche Altersgrenze nichts, da bei Überschreiten dieser Grenze nur keine Einstellung im Beamtenverhältnis mehr erfolgen kann. Auch bei Professuren ist aber eine Einstellung im Angestelltenverhältnis grundsätzlich möglich.

(Hinweis zum Sprachgebrauch: In dieser Richtlinie werden weibliche Personenbezeichnungen für alle Personen verwendet, die sich als weiblich identifizieren und männliche Personenbezeichnungen für alle Personen, die sich als männlich identifizieren – im Sinne von Strukturkategorien. Für Personen, die sich in der binären Struktur der Geschlechtszuordnungen nicht wiederfinden, sind die auf männliche Personen bezogenen Regelungsinhalte dieser Richtlinie maßgeblich. Zur Begründung: Sofern diese Richtlinie sprachlich explizit nach Geschlecht unterscheidet, werden auch geschlechtsabhängige Regelungen getroffen, die mit der ungleichen Verteilung von Care-Aufgaben (‚Gender Care Gap‘) begründet sind, die in einem binär geprägten kulturellen System historisch entstanden sind.)

§ 1 Definition: Wissenschaftliches Alter

Das wissenschaftliche Alter setzt die wissenschaftlichen Lehr- und Forschungsleistungen ins Verhältnis zu der Zeit, die hierfür benötigt wurde und zur Verfügung stand. Es bezieht sich auf alle Zeiten, in denen wissenschaftliche Leistungen erbracht wurden. Ziel ist es, unvermeidbare Verzögerungen oder biographische Besonderheiten in Lebensläufen zu Gunsten der sich bewerbenden Personen in Rechnung zu stellen, um die vergleichende Bewertung der Leistungen zu erleichtern.

§ 2 Nachweisbare Ausfallzeiten

Nachgewiesene Ausfallzeiten aufgrund von Mutterschutz, Elternzeit, familienbedingter Reduzierung der Arbeitszeit, Pflegezeit, längerer Krankheit, Pflicht- und/oder Freiwilligendienst o. ä. werden grundsätzlich in voller Höhe und ohne Deckelung in dem Umfang in Abzug gebracht, in dem nicht gearbeitet wurde.

(Diese Regelung orientiert sich an den gesetzlichen Regelungen zur Berücksichtigung von Mutterschutz- und Elternzeiten (§ 51 Abs. 3 LHG BW in Verbindung mit § 2 Abs. 5 Nr. 3 WissZeitVG), von Pflegezeiten und familienbedingter Reduktion der Arbeitszeit (§ 51 Abs. 3 LHG BW in Verbindung mit § 2 Abs. 5 Nr. 1 WissZeitVG) sowie von Verlängerungsoptionen des WissZeitVG aufgrund von Grundwehr- und Zivildienstzeiten (§ 2 Abs. 5 Nr. 4 WissZeitVG) sowie krankheitsbedingter Ausfallzeiten (§ 2 Abs. 5 Nr. 6 WissZeitVG).)

§ 3 Nachweisbare Verzögerungen

Nachgewiesene Verzögerungen aufgrund einer anerkannten Behinderung oder chronischen Erkrankung sind wegen der hohen Heterogenität hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die wissenschaftliche Leistungsfähigkeit auf Basis einer Selbsteinschätzung der sich bewerbenden Personen individuell in angemessenem Umfang – im Benehmen mit Schwerbehindertenvertretung, der beauftragten Person für Inklusion und/oder Personalrat – positiv zu berücksichtigen.

§ 4 Anerkennung familiärer Care-Aufgaben

Als Familie versteht die Universität Stuttgart alle Lebensgemeinschaften, in denen langfristig soziale Verantwortung übernommen wird. Dies umfasst Eltern und Kinder, Lebenspartnerschaften, Geschwister, Großeltern und Enkel sowie pflegebedürftige Angehörige.

