Zwangsarbeiter verladen Bücher beim Umzug der Materialprüfungsanstalt.

Verfolgung und Entrechtung an der Universität in der NS-Zeit

Die Hochschule und ihre Angehörigen haben während der NS-Zeit vielen Menschen Unrecht zugefügt. Nun sind in einer Dokumentation 440 Einzelschicksale beschrieben. Der Rektor entschuldigt sich im Namen der Universität bei allen Angehörigen der Verfolgten.

Einige der vielen Personen, die in der NS-Zeit verfolgt und entrechtet wurden.
Einige der vielen Personen, die in der NS-Zeit verfolgt und entrechtet wurden (Bild in groß öffnen).

Mehr als 440 Menschen ist Unrecht widerfahren

In der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland von 1933 bis 1945 erlebten viele Menschen als Forschende, Studierende oder in Zwangsarbeit Entrechtung und Verfolgung an der Technischen Hochschule Stuttgart.

Bei einer Gedenkveranstaltung bat der Rektor Prof. Wolfram Ressel im Namen der Universität die Angehörigen der Betroffenen um Entschuldigung für das Unrecht. Erstmals wurden zuvor alle auffindbaren Einzelschicksale recherchiert und dokumentiert. In einem Video erläutert der Projektleiter Dr. Norbert Becker die Hintergründe der Dokumentation.

Entschuldigung und Mahnung

Zum Abschluss der Dokumentation gab die Universität Stuttgart eine Gedenkveranstaltung. In deren Rahmen sprach Rektor Prof. Wolfram Ressel eine Entschuldigung an die Angehörigen der Opfer aus. Als Mahnung wies er darauf hin, dass – anders als 1946 behauptet wurde – Wissenschaft und Lehre niemals unpolitisch waren und sein dürfen.

Nationalsozialistisches Unrecht an der Universität: Entschuldigung im Rahmen der Gedenkveranstaltung

Dauer: 3:20 | © Universität Stuttgart | Quelle: YouTube

Im Namen der Universität Stuttgart bitte ich alle Angehörigen der Verfolgten um Entschuldigung für das Unrecht, das sie und ihre Angehörigen in der Zeit des Nationalsozialismus durch die Universität Stuttgart erleiden mussten.

Prof. Wolfram Ressel, Rektor, Gedenkveranstaltung 6. Februar 2017
Paul Peter Ewald 1929 als Professor der Technischen Hochschule Stuttgart
Paul Peter Ewald 1929 als Professor der Technischen Hochschule Stuttgart

Verfolgung und Entrechtung

Drei unter vielen

Eine aussichtsreiche wissenschaftliche Karriere stand Paul Peter Ewald bevor. Sogar Rektor war er. Abrupt endete seine Laufbahn in Deutschland, weil er die rassistische Politik nicht mittragen wollte – aber auch, weil seine Frau und er die „falschen Vorfahren“ hatten.

Man musste nicht jüdisch sein, um im Nationalsozialismus seine Stellung zu verlieren. Der Fall des Studenten Kurt Lingens zeigt, dass auch ein reiches, bürgerlich-deutsches Elternhaus nicht vor einem Studienverbot bewahren konnte. Lingens engagierte sich als Kommunist und wurde deshalb zwangsexmatrikuliert.

Neben diesen Ausgrenzungen gab es sehr viele Menschen, die gezwungen wurden, in Stuttgart zu arbeiten – so wie die sowjetische Staatsbürgerin Pauline Papkowa. Über 290 Fälle von Zwangsarbeit an der TH während des zweiten Weltkriegs sind bekannt. Einrichtungen wie die Materialprüfungsanstalt profitierten von der Sklaverei.

Paul Peter Ewald, geboren 1888, war als Professor für Theoretische Physik in der Forschung gut angekommen. Seine Theorien zu Röntgenstrahlen, die auf Kristalle treffen, wurden weltweit geschätzt. 1928 kam er an die Technische Hochschule Stuttgart und baute ein Zentrum für Theoretische Physik auf. Ab 1932 war er Rektor.

Die Vorwürfe: Politischer Gegner, nichtarische Frau

Seine politische Einstellung war liberal. Den Erfolg der Nationalsozialisten bei der Reichstagswahl im Januar 1933 hoffte er noch als vorübergehende Erscheinung sehen zu können. Ewald war evangelisch, hatte aber auch jüdische Vorfahren und galt daher als „Mischling zweiten Grades“. Seine Frau galt als Jüdin. Als politischer Gegner und „Nichtarier“ hätte er nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ gleich mit dem Beginn der Naziherrschaft seine Stellung verloren. Eine skurille Ausnahme im willkürlichen Gesetz beließ ihn im Amt: Ewald hatte im ersten Weltkrieg als deutscher Soldat gekämpft.

