
Der Materialwissenschaftler Markus Buehler ist Dekan der Fakultät Bau- und Umweltingenieurwesen am weltberühmten Massachusetts Institute of Technology (MIT) und hat dort die renommierte McAfee-Professur inne. Im Interview stellt der Absolvent der Universität Stuttgart seinen Forschungsbereich vor – und zeigt auf, wie wichtig es für die Wissenschaft ist, sich über die Grenzen von Status, Institutionen oder Kulturen hinwegzusetzen.
Herr Prof. Buehler, Ihre Forschung verbindet sich mit Schlagworten wie ‚Nanotechnologie an der Grenze zur Biologie‘, ‚Proteine wie Spinnweben‘ oder ‚Nachwachsender Stahl‘. Was verbirgt sich dahinter?
Im Kern geht es bei unserer Forschung darum, neue Materialien zu erfinden und herzustellen. Unser großes Ziel am MIT ist es dabei, Nanotechnologie im täglichen Leben nutzbar zu machen, und zwar insbesondere für Materialien und Produkte, die in großen Mengen hergestellt werden können. Dabei spielt die Computersimulation eine große Rolle. Durch diese Arbeit können wir Atom für Atom ein neues Material im Computer virtuell optimieren und später im Labor herstellen. Letztlich ist dies der Kern der Vision des Physikers Richard Feynman aus den 1950er-Jahren, den gesamten Inhalt der Encyclopædia Britannica auf der Spitze einer Nadel zu speichern.
Diese Vision beinhaltete auch die Manipulation von Materie mit atomarer Auflösung, um neue Phänomene zu erzeugen. Heute sind wir in der Lage, das zu erreichen. Eine der großen Herausforderungen ist es dabei, Modelle zu entwickeln, die von der Skala eines Atoms bis hin zur Struktur eines Bauteils oder Produkts über alle Zwischenstufen hinweg die Eigenschaften beschreiben, sogenannte mesoskopische Skalen, die das Verbindungsglied zwischen der Nano- und der Makroskala darstellen.
Viele unserer Forschungsarbeiten beschäftigen sich mit biologischen Materialien wie Spinnenseide oder Knochen. Diese Materialien sind Beispiele dafür, wie die Natur multiskaliges Design verwendet, um besondere Materialeigenschaften zu erreichen, obwohl die zugrunde liegenden chemischen Bausteine nicht ideal sind. Auf diese Weise lassen sich zum Beispiel sehr harte und zähe Materialien herstellen, die aus dem gleichen chemischen Baustein bestehen wie Gelatine. Beispiele dafür sind die Sehnen in unserem Körper, Spinnenseide, die stärker ist als Stahl oder auch bestimmte Teile von Meereswürmern.
Was sind Ihre nächsten Forschungsziele?
Die Natur ist für uns Ingenieure eine unendliche Quelle der Inspiration. Aber wir kopieren die Natur nicht nur, sondern versuchen, es noch besser zu machen. In der Zukunft sehe ich interessante Möglichkeiten, nun auch „Leben“ in Materialien zu integrieren, zum Beispiel durch Erkenntnisse in der synthetischen Biologie. Hier arbeiten Biologen, Chemiker und Ingenieure zusammen, um biologische Systeme zu erzeugen, die in der Natur nicht vorkommen. So suchen wir zum Beispiel nach neuen Strategien, um aus nachhaltigen Materialien wie Proteinen, Holz oder anderen nachwachsenden Rohstoffen neue Produkte herzustellen, die heute mit großem Energieaufwand vorwiegend auf petrochemischen Weg hergestellt werden. Die Herstellung von Stahl und Zement zum Beispiel gehört zu den Prozessen, bei denen weltweit sehr viel CO2 produziert wird.
Mit dem Einsatz neuer Materialien könnte man diese Emissionen deutlich verringern. In meiner Funktion als Leiter der Abteilung Bau- und Umweltingenieurwesen beschäftige ich mich intensiv mit Strategien zur Lehre und Forschung. Daraus haben wir eine neue Ausrichtung der Fakultät entwickelt. Unsere Strategie ist auf ‚Big Engineering‘ ausgerichtet, die Integration von verschiedenen Disziplinen spielt dabei eine sehr wichtige Rolle.
