Das Problem gibt es im Großen wie im Kleinen, und schon den alten Ägyptern machte es zu schaffen. Doch während Physiker die Reibung etwa eines Steinquaders, den Arbeiter zu einer Pyramide ziehen, bereits seit längerem gut verstehen, können sie Reibung in mikroskopischen Dimensionen erst jetzt im Detail erklären. Forscher der Universität Stuttgart und des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme ebenfalls in Stuttgart haben in einem ausgeklügelten Experiment eine Lage regelmäßig angeordneter Kunststoffkügelchen über einen künstlichen Kristall aus Licht gezogen. Auf diese Weise konnten sie im Detail beobachten, wie die Schicht der Kügelchen über den Lichtkristall glitt. Anders als man intuitiv vermuten könnte, bewegen sich die Kügelchen dabei nicht alle gemeinsam. Vielmehr gleiten immer nur einige von ihnen, während die anderen auf ihren Plätzen sitzenbleiben. Diese Beobachtung bestätigt theoretische Voraussagen und erklärt auch, warum die Reibung zwischen mikroskopischen Oberflächen von ihrer atomaren Struktur abhängt.
Reibung bringt der Wirtschaft immense Verluste, ganz ohne Reibung liefe aber gar nichts mehr: Auf etwa acht Prozent des Bruttoinlandprodukts – das sind in Deutschland rund 200 Milliarden Euro – werden die Kosten geschätzt, die etwa durch den Verschleiß aufeinander reibender Maschinenteile verursacht werden. Und dass aneinander reibende Erdplatten in manchen Ländern durch Erdbeben schwere Schäden verursachen, ist dabei noch nicht berücksichtigt. Wenn jedoch Reifen oder Schuhsohlen nicht auf dem Boden haften würden, kämen weder Räder noch Füße voran. Die Faktoren, die bei diesen Beispielen für Reibung zwischen großen Objekten dominieren, haben Physiker bereits seit einiger Zeit recht gut verstanden. Entscheidend sind dabei nämlich die unzähligen kleinen Unebenheiten, die es auf jeder Oberfläche gibt. Sie bewirken, dass sich zwei ausgedehnte Oberflächen immer nur an einzelnen Punkten berühren.
Ganz anders ist das, wenn zwei mikroskopisch kleine Flächen aufeinander reiben. Sie berühren sich – wenn sie entsprechend akkurat gearbeitet sind – mit allen Atomen ihrer Oberfläche. Wie Reibung auf dieser atomaren Ebene stattfindet, haben Stuttgarter Forscher nun erstmals beobachtet. Sie können in ihrem Experiment auch nachvollziehen, warum Oberflächen mit gleicher Struktur stärker aufeinander reiben als solche mit unterschiedlicher Struktur. „Wir schaffen so die Basis, möglichst reibungsarme Mikro- und Nanomaschinen zu konstruieren“, sagt Clemens Bechinger, Professor an der Universität Stuttgart und Fellow des Max-Planck-Instituts für intelligente Systeme.
Verzerrungen der Oberfläche schaffen Bewegung
Sein Team hat aus Laserlicht und elektrisch geladenen Kunststoffkügelchen in einem Wasserbad
ein zweidimensionales Modell für zwei aufeinander reibende Oberflächen geschaffen. Da sich die in
dem Wasser schwebenden Kügelchen elektrisch abstoßen, ordnen sie sich in einer periodisch
geordneten Schicht an. Sie bilden die eine Oberfläche. Die andere Oberfläche erzeugten die Forscher
unter der Schicht der Kügelchen mit intensiven Laserstahlen. Deren elektromagnetische Wellen
überlagern sie so, dass sich ein Lichtkristall, eine Art optischer Eierkarton bildet. „Die
Verwendung einer durch Licht erzeugten Oberfläche ermöglicht es uns erstmals, die Vorgänge an
reibenden Flächen direkt mit einer Kamera zu beobachten“, sagt Thomas Bohlein, der das Experiment
im Rahmen seiner Doktorarbeit vorgenommen hat. „In Experimenten mit dreidimensionalen Objekten ist
das nicht möglich, weil die Grenzschicht nicht zu sehen ist.“
Zunächst stimmte Thomas Bohlein den Abstand der Mulden in dem optischen Eierkarton genau auf den Abstand der Kunststoffkügelchen ab. Eigentlich könnte man vermuten, dass die Flächen sich ruckartig voneinander lösen und neu ineinander einrasten würden, so als würde man versuchen zwei ineinander sitzende Eierkartons übereinander zu ziehen.