Personen, die familiäre Care-Aufgaben übernehmen und deren freie Zeitverfügbarkeit dadurch gemindert ist, erhalten daher bei der Berechnung des wissenschaftlichen Alters einen Nachteilsausgleich zusätzlich zu nachgewiesenen Ausfallzeiten oder Verzögerungen, um der familiären Zusatzaufgabe (second shift) angemessen Rechnung zu tragen, der wie folgt geregelt ist:

  1. Kinderbetreuungs- und/oder Pflegezeiten werden bei Wissenschaftlerinnen entsprechend der freiwillig erfolgten Angaben ohne Nachweis pauschal mit bis zu zwei Jahren pro Kind oder Pflegefall und bei Wissenschaftlern mit bis zu einem Jahr in Abzug gebracht.
  2. Mit entsprechendem Nachweis (siehe § 6) ist auch für Wissenschaftler eine Berücksichtigung von bis zu zwei Jahren pro Kind oder Pflegefall möglich.
  3. Alleinerziehende sind mit entsprechendem Nachweis besonders zu berücksichtigen, indem in diesen Fällen pauschal bis zu drei Jahre pro Kind in Abzug gebracht werden.
  4. Für die in Nr. 1 und 3 genannten pauschal anzuerkennenden Zeiten gilt eine Deckelung von sechs Jahren für Wissenschaftlerinnen und Alleinerziehende bzw. drei Jahren für Wissenschaftler als neben nachweisbaren Zeiten zusätzlich anzuerkennenden Zeiten. Einzelfallregelungen, die darüber hinausgehen, sind nach § 7 möglich.

Ausschlaggebend für die individuelle Berechnung ist das Geburtsdatum des jeweiligen Kindes oder das Eintreten der Pflegebedürftigkeit, d.h. die anrechenbare Zeit kann das Alter des Kindes bzw. die tatsächliche Pflegedauer nicht übersteigen.

§ 5 Weitere Anerkennung von Verzögerungen

Über die bereits genannten individuellen Komponenten hinaus sind weitere zeitliche Verzögerungen für die wissenschaftliche Biographie denkbar, bspw. im Zusammenhang mit Flucht und Migration (Asylverfahren, Integrationsphasen o. ä.). Wegen der hohen Heterogenität hinsichtlich möglicher Verzögerungstatbestände und deren Auswirkungen auf die wissenschaftliche Produktivität sind diese Zusammenhänge individuell in angemessenem Umfang positiv zu berücksichtigen.

§ 6 Nachweismöglichkeiten

Mutterschutz, Beschäftigungsverbot und/oder längere Krankheit
Zum Nachweis von Ausfallzeiten wie in § 3, § 13 Abs. 3 oder § 16 Mutterschutzgesetz (MuSchG) definiert und/oder längeren Krankheitsphasen dienen üblicherweise die entsprechenden Schreiben der Krankenkasse, der Arbeitsstelle und/oder ärztliche Atteste, die auf Nachfrage vorzulegen sind.

(§ 3 MuSchG: Schutzfristen vor und nach der Entbindung (‚Mutterschutzzeiten‘), § 13 Abs. 3 MuSchG: Betriebliches Beschäftigungsverbot, § 16 MuSchG: Ärztliches Beschäftigungsverbot.)

Behinderung
Zum Nachweis von Verzögerungen aufgrund von Behinderung dienen üblicherweise die entsprechenden Schreiben über den Grad der Behinderung (GdB).

Chronische Erkrankung
Zum Nachweis von Verzögerungen aufgrund chronischer Erkrankung dienen üblicherweise ärztliche Atteste, die auf Nachfrage vorzulegen sind.

Elternzeit und/oder familienbedingte Reduzierung der Arbeitszeit
Zum Nachweis von Ausfallzeiten aufgrund von Elternzeit(en) und/oder familienbedingter Reduktion der Arbeitszeit dienen üblicherweise die entsprechenden Schreiben der Arbeitsstelle zum jeweiligen Zeitraum. Sofern der Grund der Arbeitszeitreduktion nicht aus dem/den jeweiligen Dokument(en) hervorgeht, kann dies durch eine persönliche eidesstattliche Erklärung ergänzt werden.

