Bei Antriebssystemen nicht nur auf eine Karte setzen

4. April 2022 Neu an der Uni: Prof. André Casal Kulzer

Prof. Dr. André Casal Kulzer forscht seit Anfang 2022 am Institut für Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart (IFS). Er tritt im Oktober die Nachfolge von Prof. Dr. Michael Bargende an. Aus dem bisherigen Lehrstuhl für Fahrzeugantriebe wird dann der Lehrstuhl für Fahrzeugantriebssysteme.
[Foto: FKFS]

Schon seit einigen Jahren hat sich der Lehrstuhl am IFS unter Prof. Michael Bargende weg von der Beschäftigung mit den klassischen Verbrennungsmotoren hin zur breit aufgestellten Erforschung verschiedener Antriebssysteme entwickelt. Im Fokus steht die systemische Optimierung aller Antriebssysteme: von Hybrid-, Brennstoffzellen-, und Elektroantrieben bis hin zu verbrennungsmotorischen Antrieben mit CO2-neutralen Kraftstoffen. Die Umbenennung des Lehrstuhls in Fahrzeugantriebssysteme wird dieser Veränderung gerecht.

Prof. Dr. André Casal Kulzer forscht seit Anfang des Jahres am Institut für Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart (IFS).

Verschiedene Antriebe – dazu gibt es viele Meinungen. Es handelt sich um ein umkämpftes Feld, das macht es oft schwierig, sachlich darüber zu diskutieren.

Prof. André Casal Kulzer

Prof. André Casal Kulzer setzt bei der Entwicklung von Antriebssystemen auf Diversität. Er hat in Portugal an der Technischen Universität in Lissabon Maschinenbau studiert. Nach einem Erasmus-Aufenthalt an der TU Braunschweig begann er seine Promotion an der Universität Stuttgart. Er war einer der ersten Doktoranden von Prof. Michael Bargende. Sich mit Motoren und Antriebstechnik auseinanderzusetzen liegt dem 46-Jährigen im Blut. Väterlicherseits stammt er aus der bayrischen Motorenfabrikantenfamilie Kulzer. Seine Mutter ist die Tochter und Nichte der Firmengründer von Metalurgia Casal, damals der größte portugiesische Motorradhersteller. Sein bayrischer Vater gehörte zu den ehemaligen Zündapp-Ingenieuren, die nach Portugal entsendet wurden, um ihr Know-how einzubringen. So lernten sich seine Eltern kennen.

Mit Kulzer gewinnt die Universität nicht nur aufgrund seiner familiären Herkunft einen Vollblut-Motorenentwickler. Er bringt durch seine langjährige Tätigkeit bei Bosch und Porsche in der Forschung und Entwicklung von Antriebssystemen auch viel Erfahrung und ein großes Netzwerk an weltweiten Kontakten mit.

Viele Möglichkeiten stehen zur Auswahl

André Casal Kulzer geht es nicht nur um Antriebssysteme, er fasst die Thematik noch weiter. Es gehe insgesamt um die Betrachtung von Mobilität und wie wir diese umwelt- und sozialgerecht gestalten können. Dass in dieser Frage viel Emotionalität steckt, ist dem Antriebsentwickler klar: „Mobilität geht uns alle an, sie enthält eine starke soziale Komponente, auch Selbstentfaltung und ein Gefühl von Freiheit gehören dazu.“ Es wäre ein schlechter Weg, bei der Suche nach Lösungen für die Mobilität der Zukunft nur auf eine Karte zu setzen, denn es gebe verschiedene Möglichkeiten zur Auswahl aus Sicht der Energiespeicherung, ist Kulzer überzeugt. Welche das zum Beispiel sind, zählt er auf: Antriebssysteme basierend auf chemischen Batteriespeichern, Wasserstoff und erneuerbaren Kraftstoffen. Diese treiben reine oder hybride Antriebssysteme auf Basis von Elektromotoren, Brennstoffzellen und Verbrennungsmotoren an.

