Gehirntumore besser verstehen

Der Exzellenz-Cluster SimTech setzt in der Krebsforschung auf interdisziplinäre Zusammenarbeit

Modelle und Simulationen können dabei helfen, die Ausbreitungsrichtung von Therapeutika im Gehirn nachzuvollziehen und somit patientenspezifische Therapieansätze zu entwerfen.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Stuttgart modellieren am Rechner in einem interdisziplinären Ansatz die Ausbreitung und Wirkung von Therapeutika zur Behandlung von Gehirntumoren. Zudem versuchen sie, ein Grundproblem der Zellbiologie mithilfe des Computers zu lösen: Wie lassen sich patientenspezifische Ansätze für die Therapie von Gehirntumoren entwickeln?

Tumore im Gehirn sind eine relativ seltene Krebsart. Die Deutsche Krebsgesellschaft beziffert ihren Anteil an allen Krebserkrankungen auf ungefähr zwei Prozent. Allerdings sind Gehirntumore auch besonders problematisch. Selbst wenn sie gutartig sind, können sie die betroffenen Patienten stark beeinträchtigen: Sie üben mechanischen Druck auf das Gewebe im Gehirn aus, das aufgrund der starren Schädeldecke nicht ausweichen kann. „Liegt ein Tumor in gut zugänglichen Bereichen des Gehirns, wird so viel wie möglich davon zunächst operativ entfernt. Dabei versucht der Chirurg, das umliegende Hirngewebe nicht zu schädigen“, erklärt Prof. Markus Morrison, Leiter des Instituts für Zellbiologie und Immunologie der Universität Stuttgart. „Anschließend folgt eine Strahlen- und Chemotherapie. Eine Heilung ist bei bösartigen Tumoren jedoch bis heute kaum möglich.“

Forscher versuchen zu verstehen, wie Zellen Informationen verarbeiten.
Forscher versuchen zu verstehen, wie Zellen Informationen verarbeiten.

Die Blut-Hirn-Schranke, eigentlich ein Schutz des Körpers, macht eine Zufuhr vieler neuartiger und womöglich wirksamerer Therapeutika über das Blut unmöglich. In klinischen Studien versuchen Chirurgen daher, solche Therapeutika direkt im Gehirn zu platzieren. „Auch diese Verfahren können Hirnareale schädigen, die nicht erkrankt sind“, erläutert Morrison. „Die richtige Balance zu finden zwischen maximaler Wirkung und möglichst geringfügiger Schädigung, ist die größte Schwierigkeit.“ Im Exzellenz-Cluster Simulation Technology (SimTech) entwickeln Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Stuttgart interdisziplinär Methoden, um Gehirntumore und das sie umgebende Gewebe besser zu verstehen. Grundlagenforschung, bei der ganz sicher noch ein weiter Weg zu gehen ist, bevor sich hieraus neue klinische Behandlungsoptionen ergeben werden. Aber eben doch ein Weg, an dessen Ende diese schwere Erkrankung besser zu verstehen sein wird.

Gewebe beeinflusst Ausbreitung des Therapeutikums

Ein Team am Institut für Mechanik (Bauwesen) der Universität Stuttgart unter Leitung von Prof. Wolfgang Ehlers, der zugleich Koordinator des Sim- Tech-Clusters ist, versucht den Ausbreitungsprozess und die Verteilung der Therapeutika im Gehirn zu modellieren. Für Dr. Arndt Wagner, Wissenschaftler am Institut für Mechanik, ist die mechanische Betrachtungsweise dieser medizinisch-biologischen Problemstellung ein gelungenes Beispiel für Interdisziplinarität: „Die Ausbreitung hängt maßgeblich von den individuellen Eigenschaften des Gewebes ab. Diese versuchen wir im Modell nachzuvollziehen.“

Liegt ein Tumor tief im Gehirn, so ist er inoperabel und auch mit einem Katheter nicht zu erreichen, mit dem sich das Therapeutikum direkt platzieren ließe. Also muss der Chirurg aus größerem Abstand so ins Gehirn einspritzen, dass das Therapeutikum auf dem schnellsten Weg zum Tumor gelangt. Funktioniert das nicht, so richtet es unnötig Schaden im gesunden Gewebe an. „Der direkte Weg von der Katheterspitze zum Tumor muss jedoch nicht unbedingt auch der geometrisch kürzeste sein“, erklärt Wagner. „Vielmehr bestimmt die Orientierung der Nervenfasern die bevorzugte Ausbreitungsrichtung.“ Es kann also durchaus besser sein, das Therapeutikum auf einem Umweg zum Tumor zu schicken. „Solche Fragestellungen untersuchen wir mithilfe von Simulationen“, so Wagner.