Im April 1934 hatte er bei einer Hochschulrektorenkonferenz miterlebt, dass die Rektoren von Hochschulen und Universitäten ohne Gegeninitiative die Entlassungen jüdischer und politisch oppositioneller Professoren hinnahmen. Weil es ihm „nicht möglich [war], in der Rassefrage den Standpunkt der nationalen Regierung zu teilen“, reichte er seinen Rücktritt als Rektor ein.

Entsetzen über Rassismus an Hochschulen

Bis 1937 erlebte er noch die zunehmende rassistische Stimmung an der Hochschule. 1936 hatte er aus Entsetzen über ein Schreiben des Reichsministers für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung eine Pflichtveranstaltung für Dozenten verlassen. Der Dozentenführer Reinhold Bauder hatte den Rundbrief über „die sogenannte ‚objektive Wissenschaft‘“ verlesen, dessen Grundlage nationales Empfinden sei. Daraufhin drängte ihn der nationalsozialisitsche Rektor Wilhelm Stortz zur Bitte um Amtsenthebung als Professor. Die von den Nazis eingeführte „Vereinfachung der Verwaltung“ ermöglichte es, Versetzungen in den Ruhestand aus rassistischen oder politischen Gründen einem juristischen Deckmantel zu geben.

Emigration nach England

Ewald hat die Emigration nach England 1937 seinen guten Kontakten zu verdanken. Kollegen wollten ihn bereits 1933 ins Ausland holen – doch er wollte seine Stelle nicht verlassen. Bis 1940 bekam er das mickrige Ruhestandsgehalt. Es gelang ihm später jedoch – eine Ausnahme –, seine wissenschaftliche Karriere in den USA fortzusetzen. Der Kontakt zur Technischen Hochschule und späteren Universität Stuttgart entstand neu in den 1950er Jahren, wo zwei seiner Schüler Professoren waren. 1985 starb er 97-jährig in den USA.

Die 1916 geborene sowjetische Staatsbürgerin Pauline Papkowa ist ein Beispiel für die 292 ermittelten Zwangsarbeiter, die während des Zweiten Weltkriegs an der Technischen Hochschule Stuttgart unter menschenunwürdigen Bedingungen arbeiten mussten. Zwangsarbeiter kamen aus den Gebieten, die von der Wehrmacht besetzt waren: Polen, UdSSR, Frankreich, Belgien, Niederlande, Jugoslawien und Italien. Besonders schlecht erging es den „Ostarbeitern“ aus der Sowjetunion. Sie erhielten nur wenig zu essen und waren auch körperlicher Gewalt ausgesetzt. Viele waren verschleppt worden, teils von der Straße weg entführt. Nur wenig besser erging es Arbeitern aus dem „Westen“. Manche hatten sich freiwillig gemeldet; an den Umständen der Zwangsarbeit änderte das nichts.

Zum Trümmer-Räumen verschleppt

1941 hatten deutsche Soldaten Pauline Papkowa in ihrer Heimat bei Leningrad gewaltsam in ihren Dienst genommen. Sie musste für die Wehrmacht putzen, Wäsche ausbessern und andere Haushaltsarbeiten verrichten. Vermutlich nach einer Flucht geriet sie erneut in Gefangenschaft und wurde nach Deutschland verschleppt. Im Januar 1944 kam sie als „Ostarbeiterin“ nach Stuttgart, wo sie zunächst helfen musste, Trümmer zu beseitigen. Ab Ende März 1944 war sie bei der Materialprüfungsanstalt (MPA) als Putzfrau beschäftigt. Unter anderem musste sie an Freitag- und Samstagvormittagen die Maschinenhallen und den Hof kehren. Ab August 1944 hatte die Trümmerbeseitigung in Stuttgart Vorrang, sodass die MPA Papkowa nicht weiter beschäftigen konnte, obwohl die Anstalt versuchte, „ihre“ Putzfrauen zu behalten.

Auch nach dem Krieg geächtet

Für viele sowjetische Zwangsarbeiter ging nach der Rückkehr in ihre Heimat das Leben ähnlich katastrophal weiter. Weil sie beim Feind in Deutschland im Dienst gestanden hatten, gerieten die Arbeiter unter Generalverdacht. Oft lebten sie jahrelang unter gesellschaftlicher Ächtung in den äußersten Gebieten Sibiriens. Es dauerte bis in die 1970er Jahre, bis sie rehabilitiert wurden.

