Wie Zellen Entscheidungen treffen

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart (Ausgabe April 2023)

Forschende der Universität Stuttgart untersuchen Prozesse von Zellen und setzen dabei auf mathematische Modellierung und künstliche Intelligenz.
[Foto: Uli Regenscheit]

Der Systembiologe Prof. Stefan Legewie und sein Team am Institut für Biomedizinische Genetik sowie im Stuttgart Research Center Systems Biology kombinieren Ansätze aus Zellbiologie, Informatik, Biophysik und Mathematik, um daraus ein systemisches Verständnis intrazellulärer Prozesse abzuleiten.

Im Zentrum der Systembiologie steht die ganzheitliche Analyse komplexer biologischer Datensätze. Dies hilft zum Beispiel, um wichtige Fragen der Krebsforschung besser zu verstehen: Wie reagieren Zellen auf Veränderungen ihrer Umgebung, und wie wird dabei die Aktivität von Genen gesteuert? „Wir beschäftigen wir uns zum einen mit Signalübertragungskaskaden, die Informationen von der Zellmembran in den Zellkern weiterleiten, und zum zweiten mit der Prozessierung, also der Veränderung von Ribonukleinsäuren (RNA)“, fasst Legewie die Bandbreite seiner Forschung zusammen. Zur Lösung dieser Fragen setzt die Arbeitsgruppe neben Experimenten auf mathematische Modellierung und künstliche Intelligenz.

Krebsrelevante Entscheidungsprozesse verstehen

In der Krebsforschung untersucht die Gruppe einen Signalweg, der eine tumorsuppressive Wirkung hat, also das Tumorwachstum blockieren kann. Vorstellen kann man sich das so: Ein hormonähnliches Protein, genannt TGFß, dockt an Rezeptoren auf der Zelloberfläche einer Zelle an. Nach Weiterleiten dieses Signals in den Zellkern werden Gene aktiviert, die das Zellwachstum bremsen. Verändert sich aber der Signalweg zum Beispiel durch Mutationen, kann TGFß das Wachstum nicht mehr blockieren. Dann kommt es zu einem überschießenden Zellwachstum – es entsteht Krebs. Weitere Veränderungen des gleichen Signalwegs können dazu führen, dass Zellen zum Wandern angeregt werden und ein Tumor Metastasen bildet.

Prof. Stefan Legewie

Zentrale Fragestellung der Arbeitsgruppe um Legewie ist ein besseres Verständnis dieser krebsrelevanten Entscheidungsprozesse im TGFß-Signalweg. Hierbei machen sich die Forscher zunutze, dass sich nicht alle Zellen einer Zellpopulation gleich verhalten: Während einige das Wachstum stoppen, migrieren andere oder reagieren gar nicht. „Daher analysieren wir eine große Zahl einzelner Zellen und nutzen deren Heterogenität,um Prinzipien zu verstehen, die der Entscheidungsfindung zugrunde liegen“, sagt Legewie. Die in Kooperation mit der Universität Darmstadt entstandenen Ergebnisse sind kürzlich in der Fachzeitschrift „PNAS“1erschienen.

Auf längere Sicht suchen die Forschenden nach möglichen Angriffspunkten, an denen man den Prozess der Tumorentstehung und Metastasierung umkehren kann. Irgendwann, so die Hoffnung, wird man dann Medikamente entwickeln können, durch die sich metastasierende Tumore zurückbilden.

Institut für Biomedizinische Genetik
Der Lehrstuhl Systembiologie ist Teil des neu gegründeten Instituts für Biomedizinische Genetik (IBMG) der Universität Stuttgart, das die Grundlagen erforscht, wie Gene und genregulatorische Netzwerke zu Erkrankungen des Menschen beitragen. Weitere Bereiche des Instituts sind die Abteilung Eukaryoten Genetik (Prof. Jörn Lausen), die grundlegende molekulare Mechanismen der Differenzierung von Stammzellen erforscht, sowie die Abteilung Computational Biology (Prof. Björn Voß), die Expertisen in der RNA-Biochemie, dem „next generation sequencing” (NGS) und der Entwicklung von Algorithmen für die Analyse der RNA-Struktur vereint. Eine noch zu besetzende Professur für Genomeditierung soll künftig neuartige Methoden zur gezielten Steuerung der Genaktivität entwickeln.

