Blick durch vollverglaste Außenwände in einen Seminarraum, in dem Menschen miteinander über das Thema diskutieren und dazu kreativ arbeiten.

Rein in die Stadt

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart

Mobil auch ohne Auto: Im "Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur" wird Beweglichkeit neu gedacht. Drei Siegerprojekte von Studierenden greifen die Transformation von Stadtentwicklung und Raumplanung auf.
[Foto: Lewin Biskupski]

Reallabore tragen Wissenschaft in die Gesellschaft. Auch am Städtebau-Institut der Universität Stuttgart setzt man auf das gemeinsame Experimentieren. Mit dem „Reallabor für nachhaltige Mobilitätskultur“ treffen sie in der Autostadt den Nerv der Zeit.

„Wir forschen mit den Bürgerinnen und Bürgern zu den Fragestellungen, die ihre Lebenswirklichkeit bestimmen, und lernen dabei gemeinsam“, erklärt Martina Baum, Professorin für Stadtplanung und Entwerfen an der Universität Stuttgart und Koordinatorin des „Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur“. Das Thema des Labs, „nachhaltige Mobilitätskultur“, liegt in der baden-württembergischen Landeshauptstadt auf der Hand. Stuttgart ist eine der typischen autogerechten Städte, die im Deutschland der 1970er- Jahre am Reißbrett entstanden sind. Bis heute ist sie vom Automobil geprägt. Die negativen Folgen sind längst überdeutlich: Staus, Lärmbelastung und Luftverschmutzung strapazieren die Umwelt und verringern die Lebensqualität.

Martina Baum, Professorin für Stadtplanung und Entwerfen

Es geht uns nicht darum, Mobilität einzuschränken. Aber wir wollen den starken Fokus auf das Auto hinterfragen und andere Möglichkeiten aufzeigen.

Prof. Martina Baum, Koordinatiorin des "Reallabors für nachhaltige Mobilitätskultur"

Lange Zeit galt hierzulande Mobilität als gleichbedeutend mit Autofahren. Und Mobilitätskonzepte bauten darauf, die Nutzung des eigenen Pkw zu belohnen. Von diesem Paradigma haben sich die Akteurinnen und Akteure im Reallabor konsequent verabschiedet. Sie wollen Mobilitätskultur neu denken und den Menschen bei der Planung und Gestaltung in den Mittelpunkt stellen. „Es geht uns nicht darum, Mobilität einzuschränken“, betont Baum. „Aber wir wollen den starken Fokus auf das Auto hinterfragen und andere Möglichkeiten aufzeigen.“ Auf der Suche nach Konzepten, die Ressourcen schonen sowie Gesundheit und Beteiligung fördern, kooperieren in dem vom Land Baden-Württemberg geförderten Labor seit 2014 sieben Institute der Universität Stuttgart mit weiteren Hochschulen und Forschungseinrichtungen, Vereinen, Institutionen, Stadtverwaltung und Bürgerschaft.

Interventionen bewusst erleben

In der ersten Förderphase bis 2017 lag der Schwerpunkt der Forschenden darauf, das konfliktbeladene Thema möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern nahezubringen. Dabei setzten sie auf Diskussionen, Angebote wie eine Fahrradrikscha oder auch auf neue Orte der Begegnung, zum Beispiel umfunktionierte Autostellplätze oder die für Stuttgart typischen Treppenanlagen „Stäffele“. In Phase zwei ging es dann vor allem um das Experimentieren im öffentlichen Raum. „Aus der ersten Phase haben wir gelernt, dass Interventionen im Stadtraum, die man als Mensch bewusst erleben und erfahren kann, den Diskurs am besten befruchten“, berichtet Baum.

Das multifunktionale Möbel ist im öffentlichen Raum aufgestellt. Der Blick ist auf eine zweckmäßige Küchenzeile gerichtet. Hinter der Spüle sieht man eine Tafel für Kreidenotizen. Im Vordergrund geht eine Frau vorüber.
Siegerprojekt "StadtRegal": Das Multifunktionssystem entwickelte sich zu einem beliebten Treffpunkt.

Wie neue Formen des Austauschs zum Thema Mobilität und Stadtgesellschaft in der Praxis aussehen können, zeigen drei Projekte von Studierenden, die als Siegerentwürfe aus Baums Seminar „Provisorische Architektur“ hervorgegangen sind. Wie bewegen wir uns in der Stadt? Und wem gehören die Räume, die bislang überwiegend von Autos belegt werden? Das waren Fragen, denen auch Ali Hajinaghiyoun und Felix Haußmann im Rahmen ihres Experimentes „StadtRegal“ nachgegangen sind.