Sie sind 2005 als damals noch sehr junger Wissenschaftler in die USA gegangen. Wie unterscheidet sich die Forschung dort von der in Deutschland?
Ich hatte in meiner Zeit am damaligen Max- Planck-Institut (MPI) für Metallforschung, dem heutigen Max-Planck-Institut für Intelligente Systeme, und an der Universität Stuttgart ein sehr gutes Umfeld – diese Periode hat mich sehr geprägt. Beste Bedingungen ergeben sich immer dann, wenn hochtalentierte Leute Voraussetzungen schaffen, die es jungen Wissenschaftlern erlauben, verschiedene Arbeitstechniken und Perspektiven kennenzulernen und Exzellenz zu entfalten. Das MPI war und ist ein starkes Zentrum der Materialwissenschaften. Wir hatten ständig Wissenschaftler aus der gesamten Welt zu Besuch und ich hatte das große Glück, ganz besondere Menschen als Mentoren kennenzulernen. Das System und die Kultur am Caltech, wohin ich nach meiner Dissertation als Postdoc gegangen bin, und später am MIT, sind jeweils sehr unterschiedlich.
Am Caltech fand ich mich in einem Büro im zweiten Untergeschoss wieder, das ich mir mit anderen Postdocs und Studenten teilen musste. Also haben wir geschaut, möglichst viele Besprechungen in den Coffee-Shop zu verlegen und die kalifornische Sonne zu genießen. Überhaupt haben hier Studierende und Wissenschaftler viel und eng zusammengearbeitet, über die Grenzen von Herkunft oder Status und über verschiedene Fakultäten hinweg. Funding, das Aufbringen von Drittmitteln, war immer ein großes Thema – hier habe ich eine Menge gelernt. Die Methode, verschiedene Ideen in Projektvorschläge einzuarbeiten, erfordert Teamarbeit und führt in der Regel zu einem besseren Resultat.
Das MIT zählt zu den besten Technischen Hochschulen der Welt. Was fasziniert Sie dort besonders?
Am MIT habe ich eine unbefristete Professorenstelle angetreten und ein eigenes Team aufgebaut. Ich habe sehr viel Zeit damit verbracht, mich mit den besten Wissenschaftlern auszutauschen, aus ihren Erfahrungen zu lernen und dann meine eigenen Visionen und Pläne zu entwickeln. Damals wie heute ist die größte Freude die Zusammenarbeit mit exzellenten Studenten, Postdocs und Kollegen am MIT. Es ist eine große Bereicherung, dass wir in der Gemeinschaft, in der wir an einer gemeinsamen Vision arbeiten, so vielfältig sind. Anders wäre unser Erfolg nicht möglich!
Die interdisziplinäre Arbeit ist hier sehr wichtig. Wir versuchen ständig, neue Ansätze zu finden und umzusetzen. Das lässt sich nur dann machen, wenn Leute aus verschiedenen Bereichen Hand in Hand arbeiten. Am MIT pflegen wir eine Kultur der offenen Türen. Es spielt also keine Rolle, ob man ein Studienanfänger oder Senior Professor ist, um den Austausch zu suchen. Nicht der Rang zählt oder das Erreichte, sondern das Potenzial. Das war für mich als junger Wissenschaftler am MIT wirklich großartig. Ich konnte meine Ideen realisieren, verfeinern und von den Kollegen profitieren, die schon mehr Erfahrung hatten. Nicht selten kamen die besten Ideen und innovative Konzepte aus der Reihe der Studenten. Wenn jemand eine gute Idee hat und andere davon überzeugen kann, dann ist es selbstverständlich, gemeinsam an der Umsetzung zu arbeiten. Ich habe mich als Einwanderer in den USA willkommen gefühlt und immer gespürt, dass mir alle Möglichkeiten offen stehen. Auf der anderen Seite hat die individuelle Verantwortung in der amerikanischen Kultur ein starkes Gewicht, auch an der Universität.
