Baustoff mit bester Ökobilanz: Reet

Skulpturale Architektur in den Alpen

Architekturstudierende der Universität Stuttgart entwerfen eine fast vollständig aus Reet bestehende Gebäudehülle.

Reet als Baustoff auf über 2600 Meter Höhe? Diese ungewöhnliche Idee hat ein Studierenden-Team um Armin Kammer und Anke Wollbrink, Architekten des IBBTE der Fakultät 1 Architektur und Stadtplanung der Universität Stuttgart umgesetzt. Gemeinsam mit dem Deutschen Alpenverein und seiner Sektion in Mannheim realisierten sie dort eine fast vollständig aus Reet bestehende Gebäudehülle.

Das neu eingekleidete Wasserversorgungsgebäude der seit über hundert Jahren bestehenden Mannheimer Hütte steht unterhalb der Schesaplana, am Rande des Brandner Gletschers im Rätikon. Die Idee stammt aus Lehrveranstaltungen, in denen Studierende die skulpturale Gestaltung von Berghütten in ihren architektonischen Entwürfen bearbeitet haben.

Reet ist nachhaltig und schont die Umwelt

Materialien wie Blech, Holzschindeln oder auch Bitumen wären dafür gleichermaßen geeignet, meint Kammer, jedoch wollte man neue Wege beschreiten. Die Idee „Reet“ war geboren, ein vor allem aus Norddeutschland bekanntes Material, das aus Schilfrohr besteht. Ein Großhändler in Bad Oldeslohe wurde gefunden und Kontakt zu Handwerkern geknüpft. Die Bedenken des Landschaftsschutzes, Reet sei fremdes Material, ließen sich schnell entkräften: „Außer Stein, Eis, Moose oder Flechten ist dort alles fremd“, sagt Armin Kammer. Und so ungewöhnlich sei das Material im Übrigen gar nicht, denkt man an reetgedeckte Bauernhöfe im Schwarzwald oder an die Pfahlbauten in Unteruhldingen am Bodensee. „Weltweit war Reet gängiges Material, bevor Sumpfland durch Trockenlegung verschwand“, so Kammer und schwärmt von der Nachhaltigkeit des Reet, das so ganz und gar nicht old fashioned sei.

Es wächst schnell, bildet ein wertvolles Biotop, verbessert die Wasserqualität und bietet Tieren ein Zuhause.

Armin Kammer
Zimmerleute fertigten eine Holzkonstruktion als Unterkonstruktion für das Reet.

Nur der abgestorbene Teil des Schilfrohrs wird geerntet und kann ohne weitere Behandlung verarbeitet werden. Das Material ist lange haltbar. Bei Reetdächern in der Regel zwischen 25 und 40 Jahre, danach wandert es auf den Kompost. Mit einer noch deutlich längeren Haltbarkeit rechnet Kammer für das Reet auf dem Berg, denn die organischen Prozesse seien deutlich verlangsamt, die Feuchtigkeitsbelastung geringer als z.B. an der norddeutschen Küste. Lediglich das Tauwetter könnte dort einmal im Jahr dem Reet zusetzen. „Der Berg ist für das Reet ein Superstandort“, betont Kammer.

Die Holzkonstruktion wurde mit einem Helikopter auf den Berg geflogen.

Handwerker bekleiden das Holzgerüst in zwei Wochen mit Reet

Gewöhnlich nur etwa drei Monate, Juli bis September, lässt das Wetter Bauarbeiten in dieser hochalpinen Region zu. In einer Werkhalle in Brand/A fertigten Zimmerleute so im Sommer 2019 eine etwa dreieinhalb auf sechs Meter große und bis zu vier Meter hohe Holzunterkonstruktion als Unterkonstruktion für das Reet, die per Helikopter auf den Berg geflogen wurde. Das Reet selbst, ein kurzhalmiges Schilf, kam vom Neusiedler See. Kammer: „Das meiste Reet kommt heute allerdings aus der Türkei und Rumänien. Dort gibt es noch große Anbaugebiete.“ Spezialisierte Reet-Handwerker aus Berlin-Brandenburg und von der Nordseeinsel Amrum verarbeiteten das Material dann vor Ort. Knapp zwei Wochen dauerte die Bekleidung des Untergerüsts. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Der Alpenverein und Armin Kammer mit seinem Team sind zufrieden und hoffen insgeheim, dass das Bauen mit dem „Abfallprodukt“ Reet wieder modern wird.

Neues Projekt "Notbiwak" ist in Planung

Noch gibt es kein Folgeprojekt mit Reet, aber mit dem Alpenverein. „Es gibt immer Bedarf an kleinen Raumeinheiten für Schlafräume mit Sanitärzellen“, erläutert Kammer. „Cocoon“ heißt das neue Projekt, bei dem im Flachland komplett gefertigte Notbiwaks dann per Helikopter auf den Berg gesetzt werden. Sechs Personen sollen in den 2.50 auf 2.50 Meter großen Biwaks Schutz finden.

Armin Kammer und Anke Wollbrink

Fakultät 1 Architektur und Stadtplanung, Universität Stuttgart
Institut für Baustofflehre, Bauphysik, Gebäudetechnologie und Entwerfen

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