Sichtbares Licht wird in einen mäanderförmigen Wellenleiter gekoppelt.

Virusdetektor, Salzwasserdichte und Quantum Humanities: Mutige Forschung beim zweiten Strategiedialog

Mehr als 50 Forschende, Nachwuchswissenschaftler*innen sowie Universitätsleitung und Rektoratsmitglieder haben online am zweiten Strategiedialog der Universität Stuttgart teilgenommen. Sie diskutierten gemeinsam zum Thema „Bold research“.
[Foto: Universität Stuttgart INT]

„Für die Universität Stuttgart bedeutet ‚Bold research‘, den Mut zum Risiko zu haben, unkonventionelle Ansätze zu verfolgen und gewagte Experimente durchzuführen – in einer Universitätskultur, die interdisziplinär und offen für neue, kreative Ideen sein will“, sagt Rektor Wolfram Ressel.

„Um den großen Herausforderungen unserer Zeit vom Klimawandel bis zur sozialen Ungleichheit zu begegnen, müssen wir mehr tun, um die Grenzen zwischen den Fachbereichen und Disziplinen zu überwinden.“ Auch Wissenschaftsministerin Theresia Bauer ist zu Gast beim Strategiedialog. „Für mich ist mutige Forschung mehr als ein Name. Es ist mehr als eine Idee, der unsere Universitäten und Forschungsinstitute folgen. Für mich ist mutige Forschung seit zehn Jahren ein bestimmendes Ziel und Leitbild der Wissenschaftspolitik“, sagt sie. Viele Projekte hätten damit begonnen, dass jemand mit einer guten Idee nach den Sternen gegriffen habe. Als Beispiel dafür nennt die Ministerin die ARENA 2036, das Cyber Valley oder den InnovationsCampus Mobilität der Zukunft der Universität Stuttgart.

Der zweite Strategiedialog bietet Forschenden die Möglichkeit, sich virtuell zu treffen und auszutauschen. „Es geht darum, gemeinsam als Team auf eine Reise zu gehen. Kommunikation und Gespräche sind wichtig, um sich gegenseitig zu unterstützen und mutige Ideen zu entwickeln“, sagt Felix Rundel, Co-Gründer der Agentur futurehain, der als Moderator durch die Veranstaltung führt. In kleinen Gruppen stellen junge Wissenschaftler*innen ihre Ideen vor und diskutieren diese anschließend mit erfahreneren Professor*innen.

Portrait of Niklas Hoppe
Niklas Hoppe, Institute of Electrical and Optical Communications Engineering
Photonikchip
Photonikchip mit den Abmessungen 1 cm x 1 cm

Virusdetektor auf einem Siliziumchip

Eine der Ideen stammt von Niklas Hoppe, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Elektrische und Optische Nachrichtentechnik. Er möchte ein Gerät entwickeln, das Virenpartikel in der Raumluft erkennen kann. Es könnte in einer Klimaanlage enthalten sein und beispielsweise in Krankenhäusern oder Supermärkten die Menschen warnen, wenn sich eine bestimmte Menge gefährlicher Partikel in der Luft befinden. Als Hoppe die Idee vor einigen Wochen kam, dachte er zuerst, ein solches System sei nicht umzusetzen. Doch dann las er einen Artikel über ein Atemdetektorsystem, das in Polen entwickelt wurde: eine Art Alkoholtest für Coronaviren. „Die Forschenden in Polen arbeiten mit Streuspektroskopie, aber das genaue Verfahren ist geheim“, erzählt der Wissenschaftler.

Davon lies Hoppe sich nicht entmutigen und recherchierte weiter, bis er auf einen Nature-Artikel stieß, in dem erklärt wird, wie Forschende die Raman-Spektroskopie nutzen, um Speichel zu analysieren. Normalerweise werden solche Tests mit großen Geräten durchgeführt. Hoppe und sein Team wollen das System kompakt auf einem Siliziumchip unterbringen. „Auch unser System basiert auf der Raman-Spektroskopie. Bei der Methode regt man mit Licht Molekülschwingungsmoden an. Wir installieren auf dem Chip einen kleinen Wellenleiter, durch den das Licht hindurchgeht und die Moleküle darüber anregt. Dabei setzen wir zwei verschiedene Lichtwellenlängen ein. Das Licht wechselwirkt mit den Molekülen“, erklärt Hoppe.

