Das Bild des rein rational handelnden Akteurs ist in den Wirtschaftswissenschaften überholt. Das gilt auch für den Bereich des Controllings, wo der Einfluss benachbarter Wissensgebiete zunimmt. Die Doktorandin Ann Tank an der Universität Stuttgart untersuchte neurobiologische Prozesse bei der Analyse betriebswirtschaftlicher Kennzahlen. Dabei setzte sie die aus der medizinischen Praxis bekannte Technik der Magnetresonanztomografie ein. Im Controlling, wo es sonst um trockene Datenanalyse geht, mag das als eine ungewöhnliche Methode erscheinen.
Jeden Tag fallen in Unternehmen Beschlüsse mit Folgen für Belegschaft, Kunden und Eigentümer. Fast immer erfolgen sie auf Basis von Kennzahlen, die eine Aussage über den Unternehmenszustand treffen. Diese Entscheidungen laufen oft nach ähnlichem Muster ab, doch sie werden von sehr unterschiedlichem Menschen getroffen. Welche Abläufe in ihrem Gehirn solche Entscheidungen steuern, damit befasst sich die Wissenschaft erst seit einigen Jahren.
Auf diesem neuen Gebiet schrieb Ann Tank ihre Dissertation. Sie will beleuchten, welche neurobiologischen Prozesse bei der Analyse betriebswirtschaftlicher Kennzahlen eine Rolle spielen. Es ist ein besonderes Thema, für das sich die heute 30-Jährige entschieden hat. Es gehört zur Neuroökonomie, einer Disziplin, die derzeit an den Grenzen zwischen Wirtschaft, Biologie und Psychologie entsteht. „Ziel ist es, Prozesse, die im Körper bei unternehmerischen Entscheidungen ablaufen, objektiv und direkt messbar zu machen“, sagt Tank. Die theoretischen Grundlagen kommen bislang vor allem aus dem Neuromarketing – einem Forschungszweig, der von Unternehmen gefördert wird, die verstehen wollen, wie Kaufentscheidungen zustande kommen. Im Controlling hingegen fand Tank sehr wenig Literatur darüber.
Suche nach dem richtigen Partner
Ihre Dissertation schrieb sie am Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Controlling an der Universität Stuttgart. Dort wurden zwar schon einige Experimente zum Verhalten in ökonomischen Entscheidungssituationen durchgeführt, eine Untersuchung des menschlichen Gehirns war allerdings Neuland. Um die Aufgabe zu meistern, brauchte sie Partner. Eine befreundete Wissenschaftlerin erzählte ihr vom Zentrum für Neurologie des Universitätsklinikums Tübingen. Sie nahm Kontakt auf und traf Dr. Axel Lindner. Dieser leitet die Arbeitsgruppe Neurobiology of Decision Making. Sie gehört zur Abteilung Kognitive Neurologie des Hertie-Instituts für klinische Hirnforschung. Schon im ersten Gespräch sprang der Funke über, Lindner begeisterte sich für Tanks Idee. Die beiden beschlossen, den neuronalen Prozessen in unternehmerischen Entscheidungen gemeinsam auf die Spur zu kommen. Mit ihm und ihrem Doktorvater Prof. Burkhard Pedell besprach Tank, wie das Projekt ablaufen sollte.
Freiwillige Studierende müssen sich bei Projekt entscheiden
Das Experiment verlief in zwei Phasen. Am Vorexperiment beteiligten sich 125 Studierende, die sich freiwillig gemeldet hatten. Die Aufgabe sah vor, dass sie als Controller eines Werkzeugmaschinenbauers entscheiden sollten, ein Entwicklungsprojekt fortzuführen oder abzubrechen. Als Basis dienten komplexe, betriebswirtschaftliche Kennzahlen. Im Anschluss berichteten die Probanden, wie sie die Übung empfunden hatten. Sie beantworteten auch Fragen zu ihrer Erfahrung und Risikoneigung. „Anhand dieser Informationen konnten wir erste Schlüsse ziehen, welche Prozesse bei diesem Entscheidungsprozess im Gehirn ablaufen“, sagt Tank.
