Portraitbild Prof. Schmauder

Virtuelle Werkstoffentwicklung: Material gegen Verschleiß

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Höhere Temperaturen in den Turbinen sollen Flugzeuge energieeffizienter machen und den CO2-Ausstoß mindern. Um die dadurch verursachten Turbinenschäden so gering wie möglich zu halten, sind Forschende stets auf der Suche nach neuen Legierungen. Deren Beständigkeit können sie heute mithilfe von Simulationen testen.

Beim Verb „kriechen“ kommen sicherlich den wenigsten Menschen Metalle in den Sinn. Metall erscheint viel eher als Inbegriff von Stabilität. Dennoch gibt es bei Metallen das Phänomen des Kriechens, abhängig von der Temperatur des Werkstoffs in Bezug auf seine Schmelztemperatur. „Etwa bei der Hälfte der Schmelztemperatur geht es los“, erklärt Prof. Siegfried Schmauder, Abteilungsleiter Multiskalensimulation am Institut für Materialprüfung, Werkstoffkunde und Festigkeitslehre (IMWF) der Universität Stuttgart. Je höher die Temperatur des Materials, desto stärker schwingen seine Atome. Und je stärker die Schwingung, desto wahrscheinlicher ist es, dass Atome einen Platzwechsel vollziehen – das Metall beginnt sich unter konstanter äußerer Belastung zu verformen.

Turbinenschaufeln am Modell einer Gasturbine.

Das Kriechen von metallischen Elementen und Legierungen ist freilich nicht nur ein Phänomen auf der atomaren Ebene. Beispiel Flugzeugturbine: Im Inneren dieser Maschinen herrschen beim Verbrennungsvorgang des Treibstoffs Temperaturen von mehr als 2000 Grad Celsius, zudem rotieren dort Bauteile mit hohen Drehzahlen und entsprechenden Fliehkräften. Beginnen die Legierungen in den Turbinen unter diesen Bedingungen zu kriechen, dann wächst die Gefahr von Verschleiß und Schäden. Ähnliche Bedingungen herrschen in den Gasturbinen von Kraftwerken.

Auch Glas kann bei Zimmertemperatur 'kriechen'. Bis dies allerdings messbar ist, vergehen viele Hunderttausend Jahre.

Prof. Siegfried Schmauder, Abteilungsleiter Multiskalensimulation am Institut für Materialprüfung

Experimente bedeuten enormen Aufwand

Für die Industrie ist es daher eine Daueraufgabe, möglichst robuste und vor allem kriechbeständige Werkstoffe zu entwickeln, weil Verschleiß die Wirtschaftlichkeit solcher Systeme und deren Nachhaltigkeit beeinflusst. Auf experimenteller Ebene bedeutet dies enormen Aufwand: Neue Legierungen müssen gegossen und dann in langwierigen Tests unter Extrembedingungen getestet werden. Und weil meist nicht nur eine neue Rezeptur untersucht wird, steigen die Kosten solcher Entwicklungsprozesse, die auch heute vielerorts noch Standard sind.

Mehr und mehr hat sich in den vergangenen Jahren jedoch die noch junge Disziplin der virtuellen Werkstoffentwicklung einen Namen gemacht. Dabei werden neue Legierungen nicht in langen Versuchsreihen untersucht, sondern zunächst auf dem Höchstleistungsrechner der Universität Stuttgart getestet, bevor tatsächlich aussichtsreiche Zusammensetzungen experimentell bestätigt werden.

„Als ich in den 1980er-Jahren mit meiner Doktorarbeit begann, war das noch ein Traum. Keiner hat geglaubt, dass dies funktionieren könnte“, erzählt Schmauder. Auch danach dauerte es noch etliche Jahre, bis Stuttgarter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler 2008 erstmals eine Legierung aus Eisen und Kupfer berechnen konnten.

