Symbolbild. Das Bild zeigt die leere Bankreihe eines Hörsaals. Die Studierenden sind zuhause, da das Studium digital stattfindet.

Studierende in besonderen Lebenslagen und die digitale Lehre

14.04.2021

Wie erleben Studierende, die bereits vor Corona vor besonderen Herausforderungen im Studium standen, die digitale Lehre? Hat sie ihnen das Studium erschwert oder bringt sie vielleicht auch Vorteile? In diesem Artikel erzählen zwei Studierende von ihren persönlichen Erfahrungen.

Die digitale Lehre ermöglicht es neue Wege zu gehen, gleichzeitig verlangt sie Studierenden einiges ab. Umso wichtiger ist es, alle mitzunehmen. Auch Studierende, die das Studium bereits vor Corona vor besondere Herausforderungen gestellt hat, wie Studierende, die mit finanziellen Sorgen zu kämpfen haben, die neben dem Studium ein Kind versorgen oder die eine psychische oder körperliche Beeinträchtigung haben. Seit Anfang des vergangenen Jahres werden Studierende in besonderen Lebenslagen häufig vor zusätzliche Hürden gestellt. Wie sie die digitale Lehre erleben und ob sie auch Vorteile bringt, davon erzählen uns Jessica Urban und Nicolas Hirth, die an der Universität Stuttgart Verkehrsingenieurswesen studieren.

Wenn Jessica Urban in Präsenzveranstaltungen saß, benötigte sie Unterstützung durch eine Höranlage. Der jeweilige Dozent oder die jeweilige Dozentin trug die Höranlage um den Hals, sodass das Gesprochene direkt in ihr Hörgerät übertragen werden konnte. Trotz der Unterstützung der Höranlage war es ihr kaum möglich, parallel zum Zuhören eigene Stichpunkte zu notieren.

Auch Beiträgen von Kommiliton*innen zu folgen oder sich auszutauschen war nicht möglich, zu sehr musste sie sich auf das Gesagte der Dozent*innen fokussieren. Jedes Mal galt es abzuwägen: zuhören und dafür keine eigenen ausführlichen Mitschriften haben oder etwas notieren, während man den Dozent*innen für einen kurzen Moment nicht folgen kann. Glücklicherweise halfen ihr Kommiliton*innen nach den Veranstaltungen mit ihren Mitschrieben aus.

Das Bild zeigt eine FM-Anlage.
In Präsenzveranstaltungen FM-Anlagen hörbehinderten Studierenden helfen, dem gesprochenen Wort besser zu folgen. Die Universität hat fünf mobile FM-Anlagen zum Verleihen angeschafft hat, die bei Sigrid Eicken angefragt werden können.

Alte Probleme in neuem Gewand

Online-Aufzeichnungen ermöglichen ihr heute, eigene Mitschriften zu verfassen. Das ist jedoch nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich und mit erheblichem Aufwand verbunden: „Erst mit Corona und damit der Online-Lehre ist es für mich möglich geworden, eigene Mitschriften anzulegen. Dies setzt allerdings Vorlesungsaufzeichnungen voraus, die ich pausieren kann. Dies ist neben der flexiblen Zeiteinteilung leider der einzige Vorteil für mich, den die Online-Lehre mit sich bringt. Und dennoch habe ich keine Garantie, dass ich das Gesprochene immer richtig aufgefasst habe, da mir das zur Unterstützung notwendige Mundbild fehlt. Ich habe bereits zum Teil bei der Vorbereitung auf die Prüfungen nach dem Austausch mit einem Kommilitonen festgestellt, dass ich manche Inhalte falsch aufgefasst und gelernt hatte.

Durch die Erschwernis, bedingt durch das fehlende Mundbild, ist es für mich schon zur Normalität geworden, dass ich manche Stellen in der Vorlesungsaufzeichnung erneut abspielen muss, um dann das Gesprochene überhaupt akustisch erfassen zu können. Dies hat zur Folge, dass ich einen wesentlich höheren Zeitaufwand habe. Ein sofortiger Austausch mit Kommilitonen und Kommilitoninnen ist bei Verständnisproblemen meinerseits nicht möglich, da es sich jeder selber einteilen kann, wann er sich die Vorlesungsaufzeichnungen ansieht. Daher muss ich mir zusätzlich Notizen anlegen, an welchen Stellen es Verständnisprobleme für mich gab, um diese zu einem späteren Zeitpunkt zu klären. Auch dies bedeutet für mich einen zusätzlichen Aufwand. In Online-Live-Meetings ist es für mich wie in den Präsenzveranstaltungen nicht möglich, parallel eigene Mitschriften zu führen. Insgesamt erfordert die Online-Lehre sehr viel von meiner Konzentration, die schon ohnehin bei Präsenzveranstaltungen stark beansprucht wird.“