In dem zugrunde liegenden mathematischen Modell sind die Zellen ein Festkörper, der eine Art poröses Skelett bildet. Darin eingebettet sind zwei „Hohlraumsysteme“: die Blutgefäße und der interstitielle Raum, in dem sich das Therapeutikum ausbreitet. Beide sind zwar durch die Blut-Hirn-Schranke voneinander getrennt, stehen aber miteinander über mechanische Impulse in Wechselwirkung. Das am Institut für Mechanik entwickelt Gehirnmodell liefert eine homogenisierte makroskopische Beschreibung.

Am Computer lässt sich zeigen, wo das Therapeutikum optimal verabreicht werden kann.
Am Computer lässt sich zeigen, wo das Therapeutikum optimal verabreicht werden kann.

Der kürzeste Weg ist nicht immer der beste

Was auf Zellebene geschieht, sozusagen an jeder Zellmembran, lässt sich für das gesamte Gehirn in der Dimension von Zentimetern nicht berechnen, da die mikroskopische Zusammensetzung des Gewebes extrem komplex ist. „Mit diesem Ansatz können wir jedoch simulieren, wie sich ein Gehirn unter mechanischen und chemischen Einflüssen verhält“, sagt Wagner. Hierfür müssen die Forscherinnen und Forscher die allgemeingültigen Erhaltungsgleichungen wie beispielsweise die Massen- und Impulsbilanz des Gesamtsystems und der einzelnen Bestandteile betrachten.

„Zudem berücksichtigen wir das charakteristische ,Material‘-Verhalten, das für die Ausbreitung des Therapeutikums im System ebenfalls grundlegend ist.“ Die erforderlichen patientenspezifischen Daten lassen sich aus speziellen Messungen mit Kernspintomografen gewinnen. Letztlich ermöglicht die Simulation dann eine Aussage, wie sich das Therapeutikum im Gehirn räumlich und zeitlich verteilt. „In Fallstudien am Computer konnten wir zeigen, dass es abhängig vom Ort des Tumors und von den lokalen Gewebeeigenschaften eine optimale Stelle für die Verabreichung des Therapeutikums gibt“, erläutert Wagner. „Allerdings“, betont er, „ist noch unklar, ob sich die Aussagefähigkeit der Simulation in klinischen Anwendungen bestätigt.“

Oft wirken Therapeutike nicht bei allen Patienten

Ein Kollege am Institut für Mechanik untersucht derzeit, wie sich das Modell erweitern lässt, um die Wirkung des Therapeutikums auf den Tumor zu beschreiben. Dafür müssen sich Erkenntnisse von der Zellebene auf das Gesamtsystem, das Gehirn, übertragen lassen. Das ist kein einfaches Unterfangen, wie sich bei einem anderen SimTech-Projekt zeigt, in dem es ebenfalls um die patientenspezifische Behandlung von Gehirntumoren geht. „Viele Therapeutika wirken immer nur bei einem Teil der Patienten, selbst wenn alle dieselbe Krebsdiagnose haben“, erklärt der Biologe Morrison. Warum das so ist, wird intensiv erforscht.

Auch mit dem Ziel, Tumore in Zukunft optimal und personenspezifisch behandeln zu können. „Grundlagenund klinische Forschung haben sich lange Zeit darauf konzentriert, Gene und Proteine zu identifizieren, um so vorherzusagen, ob Patienten auf bestimmte Therapieformen ansprechen“, erklärt Morrison. „Es zeichnet sich jedoch ab, dass solche Daten erst dann wertvoll sind, wenn wir die komplexen Interaktionen dieser Gene und Proteine in mathematischen Modellen berücksichtigen.“ Denn viele zelluläre Funktionen ergeben sich tatsächlich erst auf der Ebene der biologischen ‚Schaltkreise‘. Gleiches gilt für die Zellinteraktion und Kommunikation im Gewebe. Signalübertragung der Zellen nachvollziehen In der Grundlagenforschung versuchen Biologinnen und Biologen zu verstehen, wie Zellen Informationen verarbeiten, untereinander Signalnetzwerke aufbauen und was Therapeutika mit Signalwegen bei Krebszellen machen. 

