Hilfe zur Selbsthilfe – zu jeder Zeit

Studierende erforschen 200 Jahre Wohlfahrtsgeschichte in Baden-Württemberg. Das Ergebnis halten sie in einem Buch fest.

Kann es in der 200-jährigen Geschichte einer wohltätigen Einrichtung einen Kerngedanken geben, der den unterschiedlichsten politischen Strömungen und gesellschaftlichen Anforderungen der Zeitgeschichte trotzt? Dieser Frage ging das Team um Prof. Sabine Holtz vom Historischen Institut der Universität Stuttgart, Abteilung Landesgeschichte, nach. Das Ergebnis ist ein von fünf Studentinnen gemeinsam mit promovierten beziehungsweise habilitierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gestalteter Band, der anlässlich des 200-Jahre-Jubiläums des Wohlfahrtswerks für Baden-Württemberg erscheint.

"Unter dem Protektorat der Königin": Auch der Schwäbische Frauenverein wurde von Königin Katharina von Württemberg unterstützt - und ehrte die Wohltäterin unter anderem mit Postkarten.
"Unter dem Protektorat der Königin": Auch der Schwäbische Frauenverein wurde von Königin Katharina von Württemberg unterstützt - und ehrte die Wohltäterin unter anderem mit Postkarten.

Herkömmliche historische Zusammenfassungen bilden oft eine Chronologie ab. Das Buch mit dem Titel „Hilfe zur Selbsthilfe. 200 Jahre Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg“ dagegen beleuchtet Sabine Holtz einzelne Etappen aus 200 Jahren Geschichte. Ebenfalls außergewöhnlich ist die Methode des forschenden Lehrens und Lernens, nach der die Jubiläumsschrift entstand: „Kern dieser Methode ist es, nicht nur Informationen zur Rezeption bereitzustellen, sondern die Inhalte gemeinsam zu erarbeiten – und das anhand von Archivquellen, die bisher noch niemand herangezogen hat“, erläutert Sabine Holtz. „Damit leiten wir Studierende an, als selbstständig Forschende tätig zu werden. Dieser Gedanke der Selbstständigkeit und Individualität taucht auch inhaltlich in der Publikation auf – als wesentliche Grundpfeiler des Wohlfahrtwerks, einer Stiftung bürgerlichen Rechts.“

Moderne Ansätze im 19. Jahrhundert

2013 kamen Vertreter des Wohlfahrtswerks mit dem Wunsch auf Holtz zu, den Jubiläumsband zu erstellen. Diese Idee nahm die Historikerin mit in ihr Hauptseminar, welches das Thema „Sozialwesen und Wohlfahrtspflege im Königreich Württemberg“ behandelte. Fünf Studentinnen des insgesamt 27-köpfigen Kurses ließen sich für eine Mitarbeit an diesem Werk begeistern. Die größte Herausforderung: Alle Quellen aus dem 19. Jahrhundert sind rein handschriftlich überliefert. „Was es bedeutet, mit diesen alten Schriften zu arbeiten, sollte nicht unterschätzt werden: Sie zu entziffern ist viel aufwendiger, als mit gedruckten Quellen zu arbeiten oder vorhandene Forschungen zusammenzufassen“, so Holtz.

Ein Dokument aus der Gründungsphase der Zentralleitung im Jahr 1817: Einladung Königin Katharinas an die Distriktvorsteherinnen und -vorsteher des Stuttgarter Lokal wohltätigkeitsvereins.

Aus dem Hauptseminar heraus entstanden drei Bachelor- und zwei Masterarbeiten. Ihre Kerngedanken finden sich in den einzelnen Aufsätzen wieder, die den thematischen Rahmen des Bandes bilden. So befasst sich zum Beispiel der Beitrag von Dominique Corinne Ott mit den geschlechterspezifischen Handlungsspielräumen im damals noch so genannten Wohltätigkeitsverein des 19. Jahrhunderts. Denn: Die Gründerin Königin Katharina dachte 1816 bereits sehr modern und wollte den Verein ursprünglich als reinen Frauenverein gründen. Amelie Bieg arbeitet in ihrem Aufsatz wiederum die „Rettungshausbewegung“ heraus.

Das ursprünglich aus Basel stammende Konzept bot verwaisten oder benachteiligten Kindern nicht nur Zuflucht, sondern aktive Unterstützung. Anhand von fünf Biografien zeigt Bieg auf, wie aus Kindern ohne Zukunftsaussichten junge Erwachsene mit einer Berufsausbildung wurden. „Über die Geschichte und unterschiedlichen Formen des heutigen Wohlfahrtswerks hinweg taucht ein Markenkern immer wieder auf: Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten, ohne jeweils aktuelle Geschehnisse oder akute Bedürfnisse außer Acht zu lassen“, so Holtz. Und das allen zeitgeschichtlichen Veränderungen zum Trotz über 200 Jahre hinweg. Michaela Gnann

Jahr ohne Sommer: Ursprung des Wohlfahrtswerks

Das heutige Wohlfahrtswerk wurde 1817 als Wohltätigkeitsverein von Königin Katharina von Württemberg ins Leben gerufen. Seine Gründung fällt in eine politische Umbruchphase im Südwesten: Die Wirtschaftslage war extrem angespannt. Ihren Höhepunkt erreichte die wirtschaftliche Not mit den Hungerjahren 1816/1817. Bedingt durch einen Vulkanausbruch in Südostasien 1815 zeichnete sich der deutsche Sommer 1816 durch Dauerregen und Gewitter aus. Die dramatischen Folgen waren horrende Ernteausfälle, verbunden mit Wucherpreisen für die knappen Lebensmittel, Hungersnöten, Krankheiten und Armut. Mit dramatischen Auswirkungen auf das Sozialgefüge: So stiegen zum Beispiel die Bettlerzahlen und auch die Kriminalität rapide an. Als Reaktion auf diese Krise gründete das junge Königreich Württemberg den Wohltätigkeitsverein.

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