Zudem erschwert es Jessica Urban, wenn Dozent*innen einen starken Akzent oder Dialekt haben oder sie ihnen aus anderen Gründen akustisch nur schwer folgen kann. Zum Beispiel, wenn Dozent*innen Wörter verschlucken, ein zügiges Sprechtempo haben oder störende Hintergrundgeräusche zu hören sind. „Ich setze mich in solchen Fällen mit den zuständigen Dozenten oder Dozentinnen in Verbindung, um die Problematik zu umgehen. Die Suche nach einer möglichst optimalen Lösung für alle Probleme gestaltet sich dennoch als schwierig. Trotz dieser Herausforderung erfahre ich eine tolle Unterstützung und Aufmerksamkeit seitens der Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Universität, die ihr Bestes geben und sich stets um eine Lösung bemühen. In Online-Live-Meetings wird Rücksicht darauf genommen, dass das Mundbild zu sehen ist oder ich werde direkt gefragt, ob ich der Vorlesung folgen kann.“

Von Vorteil wäre es für sie, wenn Dozent*innen auf eine möglichst klare und deutliche Aussprache sowie eine gute Tonqualität achten würden. Dies betrifft insbesondere die Vorlesungsaufzeichnungen, da im Nachhinein keine Änderungen vorgenommen werden können. In Online-Live-Meetings hat sie die Gelegenheit, auf mögliche Problematiken hinzuweisen. Grundsätzlich sollte vermieden werden, dass die Stimme in den Hintergrund rückt beziehungsweise stellenweise leiser wird. Weiter könnte es hilfreich sein, dass zusätzlich ein kleines Fenster mit der Aufzeichnung des Mundbildes oder des Gesichtes des Sprechenden während der Präsentation eingeblendet würde. Dies würde die Situation für sie einfacher machen, regt Jessica Urban an.

Individuelle Herausforderungen erkennen

Herrscht Klärungsbedarf wird Jessica Urban gelegentlich von Sigrid Eicken, der Beauftragten für Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen, unterstützt.

Gemeinsam mit dem Service Uni & Familie, dem Dezernat Internationales und dem AK Bildung und soziale Ungleichheit hat Sigrid Eicken im Sommersemesters 2020 Erfahrungen von Studiereden zusammengetragen und daraus die Handreichung für die (Online-)Lehre 2.0 WS 2020/21 erstellt. Die Handreichung soll Lehrende für Herausforderungen sensibilisieren, denen Studierende in besonderen Lebenslagen gegenüberstehen.

Die Handreichung geht unter anderem auf Barrierefreiheit in der digitalen Lehre ein. Berücksichtigt werden aber auch Herausforderungen, vor denen sich chronisch kranke Studierende, Studierende mit Kindern oder pflegebedürftigen Angehörigen sowie internationale Studierende sowie sozial, finanziell und bildungsbenachteiligte Studierende sich aktuelle wiederfinden.

Eingeschränkte soziale Kontakte, das Wegbrechen von Einnahmequellen, zusätzlicher Betreuungsaufwand sowie digitale Barrieren sind nur ein kleiner Ausschnitt dessen, womit Studierende aktuell zu kämpfen haben. Schnell entstehen daraus existenzielle Probleme oder persönliche Hürden, die das erfolgreiche Absolvieren von Studien-und Prüfungsleistungen gefährden.

Sigrid Eicken, der Beauftragten für Studierende mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen an der Universität Stuttgart.
Sigrid Eicken sammelt weiterhin Erfahrungsberichte und Anregungen zur Verbesserung des digitalen Lehrangebots für Studierende in besonderen Lebenslagen.

