Frau steht im Labor, im Hintergrund stehen Schaufensterpuppen

Passende Mode für alle

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart (September 2021)

Größer, kleiner, dicker, dünner: Die Standard-Konfektions­größen sind längst nicht für jede und jeden etwas. Forschende der Universität Stuttgart entwickeln Technologien für eine individuelle Fertigung, mit der Textilunternehmen dennoch rentabel produzieren können.
[Foto: DITF]

Zwischen den smarten Textilmaschinen und Computerarbeitsplätzen wirkt die Umkleidekabine fast wie ein Museumsstück. Gleich hinter dem Eingang zum Textil 4.0-Multifunktionslabor der Deutschen Institute für Textil- und Faserforschung (DITF) in Denkendorf bei Stuttgart trifft der Blick auf die dichten, khakifarbenen Vorhänge. Zwischen ihnen steht eine stämmige Frauenfigur aus Plastik, die gut einen Kopf größer ist als handelsübliche Schaufensterpuppen. Wäre sie ein Mensch, täte sie sich schwer damit, gut sitzende Kleidung zu finden. Ein häufiges Problem, sagt Prof. Meike Tilebein: „Etwa 30 Prozent der Bevölkerung passen nicht gut in die Standard-Konfektionsgrößen.“ 

VR-Brille
Virtuelle Anprobe: Mit der VR-Brille kann man sich ansehen, wie gut bestimmte Modelle einem Avatar stehen.

Die Expertin für strategisches Innovationsmanagement leitet das Institut für Diversity Studies in den Ingenieurwissenschaften (IDS) der Universität Stuttgart sowie das Zentrum für Management Research an den DITF – und ist fasziniert von den Möglichkeiten, die digital vernetzte Entwicklungs- und Produktionsprozesse für die Textil- und Bekleidungsindustrie bieten: „Man kann nicht nur besser, nachhaltiger und günstiger produzieren, es sind auch völlig neue Geschäftsmodelle denkbar.“

In der Industrie 4.0 beginnt die Produktion eines T-Shirts im Körperscanner. In der scheinbar altmodischen Umkleidekabine stehen drei Lasersäulen, mit denen ein Mensch sekundenschnell vom Kopf bis zu den Zehen vermessen werden kann. Sofort zeigt ein Bildschirm mehr als 100 Messwerte an – die Grundlage für einen digitalen Zwilling.

Wie gut diesem Avatar verschiedene Kleidungsentwürfe stehen, zeigt die Virtual-Reality-Brille im Labor. Mit einem handgeführten 3D-Scanner können Hände oder Füße von Personen vermessen werden. Ein anderes Gerät scannt Stoffproben und ermittelt deren Struktur und optische Eigenschaften. Aus den gewonnenen Daten werden Steuerungsalgorithmen für Druck- und Schneidemaschinen erzeugt. Auf dem modernen Einzellagen-Cutter liegen blau gemusterte Zuschnitte für ein Oberteil. 

Künftig könnte die digitalisierte Produktion maßgeschneiderte Kleidungsstücke für jede und jeden erschwinglich machen. Auch individuelles Design – zum Beispiel T-Shirts mit dem Namen der Trägerin oder des Trägers – würden beim Textildruck nur wenig Mehraufwand verursachen. Nicht zuletzt könnte die Anfertigung medizinischer Hilfsmittel wie Stützstrümpfe oder Druckverbände, bei denen es besonders auf Passgenauigkeit ankommt, durch die neuen Techniken einfacher werden. Auf mehreren Leitmessen haben die DITF schon ihre komplette „Digital Textile Microfactory“ vorgeführt, vom Körperscanner über 3D-Design, Drucken und Zuschneiden bis hin zum Fügen auf einer smarten Nähmaschine. Weil es noch keine Roboter gibt, die Textilien gut handhaben können, muss das Nähen zwar weiterhin von Menschen übernommen werden. Doch kann die Nähmaschine im Multifunktionslabor mithilfe von QR-Codes auf Stoffen schon automatisch Zuführgeschwindigkeit, Stichlänge oder Stichzahl einstellen.