Kinder
Kinder sind entsprechend der Definition des Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetzes (BEEG) in § 15 Abs. 1 in Verbindung mit § 1 Abs. 3 und 4 definiert und damit nicht auf leibliche Kinder begrenzt. Zwingende Voraussetzung ist, dass das Kind/die Kinder mit der Person in einem gemeinsamen Haushalt leben und von dieser selbst betreut und erzogen werden. Dies beinhaltet Haushalte, in denen bei geteiltem Sorgerecht ein paritätisches Wechsel- oder Nestmodell gelebt wird. Im Fall des Wechselmodells ist der gemeldete Hauptwohnsitz des Kindes/der Kinder für die hier getroffenen Regelungen nicht relevant.

Die Altersgrenze liegt entsprechend § 1 Abs. 1 Nr. 1 des Jugendschutzgesetzes (JuSchG) bei der Vollendung des 14. Lebensjahres. 

Anzugeben sind die Zahl und die Geburtsdaten des Kindes/der Kinder und ggf. das davon abweichende Datum des Beginns der Betreuung durch die sich bewerbende Person.

Zum Nachweis von Care-Zeiten in Bezug auf Kinder dient üblicherweise eine persönliche, eidesstattliche Erklärung beider erziehungsberechtigter Personen über die – mindestens gleichberechtigte – Aufteilung der familiären Care-Aufgaben.

Alleinerziehende
Als alleinerziehend gilt nach § 21 Abs. 3 Sozialgesetzbuch, Zweites Buch (SGB II), wer mit einem oder mehreren minderjährigen Kind(ern) zusammenlebt und allein (d.h. hauptsächlich) für deren Pflege und Erziehung sorgt. Als Nachweis dient eine persönliche, eidesstattliche Erklärung.

Pflege
Zum Nachweis von Care-Zeiten dient eine persönliche, eidesstattliche Erklärung unter Angabe der Zeiträume und jeweiligen Wochenstunden, dass Pflege für (eine) nahestehende Person(en) übernommen wird bzw. wurde und der zu pflegenden Person ein Pflegegrad zugesprochen wurde. Ein gemeinsamer Haushalt wird nicht als zwingende Voraussetzung betrachtet.

Flucht und Migration
Bei Verzögerungen aufgrund von Asylverfahren, Integrationsphasen o. ä. dient eine persönliche, eidesstattliche Erklärung als Nachweis.

§ 7 Besondere Regelungen (salvatorische Klausel)

Abweichungen von den o.g. Regelungen sind im Sinne einer großzügigen Auslegung in begründeten Einzelfällen möglich und individuell zu prüfen.

Sofern die in § 6 aufgeführten, üblichen Nachweise nicht erbracht werden können, sind andere Nachweise zulässig, sofern sie zweckdienlich und aussagekräftig sind.

Es ist darauf zu achten, dass niemand wegen seiner Geschlechtsidentität benachteiligt wird.

§ 8 Datenerhebung

In allen Stipendienvergabe-, Stellenbesetzungs-, Berufungs- und Evaluierungsverfahren ist den sich bewerbenden Personen aktiv die Möglichkeit einzuräumen, die in dieser Richtlinie genannten Zeiten als ergänzende Angaben zum Werdegang freiwillig anzugeben und ggf. eine Selbsteinschätzung zum wissenschaftlichen Alter vorzunehmen. Sie sind ferner aktiv darauf hinzuweisen, dass entsprechende Angaben ausschließlich zu ihren Gunsten (‚individuelle Komponente‘) berücksichtigt werden (können). Außerdem sind die sich bewerbenden Personen aufzufordern, bei persönlichen Angaben keine bzw. so wenig Daten wie möglich von Dritten anzugeben.

(Zur Orientierung kann exemplarisch auf die Templates der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) zum Lebenslauf hingewiesen werden, abgerufen am 06.03.2023.)

Stuttgart, den 28. Juli 2023

Univ.-Prof. Dr.-Ing. Wolfram Ressel
Rektor



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