Im Experiment zeigte sich allerdings ein anderer Mechanismus. Als das Team die Kunststoff-Kugeln über die optische Oberfläche zog, fingen nicht alle Kügelchen gleichzeitig an zu rutschen, vielmehr bewegten sich die Partikel nur in einzelnen Bereichen. In diesen Arealen verließen die Kügelchen ihre komfortablen Mulden und rückten zudem ein wenig zusammen. Möglich ist das, weil die Kügelchen, aber auch die Atome in einer Oberfläche nicht wie betoniert nebeneinander sitzen, sondern immer ein bisschen Spielraum haben. Die durch den Zug hervorgerufenen Verzerrungen der Kugel- oder Atomschicht passen dann einfach nicht mehr genau auf die Oberfläche des optischen Kristalls. Das machte es viel einfacher, die Teilchen aus ihren Mulden zu ziehen.
Oberflächen mit unterschiedlichen Strukturen gleiten besser
Während die Forscher an der Teilchenlage ziehen, wandern die gestauchten Zonen durch die
Kugelschicht, wobei sich nur die Teilchen in diesen Zonen aus ihren Mulden lösen können. „Für die
gesamte Lage ist es effizienter, eine Verzerrungszone sukzessive durch die Schicht wandern zu
lassen, als alle Kugeln gleichzeitig von einer Mulde zur nächsten zu bewegen“, sagt Clemens
Bechinger. Die gestauchten Gebiete, die in Richtung der ziehenden Kraft über die optische
Oberfläche wanderten, wurde umso größer, je stärker das Team an der Lage der Kunststoff-Kügelchen
zog.
Im nächsten Experiment schoben die Stuttgarter Physiker die Mulden des optischen Eierkartons etwas enger zusammen, so dass dieser von vorne herein schlechter mit der Anordnung der Kunststoff-Kügelchen übereinstimmte. „Dadurch finden weniger Teilchen einen Platz in einer Mulden, und die Verzerrungszonen lassen sich deutlich einfacher über die Oberfläche bewegen“, sagt Thomas Bohlein.
Dass lokale Verzerrungen – Physiker sprechen hierbei von kinks und antikinks – bei der Reibung zwischen mikroskopischen Oberflächen die entscheidende Rolle spielen, hatten Physiker schon vermutet. „Wir haben diese Veränderungen in der Oberfläche jetzt aber zum ersten Mal experimentell beobachtet“, sagt Clemens Bechinger. „Damit haben wir die theoretischen Vorhersagen über den Reibungsmechanismus in atomaren Dimensionen bestätigt.“
Reibungslos gleitende Oberflächen werden denkbar
Die Stuttgarter Forscher gingen aber noch einen Schritt weiter. Kaum eine Vorstellung hatten
Physiker nämlich, wie eine kristalline auf einer quasikristallinen Oberfläche reibt.
Quasikristalle, für deren Entdeckung Shechtman in diesem Jahr den Chemie-Nobelpreis erhielt, weisen
kleine Bereiche mit einer strengen Ordnung auf. Diese wiederholt sich in größeren Dimensionen aber
nicht regelmäßig wie in einem echten Kristall.
Einen Quasikristall formte Thomas Bohlein nun unter der kristallinen Lage der
Kunststoff-Kügelchen, indem er wiederum die Laserstrahlen geschickt überlagerte. In den Mulden auf
der quasikristallinen Oberfläche kamen die Kunststoff-Kügelchen nur noch selten zu liegen, und die
Reibung reduzierte sich verglichen mit zwei kristallinen Oberflächen drastisch. „Unser Experiment
liefert den Beweis, dass die Reibung auf quasikristallinen Oberflächen unter anderem deshalb so
gering ist, weil die Strukturen nicht zueinander passen“, sagt Thomas Bohlein.
Die Erkenntnisse, wie Reibung im Mikro-Maßstab funktioniert, könnten auch praktische
Konsequenzen haben. „Vor allem die Kombination einer kristallinen und einer quasikristallinen
Oberfläche bietet die Möglichkeit die Reibung in Mikro- und Nano-Systemen zu reduzieren“, sagt
Clemens Bechinger. „Denkbar ist aber auch, Oberflächen so zu gestalten, dass diese nahezu
reibungslos übereinander gleiten.“
Kontakt:
Prof. Clemens Bechinger
Link vorhanden
Originalveröffentlichung:
Thomas Bohlein, Jules Mikhael und Clemens Bechinger
Observation of kinks and antikinks in colloidal monolayers driven across ordered surfaces
Nature Materials, published online: 18. Dezember 2011; DOI: 10.1038/NMAT3204