Was kann das deutsche Wissenschaftssystem vom amerikanischen lernen?
Ich denke, ein sehr wichtiger Teil eines erfolgreichen Forschungs- und Lehrbetriebs sind die Menschen, die mit Passion und großem Engagement an ihren Zielen arbeiten – im Team und über disziplinäre Grenzen hinweg. Umgekehrt können auch die amerikanischen Universitäten von Deutschland lernen, etwa was die enge Zusammenarbeit mit der Industrie angeht, die insbesondere an der Universität Stuttgart hervorragend ist.
Die USA erleben einen politischen Umbruch, der auch die Hochschulen tangiert. Im April fand ein ‘March for Science‘ statt, für den sich auch deutsche Wissenschaftsorganisationen engagierten. Wie erleben Sie den Wandel?
Jede neue Administration bringt Veränderungen mit sich, besonders wenn eine starke Neuorientierung stattfindet. Ich denke, es ist wichtig, das alle Seiten offen miteinander kommunizieren und neue Wege finden, um Positives zu bewirken. Deutschland könnte zum Beispiel dazu beitragen, dass die Produktion in den USA vielleicht wieder eine größere Rolle spielt – und darin ist Stuttgart ja führend. Auch das Interesse am deutschen Ausbildungsmodell eröffnet Möglichkeiten zum Dialog. Der Austausch darf nicht abreißen, es müssen Gemeinsamkeiten aufgebaut und wiederbelebt werden. Ich bin sicher, dass die transatlantische Verbindung stark bleiben und weiterhin die Grundlage für viele neue Entwicklungen sein wird.
Das MIT steht für eine Kultur der Exzellenz, ein Wert, um den auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft – Stichwort Exzellenzstrategie – gerungen wird. Sehen Sie in dieser Initiative eine passende Strategie, um die internationale Wettbewerbsfähigkeit des Wissenschaftsstandorts Deutschland zu erhöhen?
Ja, ich denke die „Exzellenzstrategie“ ist eine gute Strategie. Selbstverständlich muss die Finanzierung nachhaltig gesichert sein und der Fokus muss darauf liegen, Toptalente zu binden. In den USA ist die Rekrutierung von Spitzenprofessoren fast so ähnlich wie die Rekrutierung von Fußballstars in Deutschland, inklusive Transferverhandlungen und Bleibeangeboten. Die besten Köpfe in der Wissenschaft werden nun in der ganzen Welt „gehandelt“. Es ist wichtig für den Standort Deutschland, dabei mithalten zu können und die besten Leute anzuziehen.
Es braucht eine Kultur, die es erlaubt, Individuen mit sehr verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen, die an einem gemeinsamen Ziel arbeiten.
Markus J. Buehler, Dekan der Fakultät Bau- und Umweltingenieurwesen am MIT
Wichtig ist, sich die Frage zu stellen, welches die fundamentalen Elemente von Exzellenz sind. Am Ende steht und fällt sie mit den Menschen, die sie mit Leben erfüllen. Darum braucht es eine Kultur, die es erlaubt, Individuen mit sehr verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen, die an einem gemeinsamen Ziel arbeiten. Dabei ist die Diversität ein wesentlicher Aspekt, denn mit Leuten verschiedener Herkunft kann man wirklich etwas Besonderes aufbauen. Das ist ein explizites Ziel am MIT. Ein weiterer Fokus liegt auf dem ‚Impact‘: Die Verknüpfung fundamentaler Erkenntnisse soll in Produkte münden, die der Gesellschaft nutzen. Dieses Spektrum, von der Grundlagenforschung hin zur realen Anwendung, die Millionen von Menschen Nutzen stiftet, ist der höchste Anspruch am MIT, nicht nur die reine Wissenschaft oder Theorie.
Die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses wird am MIT groß geschrieben und steht auch im Mittelpunkt des Programms MISTI, dessen wissenschaftlicher Direktor Sie sind. Welche Ziele verfolgt das Programm?