Kurt Lingens, geboren 1912, war ein Student aus reichem, etablierten Elternhaus. Auf Wunsch seiner Eltern begann er an der TH Stuttgart im Wintersemester 1931/32 sein Architekturstudium. Früh hatte er sich dem Kommunismus zugewandt, sodass er auch – laut Angaben der politischen Polizei – gleich im ersten Semester „1. Vorsitzender des Roten Studentenbundes“ wurde.

Studienverbot aus politischen Gründen

Schon im Juli 1933 wurde er zwangsweise exmatrikuliert und vom Weiterstudium an anderen deutschen Hochschulen ausgeschlossen. Dank seinem finanziellen Hintergrund konnte er auf einen Studienplatz in Wien ausweichen. Als er seine spätere Frau Ella kennenlernte, eine Österreicherin, vertrat er schon bald wie sie die gemäßigteren Positionen der Sozialdemokratie. Beide entschlossen sich zum Medizinstudium, das sie schon bald in München und Marburg fortsetzten. Lingens konnte das Studienverbot umgehen.

Knapp dem Tod entronnen

Obwohl 1939 ein Sohn geboren wurde, versteckten Ella und Kurt Lingens ab 1940 in ihren Wohnungen Juden, denen der Abtransport in Konzentrationslager drohte. 1942 verriet ein Spitzel des Sicherheitsdienstes (SD) das Ehepaar. Ella Lingens konnte als Ärztin gerade so das Vernichtungslager Auschwitz überleben, Kurt Lingens kam mit einem Einsatz in einem Strafbataillon in Russland glimpflich davon.

Nach dem Krieg scheiterte die Ehe. Kurt Lingens emigrierte 1948 in die USA. Erst in der Mitte der 1960er Jahre gelang es ihm, seine medizinische Ausbildung anerkennen zu lassen. Kurz nach seiner Praxiseröffnung starb er an einem platzenden Aneurysma.

Gerechte unter den Völkern

1980 wurden Ella und Kurt Lingens sowie ihr in Auschwitz ermordeter Helfer Baron Karl von Motesiczky von der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichnet.

Diese Schicksale sind nur drei Beispiele aus den mehr als 440 Menschen, die in der nationalsozialistischen Epoche bis 1945 Unrecht durch ihre Kolleginnen und Kollegen, Vorgesetzen und durch die Hochschule erlebten. Was über die Verfolgungen und Entrechtung von Einzelpersonen heute noch ermittelt werden konnte, haben Norbert Becker und Katja Nagel in der Dokumentation zusammengetragen.

Dr. Norbert Becker über die Hintergründe

Dauer: 2:50 | © Universität Stuttgart | Quelle: YouTube
Der Student Kurt Lingens um 1937
Der Student Kurt Lingens um 1937

Die Frage der Schuld

Die Fälle bewegen, weil das Umfeld unserer Zeit ähnlich ist. Stuttgart gibt es noch, die Technische Hochschule ist heute die Universität Stuttgart. Menschen arbeiten als Professorinnen und Professoren, Studierende machen hier ihre wissenschaftliche Ausbildung, weitere Beschäftigte organisieren die Verwaltung und den nichtwissenschaftlichen Betrieb. Jede und jeder von ihnen hat seine persönlichen Vorstellungen von Gesellschaft, Politik, Recht und Moral.

Schuld hat die Universität bzw. ihre Vorgängerinstitution auf sich geladen, weil sie nicht die reine Lehre und Wissenschaft vertrat. Sie ließ sich von ihren Angehörigen missbrauchen, indem etwa Studierende Stipendien und Gebührennachlässe nicht entsprechend ihrer Leistung, sondern nach Parteizugehörigkeit und Engagement in NS-Organisationen erhielten. Weil Exmatrikulationen nicht im Namen von Personen, sondern im Namen der Hochschule erfolgten, ist es auch die Hochschule, die dafür Mitverantwortung trägt.

Eine unpolitische Wissenschaft gibt es nicht

„Die Universität Stuttgart möchte allen Studierenden eine Bildung ermöglichen, die eben nicht nur reine oder neutrale Wissenschaft ist. Eine unpolitische Wissenschaft, wie man sie sich in der Nachkriegszeit gewünscht hat, gibt es nämlich nicht. Wissenschaft ist immer mit der Verantwortung für die Gesellschaft verbunden. Sie verlangt, und dies gilt gerade für unsere Zeit der Globalisierung, eine Atmosphäre von Toleranz und Mitmenschlichkeit. Rechtsstaat und Wissenschaftsfreiheit gehören zusammen.“ Prof. Wolfram Ressel

Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion verladen um 1944 die Bibliothek der Materialprüfungsanstalt. Der zweite Mann von links trägt auf der Jacke den Schriftzug „OST“, der ihn als „Ostarbeiter“ kenntlich macht.
Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion verladen um 1944 die Bibliothek der Materialprüfungsanstalt. Der zweite Mann von links trägt auf der Jacke den Schriftzug „OST“, der ihn als „Ostarbeiter“ kenntlich macht.