Heute beschäftigen sich unter dem Dach des Stuttgarter Exzellenzclusters „Daten-integrierte Simulationswissenschaft“ (SimTech) gleich mehrere Gruppen von Forschenden mit der Suche nach kriechbeständigen Legierungen. Ein Projekt befasst sich mit der Erforschung sogenannter Ni-Basis-Superlegierungen, deren Einsatzgebiet vor allem in Turbinen liegt. Diese Legierungen aus Nickel und Aluminium gelten als widerstandsfähig gegenüber der sogenannten Versetzung von Atomen.

Wie beeinflusst Temperatur das Verhalten der Atome?

In diesem Projekt wollen die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun mithilfe der Modellierung untersuchen, wie Temperatur das Verhalten der Atome dieser Legierung beeinflusst und unter welchen Bedingungen Versetzungen von Atomen auftreten. Hierbei ist die spezielle Nickel-Legierung besonders interessant, weil sie auf der atomaren Ebene gewissermaßen Hindernisse für die Versetzung bildet und so das Kriechen unterbindet.

„Dies wird helfen zu verstehen, wie die Temperatur diesen Mechanismus beeinflusst, und Perspektiven eröffnen, diese Barriere möglichst zu erhöhen“, erklärt Schmauder. Parallel will die Forschungsgruppe untersuchen, wie Wasserstoff die Barrieren beeinflusst, da sich in der Vergangenheit in der Anwendung des Werkstoffs gezeigt habe, dass Wasserstoff die Kriechbeständigkeit negativ beeinflussen könne.

Fragen zur Auswirkung von Wasserstoff fließen zudem in parallele Forschungen ein, in denen untersucht wird, wie sich Druck und Temperatur der Wasserstoffatmosphäre auf das Werkstoffverhalten auswirken. Ziel ist, gleichermaßen kostengünstige wie zuverlässige Bauteile zu ermöglichen, die etwa in Wasserstofftanks für Fahrzeuge genutzt werden könnten.

Kobalt und Rhenium zur Teilchenverstärkung

In einem weiteren Projekt erforschen die Stuttgarter Simulationsexperten eine kriechbeständige Legierung aus Kobalt und Rhenium, die durch Tantalcarbid, eine Verbindung aus dem metallischen Element Tantal und Kohlenstoff, verstärkt wurde. Dabei soll vor allem die Frage beantwortet werden, wie sich der durch das Tantalcarbid erzeugte Teilchenverstärkungsmechanismus unter Belastung verhält. Dabei arbeitet das IMWF eng mit dem Institut für Werkstoffe der Technischen Universität Braunschweig zusammen.

Die quanten­mechanische Simulation der Kobalt/Karbid-Grenzfläche stellt die Elektronendichte dar. Rot bedeutet niedrig, blau hoch.

Zwar gilt die reine Kobalt-Rhenium-Legierung bereits als sehr hart, dennoch geht das Projekt von der Annahme aus, dass die Legierung zusätzliche Verfestigung für den Einsatz unter hohen Temperaturen und mechanischen Belastungen benötigt. „Wir müssen einen bei hohen Temperaturen wirksamen Verfestigungsmechanismus finden. In diesem Projekt wollen wir herausfinden, welches Potenzial Karbide aus Metall und Kohlenstoff hierbei haben“, so Prof. Joachim Rösler von der TU Braunschweig. Hierfür arbeiten die Forschenden beider Universitäten parallel in Simulationen und Experimenten.

Um solch komplexe Simulationen zu ermöglichen, waren zunächst umfangreiche Vorarbeiten nötig. „Heutige Rechner können sehr viel leisten“, sagt Prof. Schmauder, „aber sie können Bauteile immer noch nicht auf der atomaren Ebene rechnen.“ Um die Phänomene dennoch mit vertretbarem Rechenaufwand in der Simulation sichtbar zu machen, wandten die Forscher einen Trick an: Sie koppelten Berechnungsvorgänge nacheinander. „Wir rechnen auf der atomaren Ebene aus, was wir auf der nächsthöheren Ebene als Input brauchen“, erklärt Schmauder. Dort wiederum bekommen die Forschenden Ergebnisse für die makroskopische Ebene.

Text: Jens Eber

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