Bereits näher an den Therapien ist Legewies zweites Forschungsfeld, die Prozessierung der messenger RNA bei der zellulären Proteinsynthese. Diese Prozessierung, das sogenannte alternative Spleißen, führt dazu, dass menschliche Zellen sehr viel mehr Proteinvarianten haben als etwa Hefezellen oder andere niedere Organismen. Von Bedeutung ist dies zum Beispiel bei der CAR-T-Zell-Therapie, die bei Leukämien im Endstadium eingesetzt wird. 

Hierbei werden Patient*innen die eigenen Immunzellen (T-Zellen) entnommen und so umprogrammiert, dass sie nach der Reinjektion in den Körper Leukämie-Zellen angreifen. Prinzipiell ist diese Behandlungsmethode sehr effizient. Es kommt aber vor, dass die Leukämie- Zellen nicht mehr auf die T-Zellen reagieren. Denn die T-Zellen sind auf einen ganz bestimmten Rezeptor auf der Zelloberfläche programmiert. Genau dieser wird aufgrund von Mutationen des Genoms in resistenten Leukämie-Zellen einer veränderten Prozessierung unterworfen, sodass die Therapie nicht mehr wirkt.

Effekte komplexer Mutationen vorhersagen

Um die Prinzipien der Resistenzentwicklung besser zu verstehen, hat Legewies Team in Kooperation mit Arbeitsgruppen aus Mainz und Frankfurt einen Screeningansatz entwickelt, mit dem im hohen Durchsatz mehrere 10.000 Mutationen charakterisiert werden können – eine Kartierung, über die im vergangenen Jahr im Fachmagazin „Nature Communications“ berichtet wurde2.

Mehrere 10.000 Mutationen können durch einen neuen Screeningansatz charakterisiert werden.

Dabei zeigte sich eine enorme Komplexität der mRNAProzessierung, da schon aus einem relativ kurzen Genabschnitt des Oberflächenproteins etwa 100 potenziell resistenzvermittelnde Varianten entstehen. Zudem gibt es sehr viele mögliche Kombinationen von Mutationen. Wie diese miteinander wechselwirken, ist schwer zu prognostizieren. Hier hat die Mathematik bei der Interpretation der Daten einen entscheidenden Beitrag geleistet: Durch systembiologische Ansätze konnte die Gruppe quantitative Modelle entwickeln, mit denen die Effekte komplexer Mutationen auf die Genprodukte akkurat vorhergesagt werden konnten.

„Auf dieser Datenbasis könnte es in Zukunft möglich sein, schon zu Beginn der Therapie vorherzusagen, ob der Patient oder die Patientin Resistenzen entwickeln wird“, sagt Legewie. Zudem liefern die Ergebnisse Hinweise, mit welchen anderen therapeutischen Ansätzen die CAR-T-Zell-Therapie kombiniert werden könnte, um Resistenzen vorzubeugen.

Text: Andrea Mayer-Grenu

1 Bohn et.al.: State- and stimulus-specific dynamics of SMAD signaling determine fate decisions in individual cells. Proceedings of the National Academy of Sciences (in press), https://doi.org/10.1073/pnas.2210891120
2 Cortés-López et.al.: High-throughput mutagenesis identifies mutations and RNAbinding proteins controlling CD19 splicing and CART-19 therapy resistance. Nature Communications 2022, https://www.nature.com/articles/s41467-022-31818-y

Prof. Dr. Stefan Legewie, E-Mail, Telefon: +49 711 685 64573

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