Trotz Vorteilen – Stundentisches Leben unersetzbar

Die digitale Lehre kann aber auch Vorteile mit sich bringen. Für Nicolas Hirth gestaltete sich die Teilnahme an der Präsenzlehre zu Beginn seines Studiums umständlich. Die digitale Lehre kommt ihm entgegen: „Oft saß ich in den ersten Semestern in Vorlesungen und hatte eine Ausstattung dabei, die mir aufgrund meiner Sehschwäche ermöglicht hat, das, was an die Wand geworfen wurde, mit Hilfe einer Kamera abzufilmen und auf meinem Laptop, der vor mir stand, abzuspielen. Das brachte einige Probleme mit sich. Auf den schmalen Tischen im Vorlesungssaal war oft zu wenig Platz für den Laptop und die Kamera. Die Sichtverhältnisse waren häufig nicht optimal. Damit die Kamera das Projizierte optimal abfilmen konnte, war es notwendig in einem bestimmen Winkel zum Gezeigten zu sitzen. Weiter war die Beleuchtung ein Problem. Auch ein großes Problem waren fehlende Steckdosen. Sodass der Akku meines Laptops nicht für die gesamte Dauer der Vorlesung reichte. Später bin ich dazu übergegangen, nur noch zuzuhören und mir die Vorlesungen und die Prüfungen im Nachgang oder erst vor den Prüfungen anzusehen.

Der Vorteil der Online-Lehre ist, dass ich dem, was die Dozenten und Dozentinnen sagen und präsentieren – seien es PowerPoint Präsentationen oder PDFs – jetzt zuhause an meinem Arbeitsplatz, der für mich und meine Bedürfnisse eingerichtet ist, deutlich einfacher und angenehmer folgen kann als umständlich im Hörsaal. Mir hätte es geholfen, hätte es die Online-Lehre auch schon in meinen ersten Studiensemestern gegeben. Also, hätten die Dozenten und Dozentinnen parallel zur Präsenzlehre auch immer aufgenommen.“

Ein hybrides Angebot aus Online-und Präsenzlehre wäre laut Sigrid Eicken auch nach Corona wünschenswert: „Ich bin begeistert von der großen Bereitschaft der Lehrenden, Institutsmitarbeitenden, den Kolleginnen und Kollegen im TIK und der Studierendenverwaltung und der Studierendenschaft, für behinderte und chronisch kranke Studierende technische und organisatorische Lösungen zu suchen und umzusetzen! Die technischen Möglichkeiten, die in der Corona-Zeit verstärkt zum Einsatz kamen, auch danach für diese Zielgruppen weiter zu nutzen, wäre ein großer Fortschritt auf dem Weg zur Inklusion an unserer Universität.“

Der Vorteil der Online-Lehre ist, dass ich dem, was die Dozenten und Dozentinnen sagen und präsentieren – seien es PowerPoint Präsentationen oder PDFs – jetzt zuhause an meinem Arbeitsplatz, der für mich und meine Bedürfnisse eingerichtet ist, deutlich einfacher und angenehmer folgen kann als umständlich im Hörsaal.

Nicolas Hirth

Nicolas Hirth hat im Hinblick auf Barrierefreiheit in der digitalen Lehre keine Optimierungswünsche: „Bei mir hat bislang alles gut geklappt und ich kam gut zurecht. Ich kann damit sehr gut arbeiten und finde es wurde gut gelöst. Ich hatte in diesem Semester auch Veranstaltungen über Webex mit Anwesenheitspflicht und eine mündliche Prüfung und das hat alles gut geklappt. Am Anfang war es etwas kompliziert, bis ich mir Webex eingerichtet hatte, aber dann funktionierte es ganz gut.“

Die digitale Lehre und den neuen Studienalltag kann aber auch er nicht nur positiv bewerten. Vor allem den Austausch mit Kommiliton*innen vermisst er: „Den ersten Lockdown habe ich zuhause bei meinen Eltern verbracht und bin zunächst nicht in meiner WG in Stuttgart gewesen und habe von dort aus das Studium verfolgt. Bei den Vorlesungen, die ich besucht habe, haben die Dozenten und Dozentinnen in der Regel Videos Ihrer Vorlesungen, die sie selbst aufgenommen auf Ilias hochgeladen. Eine meiner Prüfungen wurde auf Mai verschoben. Nach dem Lockdown bin ich wieder nach Stuttgart und habe wieder von meiner WG aus dem Studium beigewohnt.

Dass man nicht mehr an den Campus konnte, fand ich zu Beginn nicht tragisch. Später habe ich gemerkt, dass die sozialen Kontakte doch fehlen. Es ist eben doch für mich und auch für andere ein wichtiger Teil des studentischen Lebens, dass man Freunde und Freundinnen sowie Kommilitonen und Kommilitoninnen auf dem Campus treffen kann. Der Austausch über Whatsapp kann das nicht ersetzen.

Zudem war es für mich schwieriger mich zu movieren. Alleine ein Video anzusehen, ist eben doch eine andere Situation als mit anderen Studierenden im Vorlesungssaal zu sitzen.“

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