Durch die Wechselwirkung verändert sich die Lichtfarbe oder das Licht wird heller und dunkler. Das kann der Forscher dann messen und detektieren. In dem Nature-Artikel steht, dass es eine Charakteristik gibt, die durch das Coronavirus ausgelöst wird. Wenn der Chip diese Charakteristik erkennt, könne man daraus schließen, ob das Virus in der Raumluft enthalten ist. Hoppe und sein Team arbeiten daran, die Raman-Spektroskopie auf dem Chip umzusetzen. Um seine Idee mit den Raumfiltern weiterzuentwickeln, müsste er mit verschiedenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus vielen Disziplinen zusammenarbeiten. „Viren und schädliche Substanzen haben wir nicht verwendet, um sie zu analysieren“, sagt er. „Wir müssten mit Virologen zusammenarbeiten, um das im nächsten Schritt auszuprobieren.“ Der Nachwuchswissenschaftler schätzt die Umsetzungsdauer eines solchen Projekts auf zwei bis drei Jahre. Aber auch wenn das Ziel nicht schnell erreicht werden könne, sei jeder Schritt ein bedeutender Schritt nach vorne, meint er.

Carina Bringedal
Carina Bringedal, Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung

Instabilität von Böden durch Salzwasser

Wie hilft Mathematik ökologische Probleme zu lösen? Die Antwort darauf hat Carina Bringedal, Juniorprofessorin am Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung. Sie forscht zum Salzgehalt in Wasser. In mediterranen Ländern wie Tunesien verdunstet Wasser aus den oberen Bodenschichten schnell, wenn die Sonne darauf scheint. Das im Wasser enthaltene Salz bleibt dabei im Boden zurück und die Salzkonzentration im Restwasser des Bodens erhöht sich. Dadurch wird der Boden für Pflanzen unfruchtbar und nicht mehr für die Landwirtschaft nutzbar. Bringedal untersucht mathematisch die Dichte des Wassers, da diese von der Salzkonzentration abhängt. „Wenn das Wasser viel Salz enthält, dann ist die Dichte höher“, sagt die Wissenschaftlerin. „Im Boden entsteht oben eine dichtere Flüssigkeit als unten. So entsteht ein System, das unter dem Einfluss der Schwerkraft instabil wird.“

Durch das instabile System kann eine Abwärtsströmung ausgelöst werden, die die höhere Salzkonzentration abtransportiert. Bringedal sucht nach Kriterien, wann die Instabilitäten auftreten. „Sie hängen von der Permeabilität des Bodens ab“, sagt sie. „Wie einfach ist es für das Wasser zu strömen? Und wie stark ist die Verdunstung? Ich habe festgestellt, dass viele Parameter wichtig sind, um vorherzusagen, ob Instabilitäten auftreten.“

Bringedals Forschungsidee weckt großes Interesse bei den anderen Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Strategiedialogs. Prof. Rainer Helmig vom Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung ergänzt, dass der Salzgehalt im Wasser nicht nur ein Problem für Böden sein kann, sondern auch für Gebäude. In mediterranen Städten habe das Salz in Betonmauern von Gebäuden einen Einfluss auf deren Lebenszeit. Große Änderungen in der Salzkonzentration führen auch hier zu großen Unterschieden in der Dichte des Wassers, wodurch Instabilitäten entstehen. Er ergänzt, dass Forschende bei einem Projekt in Israel versuchen, die Wasserverdunstung mit einer Membran zu kontrollieren. Auch Bringedal möchte herausfinden, wie sie Instabilitäten verhindern kann. „Es war sehr hilfreich Feedback von anderen Professorinnen und Professoren zu bekommen“, sagt sie. „Sie haben viele Verbindungen zu anderen Forschenden und wissen, wen man kontaktieren sollte, um mehr zu lernen.“