Dokumentation und Gedenken

Das Ziel

der Dokumentation war es, möglichst alle Mitglieder der Technischen Hochschule bzw. ihrer Nachfolgeinstitution, der Universität Stuttgart, namentlich zu ermitteln, die während der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft durch die Hochschule oder deren Organe verfolgt und entrechtet wurden. Zudem wurden die Hintergründe der Unrechtshandlungen, Täter und Tätermotive genannt.

Anlass

für die Recherche und Dokumentation war eine Bitte, gestellt an Rektor Wolfram Ressel im Jahr 2013. Er war gebeten worden, zwei Studenten zu rehabilitieren, die in der NS-Zeit wegen ihrer Homosexualität zwangsexmatrikuliert wurden. Daraufhin beauftragte der Rektor eine Prüfung, wie viele Unrechtsfälle insgesamt vorliegen.

Die Quellenlage

hat sich gegenüber ähnlichen älteren Untersuchungen zu anderen Hochschulen erheblich verbessert, auch wenn 1944 fast das gesamte eigene Archiv der Hochschule verbrannt ist. Inzwischen können die Akten der Entnazifizierungsverfahren (Spruchkammerakten) und der Wiedergutmachungsverfahren, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, nach Ablauf von Datenschutzfristen genutzt werden.

Weitere Quellen sind die Internetrecherche, mit der weitere Unterlagen und Angehörge von Betroffen gefunden wurden. Außerdem konnte Norbert Becker zwischen 1997 und 2003 noch einige Interviews mit Betroffenen, aber auch mit zwei NS-Studentenführern führen.

Als Buch

ist die Dokumentation in der Produktion und wird im Lauf des Jahres im Buchhandel erhältlich sein. Eine kleine Auflage mit 50 Vorab-Exemplaren verteilte die Universität an Angehörige von Opfern und an die Medien im Rahmen der Gedenkveranstaltung.

Eine Vollständigkeit

gibt es nicht: Die schlechte Quellenlage und die Tatsachen, dass viele Verfolgungsmaßnahmen ohne Rechtsgrundlage und schriftliche Dokumentierung geschahen, machen es wahrscheinlich, dass viele Fälle unentdeckt bleiben werden.

Als Verfolgung

gelten alle Maßnahmen, die dazu führten, dass Studierende aus rassistischen oder ideologischen Gründen von der Hochschule verwiesen oder Wissenschaftler und Mitarbeiter aus denselben Gründen entlassen wurden oder selbst ihre Hochschullaufbahn abbrachen. Ebenso sind die Aberkennungen von Diplom- und Doktorgraden und der Ernennungen zum Ehrenbürger oder zum Ehrensenator aus rassistischen oder politischen Gründen hinzuzurechnen.

Zahlreiche Zwangsarbeiter

zählen zu den Verfolgten. Sie mussten unfreiwillig während des Zweiten Weltkriegs an der Technischen Hochschule Stuttgart arbeiten. Oder sie wurden als zunächst freiwillig angeworbene ausländische Arbeitskräfte in das System der Zwangsarbeit gepresst.

Ein Gedenkbuch

ist die Dokumentation für die jüdischen Mitglieder der Technischen Hochschule Stuttgart, die während der NS-Zeit an der Hochschule waren. Die Autoren haben auch alle jüdischen bzw. im NS-Staat als jüdisch oder „nichtarisch“ geltenden Studierenden aufgenommen – auch dann, wenn sie ihr Studium an der Technischen Hochschule Stuttgart (scheinbar) ungestört beenden konnten.

Die Täter

wurden im Rahmen der Dokumentation bewusst persönlich recherchiert und namentlich genannt, sofern die Recherche Sicherheit über ihre Identität gab. Anstoß war eine Bitte von Angehörigen einer verfolgten Studentin, doch auch die Täter zu benennen.

Somit sind die Vorkommnisse nicht als anonyme Geschehnisse, sondern als Unrecht sichtbar, das Menschen bewusst an anderen Menschen getan haben.

So berichteten die Medien

Kontakt

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Norbert Becker

Dr.

Leiter Universitätsarchiv

 

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