Studioaufnahme des Bürgerrats "Deutschlands Rolle in der Welt" im Februar 2021.

Wie Bürgerdialoge politisch etwas bewirken

18. März 2021, Nr. 23

Forschende der Universität Stuttgart untersuchen in EU-Projekt EUComMeet die Erfolgsfaktoren partizipativer und deliberativer Prozesse
[Bild: Mehr Demokratie e.V./flickr]

Bürgerbeteiligung ist en vogue, wenn es gilt, den Klimawandel, die Flüchtlingspolitik oder auch die Sanierung des örtlichen Krankenhauses zu verhandeln. Doch welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit Bürgerdialoge tatsächlich dazu beitragen, gesellschaftliche Polarisierung zu verringern und Politiker*innen und Bürger*innen einander näherzubringen? Das untersuchen Forschende der Universität Stuttgart gemeinsam mit Kolleg*innen aus sechs weiteren Ländern im Rahmen eines neuen EU-Projekts mit dem Titel EUComMeet.

Der Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“, bei dem rund 150 ausgeloste Teilnehmende in zehn Sitzungen über die Zukunft der Demokratie in Deutschland diskutierten, stand unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, und die Ergebnisse werden in Form eines Gutachtens am 19. März 2021 dem Deutschen Bundestag vorgelegt. Weitaus weniger Wirkungskraft entfaltete der paneuropäische Bürgerdialog „Europolis“ im Vorfeld der Europawahlen 2009. Damals diskutierten 348 Bürger*innen aus allen 27 Mitgliedsstaaten der EU in Brüssel ein Wochenende lang über Migrationspolitik und Klimawandel. Doch trotz des enormen Aufwands von 10 Millionen Euro und sehr guter Organisation war die Reaktion der politischen Eliten quasi null. „Ob ein Bürgerdialog politisches Handeln bewirkt und zudem, zum Beispiel durch die sozialen Medien, Strahlkraft in die Gesellschaft hinein entfalten kann, hängt nicht nur von der Qualität der Diskussionsprozesse ab, sondern auch von anderen Faktoren wie der politischen Unterstützung oder der Vernetzung“, erklärt Prof. André Bächtiger vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. „Welche Faktoren das genau sind, wollen wir in dem Projekt EUComMeet genauer analysieren.“

Politisch hoch wirksame Beispiel-Dialoge

Zusammen mit Institutskollegin Dr. Eva-Maria Trüdinger und der Doktorandin Seraphine Arnold sowie Partnern von der University of British Columbia in Vancouver (Kanada) und der Plattform für demokratische Innovationen Participedia erforscht der Sozialwissenschaftler, unter welchen Bedingungen Bürgerforen politische und gesellschaftliche Wirkungen erzielt haben und unter welchen Umständen nicht-beteiligte Bürger*innen Empfehlungen von dialogischen Bürgerbeteiligungsverfahren als legitim erachten. Der Blick ist dabei nicht nur auf die Bürgerdialoge „Deutschlands Rolle in der Welt“ und „Europolis“ gerichtet, sondern unter anderem auch auf hoch wirksame Veranstaltungen wie die Bürgerräte in Irland in den 2010er-Jahren zur Heirat gleichgeschlechtlicher Paare und zur Legalisierung der Abtreibung. „Das waren Bürgerräte, die engstens verkoppelt waren mit Politik“, sagt Bächtiger.

Um die Bürgerdialoge zu analysieren, bringt das Forschungsteam avancierte experimentelle Umfrage-Designs zum Einsatz, die auf Vorarbeiten im neuen ZIRIUS Participation and Deliberation Lab an der Universität Stuttgart sowie einem laufenden DFG-Projekt zu Legitimitätswahrnehmungen von Bürger*innen zu dialogischen Beteiligungsverfahren (unter der Leitung von Prof. Dr. André Bächtiger) zurückgreifen. Insgesamt will EUComMeet mit einer proaktiven Forschungsstrategie neue und innovative Wege entwickeln, wie Bürger*innen, Politiker*innen und Interessenvertreter*innen aus ganz Europa miteinander besser ins Gespräch kommen.

Über das Projekt EUComMeet

Das Projekt EUComMeet (Developing Participatory Spaces using a Multi-stage, Multi-level, Multi-mode, Multi-lingual, Dynamic Deliberative approach - M4D2) wird von der Europäischen Union im Rahmen des Programms Horizont 2020 mit rund 3 Millionen Euro gefördert und an der Universität Siena (Italien) koordiniert. Zu dem Konsortium gehören interdisziplinäre Organisationen mit großer Erfahrung in der Gestaltung, dem Management und der Analyse von deliberativen und partizipativen Prozessen: Agencia Estatal Consejo Superior de Investigaciones Cientificas (Spanien); Åbo Akademi (Finnland); Universität Warschau (Polen); Dublin City University (Irland); Universität Stuttgart (Deutschland); Université Paris 8 - Vincennes Saint-Denis (Frankreich); Mission Publiques (Frankreich); Tuscan Organisation of Universities und Research 4 Europe (Belgien). Dazu kommen als Partner mit umfangreichem Hintergrundwissen über deliberative Prozesse das Collegio Carlo Alberto (Italien), die University of British Columbia (Kanada) und das Center for Deliberative Democracy an der Stanford University (Kalifornien).

Fachlicher Kontakt:

Prof. Dr. André Bächtiger, Institut für Sozialwissenschaften, Abteilung für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung, Tel. +49 711 685-81450, E-Mail 

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