„Universelle Geltung der Menschenrechte – eine Ideologie des Westens? “

21. Dezember 2023

Angelika Nußberger brillierte am 13. Dezember 2023 als Referentin der Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung mit einem Vortrag zum Thema Menschenrechte.

Was ist der Wert der Menschenrechte? Wer hat sie verfasst und sind sie universell gültig? In einem beeindruckenden Vortrag im Rahmen der Theodor-Heuss-Gedächtnisvorlesung an der Universität Stuttgart ging Angelika Nußberger, Professorin für Verfassungsrecht und Völkerrecht an der Universität zu Köln und ehemalige Vizepräsidentin am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, diesen und weiteren Fragen nach. Der Titel ihres Vortrags: „Universelle Geltung der Menschenrechte – eine Ideologie des Westens?“

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.

Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte

Nur wenige Tage nach dem 75. Geburtstag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10.12.1948 beleuchtete Nußberger in ihrem Vortrag, welche Bedeutung die Erklärung der Menschenrechte in der heutigen Welt hat. Ihre Ausführungen, die mit vielen historischen Daten gespickt waren, zeigten, dass die Auslegung der Menschenrechte nicht unproblematisch und die Umstände ihrer Entstehung durchaus nicht frei von Geburtsfehlern sind. 

Betteln und Bescheidenheit

Das wurde bereits zu Beginn des Vortrags deutlich, als Nußberger einen Blick hinter die Kulissen ihrer vergangenen Tätigkeit in einer international besetzten Expertenkommission gewährte. Diese hatte einen Bericht über das westafrikanische Mali zu verfassen. Die zentrale Frage lautete, ob das Betteln von Kindern, wie es in Mali praktiziert wurde, gegen die Menschenrechte verstoße und damit zu verbieten sei.

„Natürlich“ habe sie, wie auch ihre Kollegin aus Großbritannien und weitere Amtskolleg*innen des globalen Nordens, das Betteln von Kindern abgelehnt. Zum Nachdenken angeregt habe sie aber der Einwand eines anderen Kommissionsmitglieds, eines aus dem Senegal stammenden Richters, der eine konträre Auffassung vertrat: Die Erfahrung des Bettelns – die auch er als Kind im Senegal gemacht hatte – sei in vielen anderen Ländern Afrikas ein wichtiger Baustein in der Erziehung von Kindern. Schließlich erlernten diese dabei auf unmittelbare Art und Weise etwas so Fundamentales und Wertvolles wie „humility“, also Bescheidenheit.

Bescheidenheit als Erziehungsziel – durch Betteln erlernt? Damals sei ihr in besonderem Maße klargeworden, wie groß die Unterschiede zwischen Kulturen sein können, wenn es um die Definition von Werten geht. In Deutschland und wohl auch in den restlichen europäischen Ländern versuche man wohl eher, den Kindern Selbstbewusstsein und Durchsetzungsvermögen beizubringen, um sie auf das Leben vorzubereiten. Aber Bescheidenheit?

Angelika Nußberger

Freiheit und Pflichten

Ebenfalls interessant und beispielhaft für die kulturbedingt unterschiedlichen Auslegungen der Werte hinter den Menschenrechten sei die Auffassung Gandhis, der die Allgemeine Erklärung 1948 zwar nicht unterzeichnen durfte, aber doch im Vorfeld gefragt wurde, was er von den Freiheitsrechten halte. Für den indischen Juristen und Pazifisten taugten Rechte der Menschen grundsätzlich nur dann etwas, wenn sie gleichzeitig an Pflichten gekoppelt seien. Ohne den Gegenpart der Pflichterfüllung sei also auch der Gedanke der Freiheit des Menschen laut Gandhi sinnlos.

Geburtsfehler der Erklärung

Von diesen beiden „friedlichen“ Beispielen war es kein weiter Schritt hin zu der Feststellung Nußbergers, dass vor allem die Länder des globalen Südens dem Westen vorwerfen, von der Ausarbeitung der Menschenrechte ausgeschlossen worden zu sein. Mehr noch: Ihr Vorwurf laute, dass die westlichen Länder mit ihrer Menschenrechtspolitik dem Rest der Welt nur ihre Werte aufzuzwingen versuchten, um letztlich ihren Einfluss als (ehemalige) Kolonialmächte weiter fortzuführen.

Nußberger ließ hier keinen Zweifel daran, dass die Kritik an der Entstehung der Erklärung berechtigt sei. Zwar habe man sich damals stark darum bemüht, die von unterschiedlichen Kulturen geprägten und vertretenen Werte mit in die Ausarbeitung der Rechte einfließen zu lassen. Tatsächlich sei es aber ein Fehler gewesen, dass diejenigen Länder, die damals Kolonien waren, nicht einbezogen wurden.

Eben diesem Missstand sei man später begegnet: 1993 in Wien hätten sich genau diese Länder zu den Menschenrechten bekannt und ihnen offiziell zugestimmt. Der alte Geburtsfehler sei damit „geheilt“ worden.

Besinnung auf die Menschenrechte heute wichtiger denn je

In Anbetracht auch heutiger Fehldeutungen der Menschenrechte, zahlreicher Krisen und Kriege mahnte Nussberger – die nicht nur selbstkritisch auf Europa, sondern auch auf die USA, Russland und China schaute –, sich neu auf die Kernaussagen der Menschenrechte zu besinnen, über sie nachzudenken, sie an die Erfordernisse unserer Zeit anzupassen, denn schließlich: welche Alternative gebe es?

Als Ausblick zeichnete sie die Vision einer Überarbeitung der Erklärung von 1948, eine Version „Menschenrechte 2.0“. In diese lasse sich vielleicht Gandhis Idee von Rechten und Pflichten noch besser einarbeiten, und wer weiß, vielleicht könne auch die Idee von „humility“ wieder einen Platz darin finden.

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