Der atemberaubende Fortschritt bei der Entwicklung Künstlicher Intelligenz (KI) wirft eine Vielzahl an Erwartungen und Unsicherheiten auf. Eine Auseinandersetzung mit einem Thema dieser Größenordnung erfordert mitunter unkonventionelle Wege. Auf der Veranstaltung Science Cypher am Samstag, 22. April im Kunstmuseum Stuttgart diskutierten Forschende und Graffiti-Künstler*innen über Chancen und Grenzen von KI. Kunstwerke, die im Austausch von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Kunstschaffenden entstanden waren, standen dabei im Mittelpunkt. Die Science Cypher war ein Beitrag des Exzellenzclusters "Daten-integrierte Simulationswissenschaft“ (SimTech) der Universität Stuttgart zur Ausstellung "SHIFT. KI und eine zukünftige Gemeinschaft".
Cypher steht im Hip-Hop für einen Freestyle, bei dem Rapperinnen und Rapper nacheinander ihr Können zeigen. Und der Titel "Science Cypher" passte perfekt zur Veranstaltung im Kunstmuseum: vom prägnanten Graffiti des Künstlers Dingo (@dingobabuschart), das am Eingang Neugierige ins Foyer lockte, über den lockeren und ungezwungenen Austausch zwischen Forschenden, Street-Artists und Besucherinnen und Besuchern bis zum Rap-Konzert zum Abschluss.
Blickfang waren große Bilder, die rund um das Podium aufgestellt waren – die Ergebnisse der kreativen Auseinandersetzung von Street-Art-Künstler*innen mit Themen des Exzellenzclusters SimTech. Im Vorfeld der Veranstaltung hatten sich dazu jeweils eine Wissenschafterin oder ein Wissenschaftler mit einem Graffiti-Artist zusammengefunden. Entstanden sind ungewöhnliche Perspektiven auf die komplexen Fragestellungen der Forschenden und spannende Exponate. Etwa das des Kunst-Wissenschaft-Tandems aus Johannes Kässinger, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Parallele und Verteilte Systeme (IPVS) und Doktorand im Exzellenzcluster SimTech der Universität Stuttgart, und der Künstlerin Joe Fjörgyn (@joefjoergyn). Der verkabelte, rot-gelbe angewinkelte Arm mit blinkenden Fingern war die einzige Skulptur neben den Bildern. Inspiration dafür war eine von Kässingers Team entwickelte Augmented Reality-Anwendung. Diese stellt Muskelbewegungen in Echtzeit dar, wie der Forscher per Tablet demonstrierte, auf dessen Monitor das Echtbild von Joes Armbewegung von einer grafisch dargestellten Kontraktion des Bizeps überlagert wurde.
In gemeinsamen Sitzungen hatte Joe einen Gipsabdruck von Kässingers Arm genommen und mit ihm über seine Arbeit gesprochen. "Die Skulptur visualisiert den Aufwand, der hinter dem Projekt steckt, und die Kabelverbindung zeigt eine Art von Abhängigkeit – wenn wir das Kabel ziehen würden, würde die zusätzliche Intelligenz im Hintergrund nicht funktionieren", so die Interpretation Kässingers, der betonte: "Der Prozess, aus einem Forschungsthema ein Kunstwerk zu machen, war schon etwas sehr Besonderes."
Wie wird KI-Forschung wahrgenommen?
Mit Blick auf die entstandenen Kunstwerke diskutierten die Forschenden und Kunstschaffenden in Gesprächsrunden verschiedene Fragestellungen rund um KI sowie Perspektiven darauf in Wissenschaft, Gesellschaft und Kunst.
Prof. Mathias Niepert, Abteilungsleiter am IPVS und Projektleiter im SimTech-Cluster, beschäftigt sich mit der Frage, ob Generative Al wie ChatGPT und DALL-E nützliches Werkzeug oder eher Gefahr für die Gesellschaft sind. KI bringe sowohl Chancen als auch Risiken, so Niepert. Intelligente Systeme könnten menschliche Expertise ergänzen und etwa bei der Diagnose von Krankheiten helfen, aber auch zu fehlerhaften Entscheidungen und einer leichteren Verbreitung von Desinformationen und Datenmissbrauch führen. "Es ist wichtig, Chancen und Risiken sorgfältig abzuwägen und Vorkehrungen zu treffen, um die Entwicklung und Anwendung verantwortungsvoll zu gestalten", sagte Niepert. "Unsere Forschung beschäftigt sich damit, Modellen Grenzen aufzuweisen und sie berechenbarer und erklärbarer zu machen." Das inspirierte den Künstler Tao (@tao_artwork) zu einem Bild eines meditierenden Maschinenwesens, über dessen Schädel ein Herz schwebt, beobachtet von einer Kamera. Das Bild drücke Fragen aus wie: "Kann die KI irgendwann etwas wie Gefühle empfinden? Inwieweit können uns diese Systeme ähnlich sein?", so Niepert. Die Kamera zeige zudem negative Aspekte – etwa, dass KI die Überwachung erleichtern könne. Das verdeutliche das Spannungsfeld, in dem man sich derzeit befinde: "Wie KI in Zukunft eingesetzt werden und wie die Gesellschaft darauf reagiert, diese Fragen sind auch für uns Experten offen."