Wer an dem Vorexperiment teilgenommen hatte, durfte sich für die zweite Phase bewerben – eine Untersuchung mithilfe der funktionellen Magnetresonanztomografie (fMRT). Die Methode kennen Laien meist nur vom Arztbesuch. In der Neurobiologie liefert sie wichtige Daten auf sehr anschauliche Weise. Ein Magnetscanner zeichnet die Stoffwechselprozesse im Gehirn auf. Beginnt ein Areal zu arbeiten, wird Sauerstoff im Blut verbraucht. Dadurch verändert sich die Dichte des Blutes an dieser Stelle, wodurch magnetische Veränderungen entstehen, die dann der Scanner aufzeichnet. Die Ergebnisse lassen sich später quasi als Film darstellen. Das ist ein großer Vorteil gegenüber der bislang in ähnlichen Experimenten angewandten Elektroenzephalografie (EEG), die von der Kopfoberfläche aus die Veränderung der Hirnströme aufzeichnet.
Nicht jeder durfte an der zweiten Phase des Experiments teilnehmen. Beispielsweise führten künstliche Gelenke aus Metall, Schrauben oder Zahnstabilisatoren zum Ausschluss. Denn Metall im Körper verträgt sich nicht mit MRT. „Wir wollten auch kleinste gesundheitliche Risiken für die Probanden ausschließen“, so Tank. Die 30 ausgewählten Teilnehmer bearbeiteten ihre Aufgabe liegend in der MRT-Röhre. Der Scanner zeichnete dabei ihre Hirnaktivität auf. Wenn Areale aktiviert werden, liegt der Schluss nahe, dass sie den Entscheidungsprozess beeinflussen.
Eine Stunde in die Röhre schauen
Die Untersuchung dauerte lang. Vier Mal zwölf Minuten lang durften sich die Teilnehmer nicht rühren, der Kopf wurde solange mithilfe von Polstern sanft fixiert. Während sie ihre Kennzahlen auswerteten, zeichnete eine für das MRT-Gerät geeignete Kamera die Bewegungen der Augen auf. Das sollte weitere Hinweise darauf geben, wie die Probanden ihre Entscheidung fällten. Wurden alle relevanten Informationen beachtet? Auf welchen Informationen lag der Fokus? – Die Aufgaben wurden über ein System von Spiegeln in die Röhre gespielt. Kurven und Zahlen waren so für die Teilnehmer gut lesbar. Anhand dieser Informationen sollten sie wie im Vorexperiment über ein Entwicklungsprojekt als Controller entscheiden. Die Antwort konnten die Probanden über einen Druckknopf geben, den sie in der Hand hielten.
Die Dissertation soll neue Fragen aufwerfen
Empirische Studien legten bereits nahe, dass wirtschaftliche Entscheidungen auch emotional getroffen werden. In der Arbeit von Ann Tank lässt sich dieser Zusammenhang nun zum ersten Mal auch im Umfeld des Controllings neurobiologisch belegen. Sie fand zum Beispiel heraus, dass die Qualität der getroffenen Entscheidung in manchen Fällen mit der Aktivierung in dem beteiligten Hirnareal zusammenhängt. Darunter sind nicht nur Bereiche, die für die kognitive Verarbeitung von Informationen zuständig sind. Es zählen auch Gebiete dazu, die mit der emotionalen Bewertung von Informationen zusammenhängen können. Das Experiment brachte zudem Belege, dass die Risikoneigung die Qualität der Entscheidung in bestimmten Fällen beeinflussen kann.
Die Ergebnisse sind für Laien womöglich unspektakulär. Denn konkrete Maßnahmen für Unternehmen lassen sich daraus nicht unmittelbar ableiten. Noch nicht. Das war aber auch nicht das Ziel. Denn Tanks Dissertation ist Grundlagenforschung. Sie muss keine Antworten geben – sondern möglichst viele neue Fragen aufwerfen. Das ist wichtig. Denn dann kann ein junges Forschungsfeld wie die Neuroökonomie wachsen.
Heimo Fischer