Die Textilindustrie gilt leider als verstaubt und alt­backen. Dabei ist sie ein Innovationstreiber.

Prof. Meike Tilebein, Leiterin Zentrum für Management Research

Bachelorstudierende des Studiengangs „Technische Kybernetik“ haben ab dem Wintersemester 2021/22 die Möglichkeit, ihr Projektierungspraktikum rund um die Digital Textile Microfactory zu absolvieren und dabei das Labor zu nutzen. Meike Tilebein, die selbst Technische Kybernetik in Stuttgart studiert hat, hofft, bei den Studierenden mehr Interesse für die Textilindustrie zu wecken: „Die Branche gilt leider als verstaubt und altbacken. Dabei ist sie ein Innovationstreiber.“ Schließlich seien viele der deutschen Textilunternehmen, die die Krisen und Abwanderungswellen der vergangenen Jahrzehnte überlebt haben, auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet Marktführer. 

Labor mit Schaufensterpuppen
Das Team um Meike Tilebein entwickelt Ideen für die digitale Optimierung in der Textilbranche.

Im Projektierungspraktikum will Tilebein die Studierenden auch ermutigen, in Geschäftsmodellen zu denken. Dafür müssten sie nicht nur die Technik im Blick haben, sondern auch die Kundinnen und Kunden: „Nicht alle großartigen Technologien schaffen es in den Markt. Oft liegt das daran, dass Einsatzmöglichkeiten nicht erkannt werden. Erst durch die Vielfalt der Perspektiven entstehen erfolgreiche Innovationen.“

Das systemische Denken, das die Kybernetik kennzeichnet, prägt auch die interdisziplinäre Forschung am Zentrum für Management Research. Gemeinsam mit Partnern aus der Industrie untersuchen die Forschenden die textile Wertschöpfungskette von der Entwicklung bis zum virtuellen Showroom. Eine der zentralen Fragen ist, wie Digitalisierung auch mehr Nachhaltigkeit schaffen kann. So könnten virtuelle Modelle von Kleidungsstücken und Schuhen künftig die Herstellung von Prototypen sowie der umfangreichen Musterkollektionen für den Vertrieb überflüssig machen. „Das ist keine Kleinigkeit“, erklärt Alexander Artschwager, Projektleiter am Zentrum für Management Research und Verantwortlicher für das DITF-Multifunktionslabor: „Für die Herstellung eines einzigen T-Shirts werden bis zu 5.000 Liter Wasser verbraucht.“  

Für die Her­stellung eines einzigen T-Shirts werden bis zu 5.000 Liter Wasser verbraucht.

Alexander Artschwager, Projektleiter am Zentrum für Management Research

Noch ungleich größer ist das Einsparpotenzial in der Massenfertigung. Meike Tilebein hält es für möglich, dass Teile der Textilproduktion aufgrund der neuen Techniken nach Europa zurückverlagert werden, vielleicht sogar in die Innenstädte. Dann könnten Unternehmen Kleidungsstücke zunächst nur in geringen Stückzahlen produzieren und der Nachfrage entsprechend blitzschnell nachordern. „Die Textilproduktion würde sich viel stärker am Bedarf ausrichten. Aktuell wird ein großer Teil der überschüssigen Produktion vernichtet“, sagt sie. Das gilt auch für viele Retouren. Virtuelle Anproben könnten auch dieses Problem weitgehend lösen, denn bei den meisten Retouren wird als Grund angegeben, dass das Kleidungsstück nicht passt oder nicht so aussieht wie erwartet.

Doch könnte die digitale Beschleunigung der Prozesse nicht auch das umweltschädliche Geschäftsmodell der „Fast Fashion“ weiter stärken, sodass in noch kürzeren Abständen noch mehr Kleidung auf den Markt kommen und wieder in den Müll wandern würde? Auch mit diesen sogenannten „Rebound-Effekten“ befassen sich die Forschenden. Meike Tilebein ist aber optimistisch: „Kleidung, die perfekt sitzt und einer Person gut steht, wird nicht so schnell wieder ausgewechselt.

Text: Miriam Hoffmeyer

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