Von Digital Humanities zur Quantum Humanities

Durch das Aufkommen erster, allgemein verfügbarer Quantencomputer (QC), stellen sich Forschende die Frage, wie sie das Potenzial dieser neuen Technologie nutzen können, um bestehende oder ganz neue Fragen aus den Digital Humanities zu beantworten. Johanna Barzen vom Institut für Architektur von Anwendungssystemen beschäftigt sich damit, welche quanten-basierten Algorithmen bereits heute eingesetzt werden können, um Quantencomputer zur Unterstützung der Analyse von Filmkostümdaten einzusetzen. Barzen möchte herausfinden, wie Kostüme in Filmen zur Kommunikation eingesetzt werden. Wie kann beispielsweise über ein Filmkostüm eine Charaktereigenschaft, die Stimmung einer Rolle, ihre Transformation oder Informationen über Ort- und Zeitgegebenheiten kommuniziert werden? Auf welche „bewährte Lösungen“ greifen Kostümbildner zurück, damit Rezipienten schnell einen Cowboy von einem Banditen unterscheiden können?

Johanna Barzen
Johanna Barzen hatte die seltene Gelegenheit einen Quantencomputer (IBM, 53 Qubits) „von Innen“, also ohne das komplette Kühlsystem herum, zu sehen.

Barzen schätzt den Bereich des Maschinellen Lernens (ML) als besonders zielführend ein. „Wir nutzen quantenbasierte ML-Algorithmen, wie Feature Engineering, Clustering oder Klassifikation, um die Kostümdaten aus Filmen zu analysieren. Besonders für die Zuordnung von Kostümen zu schon gefundenen Clustern sind die Ergebnisse der quantenbasierten Lösung im Vergleich zu einer klassisch implementierten Lösung deutlich präziser“, sagt sie.

Das Arbeiten mit Quantencomputern ist aktuell noch stark experimentell und für Nutzende ohne mathematisches und physikalisches Fachwissen oft nicht intuitiv erschließbar. Um die praktischen Vorteile, wie beispielsweise die Präzision in der Klassifizierung, dennoch nutzen zu können, möchte Barzen Anwendungswissen für eine Community aufbauen. „Wir wollen mit unserer Arbeit Einstiegshürden abbauen, um auch geisteswissenschaftliche Forschung an den Potenzialen des Quantencomputers teilhaben zu lassen. Dafür stellen wir erstes Anwendungswissen und wiederverwendbare Implementierungsbausteine zur Verfügung“, erklärt die Nachwuchswissenschaftlerin.

Strategiedialog fördert Interdisziplinarität

Die Universität Stuttgart unterstützt Wissenschaftler*innen die Herausforderungen der Zukunft gemeinsam zu meistern - in interdisziplinären Kooperationen, befeuert durch persönliche und fachliche Netzwerke und im Geiste des „Stuttgarter Wegs“. 2020 lag der Fokus des Strategiedialogs auf Nachhaltigkeit. Ein Ergebnis daraus ist das Green Office, das derzeit eröffnet wird. Der zweite Strategiedialog ermutigt die Forschenden, Risiken einzugehen und unkonventionellen Ansätzen zu folgen. „Nur diejenigen, die es wagen im Großen zu scheitern, können jemals etwas Großes erreichen“, zitiert Rektor Ressel Robert F. Kennedy und setzt sich dafür ein, eine Kultur zu schaffen, in der Wissenschaftler*innen entspannter mit Rückschlägen umgehen können. Die Strategiedialoge werden als Reihe fortgeführt. Sie knüpfen an die positiven Erfahrungen in den uniweiten SWOT-Workshops vor dem Antrag auf Exzellenzuniversität an und sind eine der Maßnahmen der DFG-„Universitätspauschale“.

Sreenshot der Onlineveranstaltung
Der zweite Strategiedialog fand als Onlineveranstaltung statt. Mit Diskussionen in Kleingruppen, Liveauftritten des Uniorchesters und gemeinsamer Arbeit an einem Konzeptboard war das Programm interaktiv gestaltet.
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