Fingerartige Ausbreitung des gelösten CO2 im Wasser der Testeinrichtung.

Wachstumsschub für Höhlen

27. Dezember 2021, Nr. 96

Forschende der Universität Stuttgart entwickeln neue Ideen zur Entstehung von Karsthöhlen und liefern elementare Ergänzung zu bestehenden Theorien
[Bild: Universität Stuttgart / IWS, Pascal Bürkle]

Die Entstehung von Karsthöhlen ist eigentlich hinreichend erforscht. Eine Gruppe um Prof. Holger Class, Forschungsgruppenleiter im Sonderforschungsbereich 1313 der Universität Stuttgart, unterstützt durch das Deutsche GeoForschungsZentrum Potsdam und den Höhlen- und Heimatverein Laichingen, verfolgt aber eine neue Idee, die bisherige Theorien maßgeblich ergänzen kann. In einem kürzlich im Fachjournal Water Resources Research erschienen Artikel konnte das mit Experimenten und numerischen Simulationen untermauert werden.

Zwölf Schauhöhlen gibt es auf der Schwäbischen Alb, mit Tropfsteinschmuck und ergiebigen Karstquellen, die am Fuße der Alb entspringen. Die Höhlen entstehen, wenn Mikroorganismen organisches Material zu Kohlenstoffdioxid (CO2) veratmen, das mit dem Wasser der Niederschläge eine schwache Kohlensäure bildet. Trifft diese auf Kalkstein, dann löst dieser sich binnen Stunden auf. Im Sommer erzeugen die Mikroorganismen mehr, im Winter weniger CO2. Dadurch ergeben sich Schwankungen des CO2-Gehalts in der Boden-/Höhlenluft und damit an der Grenzfläche zum Karstwasser.

Die Hypothese

Der Laichinger Höhlenforscher und Geologe Harald Scherzer vermutete jedoch schon länger, dass es noch einen weiteren Prozess geben muss, der die unterirdische Kalklösung antreibt. Seine Hypothese: Bodenluft, die vom Erdreich mit dem Höhlenwind in die Tiefe geführt wird, reichert das Grundwasser mit zusätzlichem CO2 an und verleiht Höhlen in großer Tiefe einen „Wachstumsschub“. Diesen Ansatz, der die Theorien zur Entstehung von Höhlen elementar ergänzen könnte, griff Prof. Holger Class vom Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung der Universität Stuttgart mit seiner Gruppe auf. Der Forschungsgruppenleiter im Sonderforschungsbereich (SFB) 1313 thematisierte zusammen mit Master-Student Pascal Bürkle, dass das dichtegetriebene Einlösen von CO2 im Karst, das nicht auf strömendes Wasser angewiesen ist, bisher in der Literatur noch nie behandelt wurde und beleuchtete die physikalischen Prozesse mittels Experimenten und numerischen Simulationen neu. Insbesondere untersuchten sie die CO2-Dynamik im Wasser sowie die Bedingungen, unter denen diese stattfindet. Zudem ermittelte die Gruppe die Höhe der Eintragsraten bei Einlösen von CO2 am Karstwasserspiegel sowie die Relevanz dieses Prozesses für die Karsthydrologie, die Geomorphologie oder die Speläologie. Erstmals wurden die Arbeiten nun einem strengen wissenschaftlichen Peer-Review Prozess unterzogen und im renommierten Fachjournal Water Resources Research publiziert, wobei Bürkles Masterarbeit ein zentraler Bestandteil der Publikation war.

Versuchseinrichtung in der Laichinger Tiefenhöhle

Das Experiment – Das Unsichtbare sichtbar machen

Für die Laichinger Tiefenhöhle wurde ein Versuchsaufbau konzipiert und im April 2021 installiert, der zuvor in der Versuchshalle des Instituts für Wasser- und Umweltsystemmodellierung der Universität Stuttgart (IWS) aufgestellt war. Er besteht aus einer mit Wasser gefüllten und nach oben geöffneten Säule, die als Modell für einen unterirdischen, fiktiven Höhlensee dient. Bei Atmosphärendruck löst sich CO2, dessen Konzentration am Wasserspiegel auf die Verhältnisse wie in einer Höhle eingestellt wurde, in das Wasser der Säule ein. Das Wasser wird dadurch etwas schwerer und verteilt sich fingerartig nach unten (sog. Fingering). So konnte die CO2-Konzentration im Wasser in verschiedenen Tiefen über die Zeit gemessen und der Anstieg der Konzentrationen im Wasser anschließend mit Simulationsergebnissen verglichen werden.

Dynamische Darstellung der CO2-Einlösung

00:06

Versuchsaufbau: Der Versuch zeigt Wasser (blau) und gelöstes CO2 (grün). Der Vorgang, bei dem sich CO2 in Wasser auflöst, wird "Fingering" genannt.

„Mit dem Experiment wollen wir den Prozess nachstellen, den wir für die Höhlenentstehung für wichtig halten und hoffentlich zeigen, dass der Transportweg des CO2 über die Bodenluft bzw. Höhlenluft auch einen wesentlichen Beitrag liefern kann“, sagen Holger Class und Pascal Bürkle. Zusätzlich berechneten die Forschenden, inwieweit die Strömung des Grundwassers die gelöste CO2-Konzentration und die Eintragsraten am Wasserspiegel beeinflusst.

Interdisziplinäre Zusammenarbeit

Förderlich war in diesem Zusammenhang die Verbindung zu Arbeiten von Prof. Ingrid Kögel-Knabner (TU München), die sich mit der Bindung und Freisetzung von CO2 im Boden beschäftigen. Weitere interessante Fragestellungen ergeben sich mit Blick auf den Klimawandel, denn die Aktivität von Mikroorganismen hängt stark von Temperatur und Bodenfeuchte ab, was dann sowohl für die Speicherung von CO2 im Boden als auch für die Verkarstung potenziell eine Rolle spielt. Last but not least kommen die Ergebnisse von Class‘ Forschung auch dem Sonderforschungsbereich (SFB) 1313 „Grenzflächengetriebene Mehrfeldprozesse in porösen Medien. Strömung, Transport und Deformation“ an der Universität Stuttgart zugute, wo Ausfällung und Auflösung von Salz/Kalk in porösen Medien einen der „Vision Topics“ darstellt.

Fachlicher Kontakt:

Prof. Dr. Holger Class, Universität Stuttgart, Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung, Tel. +49 711 685 64678, E-Mail 

„On the role of density-driven dissolution of CO2 in phreatic karst systems”, Holger Class, Pascal Bürkle et al. Water Resources Research, Dezember 2021, https://doi.org/10.1029/2021WR030912

Medienkontakt

 

Hochschul­kommunikation

Keplerstraße 7, 70174 Stuttgart

Zum Seitenanfang