"Wie holen wir unser Gehirn wieder von der KI zurück?", diese Frage bringt für Dr. Luiz Chamon, SimTech/ELLIS-Nachwuchsgruppenleiter, das Werk "seines" Graffiti-Artists Nuri (@nuriliebtfarben) auf den Punkt: ein gut gelaunter Daniel Düsentrieb, verkabelt mit einem Gehirn, das einem Roboter entnommen wurde. "Ich erforsche, wie Kl aus Beispielen und Daten lernen und gleichzeitig Anforderungen wie Robustheit, Fairness und Sicherheit erfüllen kann. Wie können wir unsere Intelligenz in den Fokus rücken und die KI auf eine Art, die zu uns passt, weiterentwickeln?"
Mit KI Schiffe und autonome Autos steuern
KI in der Fortbewegung ist das Thema von Professor Steffen Staab, Co-Sprecher des Exzellenzclusters, Cyber Valley Professor, Abteilungsleiter am IPVS und Co-Sprecher des Stuttgart Research Focus IRIS. Wie bewegen sich etwa Schiffe fort und wie reagieren sie auf Steuerung und äußere Einflüsse wie Wellen und Wind? KI mache solche Vorhersagen möglich, allerdings seien derzeitige Machine-Learning-Systeme meistens Black Boxes. "Wir untersuchen, wie physikalische Modelle und maschinelles Lernen kombiniert werden können, um Aussagen über die Sicherheit zu treffen", erklärte Staab. Ein Anwendungsfeld sei autonomes Fahren. "Wie kann vorhandenes Wissen genutzt werden, um Vorhersagen über Verkehrssituationen zu treffen?" Etwa um einem selbstfahrenden Fahrzeug zu vermitteln, dass nahe einer Schule mit Kindern zu rechnen ist. Das Graffiti dazu: Zwei metallische Raubkatzenköpfe mit gebleckten Reißzähnen. Seine Assoziation dazu sei Kraft und Mechanik in Kombination mit organischen Formen gewesen, so der Graffiti-Writer Kosmik (@kosmik_one).
Wissenschaftler Staab sagt zu dem Bild: "Ich lerne aus dieser Umsetzung, dass mit dem Thema auch eine gewisse Aggressivität, vielleicht auch Gefährlichkeit, verbunden werden kann, die ich selbst gar nicht damit verbinde. Das hilft mir nicht bei meiner Forschung – aber man kann dann nochmal darüber nachdenken, wie es möglicherweise das Publikum empfindet, wenn wir intelligente Systeme bauen, die Bewegung automatisieren. Hat das für manche etwas Bedrohliches?"
KI in der Bildung
Maria Wirzberger, Juniorprofessorin für Lehren und Lernen mit intelligenten Systemen am Institut für Erziehungswissenschaft (IfE), Sprecherin des Stuttgart Research Focus IRIS und Forscherin im Exzellenzcluster richtet in ihrer Arbeit den Fokus darauf, was ein Mensch benötigt, um beispielsweise gut lernen zu können. "Wie kann ich Technik so gestalten, dass sie unsere Bedarfe optimal aufgreift?" Dazu müssten viele verschiedene Disziplinen zusammenarbeiten, etwa Bildungsforschung, Psychologie und Informatik. "Man muss erst einmal wissen, wie der Mensch funktioniert. Zum Beispiel, an welchen Signalen ich ablesen kann, ob sich jemand beim Lernen besonders anstrengen muss, etwa an einem beschleunigten Herzschlag. Intelligente Systeme könnten anhand solcher Signale reagieren und beispielsweise das Lerntempo reduzieren."
Dass das ihre Forschung repräsentierende Graffiti von Punky (@punkyards) sehr viele Details zeigt, spiegele das Thema KI in der Bildung sehr gut wieder, sagte Wirzberger. "Es ist ein Thema mit vielen Facetten, das bunt und neu ist, das viel Dynamik und Potenziale hat, etwa wenn es darum geht, unterstützungsbedürftige Personen abzuholen. Aber es gibt auch Herausforderungen auf unterschiedlichen Ebenen, etwa beim Datenschutz."
"Was wollen wir überhaupt an die KI auslagern?"
Kritische Perspektiven zum Einsatz Künstlicher Intelligenz wurden insbesondere aus den Reihen der Kunstschaffenden deutlich: Zwar könne KI künstlerisches Schaffen partiell ergänzen, etwa bei vorbereitenden Skizzen für Graffiti. Aber: "Manchmal ist das Unbequeme auch nötig, um weiter zu kommen", betonte der Graffiti-Writer Dave (@dosendave). "Vieles will man schließlich gar nicht ersetzen, weil es dem Menschen etwas gibt, Kunst zu schaffen", so Joe, die Schöpferin des eingangs erwähnten Arms und des dazu gehörigen Bildes, die verdeutlichte: "Der Prozess des Zufälligen lässt sich nicht berechnen", etwa, wenn beim Sprayen der Wind Farbe verwehe und die entstehenden Schlieren Teil des Werks werden. "Die Seele und Energie eines Künstlers, die in einem Werk stecken, kann man nicht ersetzen", brachte es Dave auf den Punkt.
"Wir kommen nur auf steinigen Pfaden zu den Sternen", stimmte Bildungsforscherin Wirzberger zu. Die Verbindung zwischen solchen grundlegenden Gedanken und der Forschung sei: "Wir müssen uns überlegen, was wir überhaupt auslagern wollen. Wo verlieren wir vielleicht Fertigkeiten, wenn wir sie auslagern?" Es gehe auch darum, kluge Regulierungen zu finden. Sie betonte: "Hinterfragen und kritisch bleiben – das ist unsere originär menschliche Leistung. Und das dürfen wir nicht verlieren."