MISTI steht für „MIT International Science and Technology Initiatives“. Es wurde, wie so viele neue Projekte am MIT, als kleines Experiment geboren, das einige Professoren mit Japan unternommen hatten. Das Programm ist ein gutes Beispiel dafür, wie am MIT neue Initiativen entstehen – weniger in den Köpfen der Verwaltung, sondern eher als ,Graswurzelbewegung‘. Die Idee hatte eine starke kulturelle Komponente. Ziel des japanischen Projekts war es, Studierenden zu ermöglichen, in einem anderen Land zu leben, fremde Kulturen zu erfahren und insbesondere zu lernen, wie dort Forschung funktioniert und Innovationen entstehen. Unsere Studierenden lernen zum Großteil die Sprache des Landes, in das sie reisen, sie besuchen Kurse über die Kultur und bereiten sich noch am MIT intensiv auf ihre Arbeit vor.
Dieses Modell ist so erfolgreich, dass es mittlerweile auf viele andere Länder ausgeweitet wurde, auch Deutschland ist dabei. Aktuell gibt es mehr als 25 Programme mit Ländern auf dem gesamten Globus. Nahezu 1.000 Studenten gehen jedes Jahr ins Ausland, und es gibt mehr als 450 Partnerschaften mit Institutionen, Regionen und Ländern. In diesem Jahr feiern wir das 20-Jahre-Jubiläum mit MIT-Germany. Wir senden um die 70 bis 80 Studierende in verschiedenen Programmen nach Deutschland, die Praktika, Forschung, oder Unterricht an Gymnasien umfassen, zum Beispiel das Global Teaching Labs Program. Mit der Universität Stuttgart haben wir jetzt ein sehr erfolgreiches ‚Seed Fund Program‘ zur Erleichterung von Forschungskooperationen, das es Professorinnen und Professoren beider Universitäten erlaubt, zusammenzuarbeiten und Personal auszutauschen. Bislang konnten vier Projekte gefördert werden, der nächste Call for Proposals ist im September 2017. Diese neue Verbindung vom MIT nach Deutschland ist für uns von großer Bedeutung.
Für das ‚Seed-Fund-Programm‘ mit der Universität Stuttgart haben Sie sich auch persönlich sehr eingesetzt. Was hat Sie motiviert?
Der Aufenthalt in einem anderen Land ist ein unglaublich wichtiger Teil eines Studiums. Ich wollte es Studierenden in Stuttgart gerne ermöglichen, Zeit am MIT zu verbringen. Mich hat motiviert, dass es an der Uni Stuttgart eine starke Technologie-fokussierte Forschung gibt. Hier gibt es ausgezeichnete Studierende, die meiner Meinung nach sehr gut in das Klima am MIT passen. Im Gegenzug ist die Universität Stuttgart ein wichtiger Partner für das MIT, insbesondere durch die starke Verbindung zu Industrie und Weltunternehmen, die ja in Stuttgart zu Hause sind. Darüber hinaus ist der Mittelstand ein interessanter Bereich mit viel Potenzial.
Sie sind als Alumnus mit der Universität Stuttgart bis heute eng verbunden, immer wieder hier zu Gast und holen Stuttgarter Nachwuchswissenschaftler an das MIT. Was geben Sie Ihrer ,Alma Mater‘ mit auf den Weg?
It’s all about the students! Die Investition in die nächste Generation und in die Mitarbeiter ist das wichtigste Element. Junge Leute, die heute an die Uni kommen, sollen inspiriert und rasch in die Forschung involviert werden. Visionen organisch wachsen lassen und als Wissenschaftler und Professor vorwiegend ein Mentor und Lehrer für die nächste Generation zu sein, bringt eine Menge für die eigene Arbeit. Den größten Einfluss erreichen Wissenschaftler über den Nachwuchs, den sie ausbilden und fördern. Dadurch leben die Ideen nicht nur weiter, sondern bekommen neue Flügel. Die Universität sollte alles tun, um dies zu unterstützen und zu stärken.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Fragen stellte Andrea Mayer-Grenu
- Prof. Markus J. Buehler, Massachusetts Institute of Technology, Website