Modellvorhersagen: Wirken die Therapeutika?

Diese Erkenntnisse lassen sich auf größere Systeme, etwa das betroffene Organ, übertragen. Forscher wie Morrison testen das unter Laborbedingungen – quasi in der Petrischale. Aufgrund ihrer Ergebnisse können sie für isolierte Hirntumorzellen die Wirksamkeit verschiedener Therapeutika vorhersagen. Nicole Radde, Professorin am Institut für Systemtheorie und Regelungstechnik der Universität Stuttgart, versucht mit ihrem Team auf der Grundlage der zellbiologischen Erkenntnisse die Modelle der Signalübertragung weiterzuentwickeln. In einem interdisziplinären Team lassen sich die Modellvorhersagen anschließend wiederum im Labor testen.

Radde konzentriert sich vor allem auf die Entwicklung geeigneter Methoden zur Kopplung von Skalen, zur Modellidentifikation und zu einem konsistenten Umgang mit Unsicherheiten. Verfahren für den Übergang von der Zell- zur Organebene Bei der Skalenkopplung geht es darum, mit welchen Verfahren die Anbindung von mikroskopischen an makroskopische Modelle gelingt, also der Übergang von der Zell- zur Organebene. Unter Modellidentifikation und dem Umgang mit Unsicherheiten fasst Radde die Problemstellung zusammen, dass sie und ihr Team Modelle oft mit wenigen und sehr variablen Daten kalibrieren müssen. „Wenn wir mit diesen Daten unsere Modelle trainieren, sind die Vorhersagen mit Unsicherheiten behaftet“, erklärt sie. „Daher lautet die Frage, wie zuverlässig Vorhersagen auf der Basis dieser Modelle sind.“

Statistische Lernverfahren müssen optimiert werden

Die Schlussfolgerung lautet aber keineswegs, dass unsichere Daten zwangsläufig noch ungewissere Vorhersagen liefern: „Es kann zum Beispiel passieren, dass nur manche Parameter im Modell tatsächlich unsicherer werden, während andere ziemlich unabhängig von den Eingangsunsicherheiten bleiben“, verdeutlicht Radde. Sogenannte statistische Lernverfahren sind hierfür ein mächtiges Werkzeug. Allerdings sind sie immer noch sehr rechenintensiv und müssen daher optimiert werden.

An diesem Punkt kommen wiederum Methoden der Modellreduktion ins Spiel: Komplexe Modelle neigen dazu, sich gar nicht mehr in adäquater Zeit berechnen zu lassen. Darum sind die Mathematiker und Informatiker von SimTech gefordert, etwa die Teams um Prof. Guido Schneider vom Institut für Analysis, Dynamik und Modellierung oder um Prof. Daniel Weiskopf vom Institut für Visualisierung und Interaktive Systeme. Sie überlegen sich zum Beispiel neue Herangehensweisen, wie sich die Zahl der betrachteten Parameter im Modell elegant, also ohne Verlust an Aussagekraft, verringern lässt. „Nur durch diesen interdisziplinären Ansatz“, so Radde, „können wir in den Forschungsprojekten überhaupt Fortschritte erzielen.“ Michael Vogel

  • Prof. Wolfgang Ehlers, Institut für Mechanik (Bauwesen), Lehrstuhl für Kontinuumsmechanik, Tel.  +49 711 685-66346, E-Mail, Website
  • Prof. Dr. Markus Morrison, Institut für Zellbiologie und Immunologie, Tel. +49 711 685-66987, E-Mail, Website
  • Prof. Nicole Radde, Institut für Systemtheorie und Regelungstechnik, Tel. +49 711 685-67729, E-Mail, Website
  • Dr. Arndt Wagner, Institut für Mechanik (Bauwesen), Lehrstuhl für Kontinuumsmechanik, Tel.  +49 711 685-66375, E-Mail, Website
  • Exzellenzcluster SimTech

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