Wichtig sei es, den ganzen Lebenszyklus eines Fahrzeugs zu betrachten. Zur Entwicklung eines umweltgerechten Systems müssen alle relevanten Aspekte, angefangen mit Ressourcengewinnung und Produktion über Energiequelle und Energiespeicherung bis zur Energiewandlung betrachtet werden. „Wir müssen die verschiedenen Antriebssysteme über den gesamten Zyklus hinweg begleiten, umfassend analysieren und vergleichen. Für jede Anwendung gibt es mehrere mögliche Lösungen.“

Als Schwerpunkte seiner Arbeit bezeichnet André Casal Kulzer die Erforschung von Elektrifizierung und die Weiterentwicklung von Elektroantriebssystemen. Hierbei ist auch der Grad der Elektrifizierung von Bedeutung. Bei Plug-in-Hybriden werden beispielsweise kleine Batterien mit wenig Gewicht verwendet. Diese reichen für eine Fahrstrecke von über 50 Kilometern und bringen nur ca. 1/10 des Gewichts auf die Waage im Vergleich zu Batterien von Fahrzeugen, deren Antriebssystem komplett aus Batterien besteht. Es gilt also abzuwägen, wofür ein Fahrzeug genutzt werden soll und ob die Einsparung von CO2 sinnvoller durch Reduktion von Gewicht und Einsatz seltener Erden, oder mittels eines weitgehend CO2 neutralen Antriebs über den richtigen Mix an grünem Strom und/oder grünem Benzin erreicht werden kann.

Ein weiterer wichtiger Punkt der Forschungsarbeit des Lehrstuhls ist die Substitution von fossilen Energieträgern durch erneuerbare, biogene oder synthetische und somit „Grüne“ Kraftstoffe. Die synthetischen Kraftstoffe werden mit Kohlenstoff, der zuvor aus der Luft entnommen wurde, hergestellt. Erfolgt der anschließende Produktionsprozess ausschließlich unter Verwendung von regenerativ erzeugter Energie, ist der Kraftstoff klimaneutral, da bei seiner Verbrennung nur so viel CO2 freigesetzt wird, wie zuvor aus der Luft extrahiert wurde. Auf diese Weise entsteht ein CO2-neutraler Kreislauf. Wasserstoff aus erneuerbarem Strom, Methanol und Synthesegas bilden weitere Ausgangsmaterialien, mit welchen sich Kraftstoffe synthetisieren lassen. Klärschlamm, altes Speiseöl oder altes Fett können zu biogenen Kraftstoffen verarbeitet werden. 

Kulzer und sein Team untersuchen einzelne Antriebssysteme und vergleichen parallel dazu die Ergebnisse. „Wir führen ein Benchmarking über die Energiewirkungsgrade und CO2-Neutralität durch. Auch Künstliche Intelligenz ist eine Hilfe, um zu ermitteln, welche Betriebsstrategie für welche Fahrzeuge oder Mobilitätswünsche die richtige ist.“ Und als ob das nicht alles schon genug wäre, beschränkt sich die Forschung nicht nur auf Automobile, sondern „wir wollen auch die Bereiche E-Bikes und Motorräder bis hin zu Motorsportanwendungen ausbauen“, erklärt Kulzer.

Nicht vergessen werden sollte das Forschungsfeld Akustik: Hier hat das Institut eine große Kompetenz. Einerseits sollen störende Geräusche eliminiert werden, gleichzeitig soll ein Elektroauto jedoch auch zu hören sein. Es muss also ein Geräusch gestaltet werden. Zusätzlich verbinden viele Menschen ein Motorgeräusch mit Emotionen, wie z.B. beim Motorsport.

Langweilig wird es Kulzer und seinem Team also so schnell nicht werden. Er sagt von sich: „Ich war schon immer forschungsaffin.“ Auch während seiner Zeit bei Bosch und Porsche bestand ein großer Teil seiner Arbeit aus einer forschungsintensiven Tätigkeit, zudem gehörte die industrieseitige Betreuung von Promovierenden zu seinem Aufgabenbereich.

Prof. André Casal Kulzer tritt im Oktober am IFS und am FKFS in die Fußstapfen von Prof. Michael Bargende.

Optimale Stabübergabe

Das Institut für Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart steht in enger Verbindung zu dem Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart (FKFS). Auch hier tritt der Wissenschaftler in die Fußstapfen von Prof. Michael Bargende. Ab Oktober übernimmt er die Leitung des Vorstandsbereichs Fahrzeugantriebssysteme, die er zurzeit noch stellvertretend innehat. Kulzer erklärt dazu: „Ich finde es schön, dass mit meiner Tätigkeit beim FKFS auch ein gewisses Unternehmertum verbunden ist, auch damit führe ich die Familientradition fort.“

André Casal Kulzer lebt mit seiner portugiesischen Frau und seinen drei Töchtern in der Nähe von Stuttgart. Er freut sich sehr, an die Universität Stuttgart zurückzukehren und den Lehrstuhl von seinem ehemaligen Doktorvater zu übernehmen: „Ich bin der Berufungskommission und der Universitätsleitung sehr dankbar dafür, dass ich neun Monate Zeit habe, gemeinsam mit Prof. Michael Bargende zu arbeiten und ihn zu begleiten. Eine bessere Stabübergabe kann man sich nicht wünschen.“

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