Das multifunktionale Möbel wurde für sechs Wochen am Österreichischen Platz aufgebaut – ein Areal, das von einer surrealistisch anmutenden Kreisverkehr-Brücken-Konstruktion für den Autoverkehr dominiert wird. Das Regal bot Raum für eine Notunterkunft, eine Gemeinschaftsküche und einen Lastenradverleih. Daneben stand es für flexible Nutzungen wie einen Food-Sharing- oder Medikamentenschrank und für gemeinsame Kochevents zur Verfügung. Als Ort der spontanen Begegnung entwickelte es sich zu einem Treffpunkt für Menschen aus ganz unterschiedlichen Milieus.

Drei bunte Paare Rollschuhe auf dem Asphalt; im Hintergrund ist ein paar Füße in Socken zu sehen.

Rollschuhbahn für alle

Auch das zweite Siegerprojekt drehte sich um den Österreichischen Platz, und zwar buchstäblich. „How do you roll?“ wollten Cristina Estanislao Molina und ihre Mitstreiterinnen und Mitstreiter wissen. Die Idee dahinter: Für zwei Stunden sollte der Ort, der „eigentlich keinen Bezug zu Menschen hat“, in eine offene Rollschuhbahn verwandelt werden.

Abgesehen von Autos stand sie allen Fahrzeugen offen – vom Skateboard über das Fahrrad bis hin zum Rollator. Unter dem Motto "Die Stadt gehört uns allen" folgten viele, vor allem Familien, dem Aufruf. Begleitet von Musik waren Kinder auf Rollschuhen ebenso unterwegs wie Erwachsene mit Lastenrädern oder Jugendliche auf dem Einrad – für die 25-jährige Estanislao Molina eine ganz besondere Erfahrung: „Hier sieht man, wie viel man auf die Beine stellen kann, wenn man eine gute Idee mit Leidenschaft verfolgt.“

Modell aus Stoff und Karton, das den Heißluftballon mit Gondel, aufgehängt an einer vertikalen Stangenvorrichtung, zeigt.
Für den historisch belegten Heißluftballon mit Gondel entwarfen die Studierenden sogar einen Netzplan.

Zu einer imaginären Reise in die Vergangenheit luden Christian Köhler und sein Team die Menschen in Stuttgart ein. Sie fragten im Rahmen ihres Projektes „Stuttgarter Luftbahn“, auf welche Form von Mobilität die Pioniere und Vordenker des ausgehenden 19. Jahrhunderts gesetzt hätten. So entstand die Idee, die Geschichte der „Luftbahn“, eines Heißluftballons mit Gondel, zu erzählen. Mit einem Augenzwinkern stellten sie so auch die Frage in den Raum, ob die „Luftbahn“ eine Renaissance erfahren und die Menschen im überfüllten Ballungsraum lärm- und emissionsfrei von Station zu Station bringen könnte. Das Projektteam entwarf einen Netzplan für sein hypothetisches ÖPNV-System und baute eine Bahnstation im zeitgenössischen Stil auf. „Wir haben sozusagen eine vergangene Zukunft entwickelt“, sagt Köhler.

Erfahrungswissen soll Früchte tragen

Alle Projekte mit ihren vielen unterschiedlichen Partnerinstitutionen waren Interventionen auf Zeit, die auf großes Interesse stießen. Martina Baum hofft, dass das Erfahrungswissen, das mit dem Reallabor über mehrere Jahre entstanden ist, weiter Früchte in der Stadt trägt – auch wenn das Großprojekt im August 2020 offiziell beendet ist. Sie weiß jetzt: „Die Universität Stuttgart kann sehr viel beitragen, um die großen Herausforderungen zu meistern, vor denen wir als Gesellschaft stehen“ – für die Stadtplanerin eine Bestätigung, dass sich der transdisziplinäre Ansatz, dem sich Reallabore verschreiben, erfolgreich etabliert hat.

Text: Jutta Witte

Prof. Dr. Martina Baum
Städtebau-Institut

  • Forschungsbereiche:
    Architektur und Wohnen, Stadtentwicklung und Raumplanung
  • Schwerpunkte:
    Urbane Transformations- und Umbauprozesse, integrierte Stadtentwicklung

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