„Damit Technologietransfer funktioniert, braucht man ein gemeinsames Mindset auf beiden Seiten. Und das hängt immer an Menschen.“ Zu dieser Erkenntnis war Peter Middendorf schon vor seiner Zeit an der Universität Stuttgart gekommen. Zehn Jahre lang arbeitete der Luft- und Raumfahrtingenieur in der Industrie: zunächst beim Luft- und Raumfahrtkonzern EADS, der heutigen Airbus Group, und zuletzt als Leiter der Forschungsprogramme beim Hubschrauber-Hersteller Eurocopter – also quasi auf der Abnehmerseite universitärer Forschung.
Tatsächlich weist das Mindset seiner Erfahrung nach gravierende Unterschiede auf: „Forschung an den Universitäten ist langfristig ausgerichtet. Der Zeitrahmen orientiert sich oft an der Dauer einer Promotion, die liegt in den Ingenieurwissenschaften bei drei bis fünf Jahren. In der Industrie dagegen werden in kurzen und immer kürzeren Intervallen neue Themen akut, die mit hoher Geschwindigkeit bearbeitet werden müssen.“ Die unterschiedlichen Erwartungen sind eine Herausforderung für beide Seiten: „Industriepartner müssen verstehen, dass Forschung risikobehaftet ist und manchmal etwas nicht so läuft wie geplant. Die universitären Partner wiederum müssen maximale Anstrengungen unternehmen, um zu liefern – auch dann, wenn zum Beispiel eine Promotion abgeschlossen ist und der oder die Doktorand*in das Institut verlassen hat.“
Damit Technologietransfer funktioniert, braucht man ein gemeinsames Mindset auf beiden Seiten. Und das hängt immer an Menschen.
Prof. Peter Middendorf
Gründergeist fördern
Das Bewusstsein für dieses Spannungsfeld brachte Middendorf mit, als er 2012 als Professor für Flugzeugbau an die Universität Stuttgart wechselte und die Leitung des gleichnamigen Instituts für Flugzeugbau (IFB) übernahm. Als Glücksfall erwies es sich dabei, dass just in dieser Zeit auch der Forschungscampus ARENA2036 geplant wurde. Dessen erklärtes Ziel ist es, die unterschiedlichen Pole zusammenzuführen und mehr Tempo in den Technologietransfer zu bringen. Zwar war der Fokus dabei zunächst auf das Automobil der Zukunft gerichtet. Doch das musste leichter werden – und der Experte für Faserverbundtechnologien war dabei ein gefragter Mann: „Der Faserverbundleichtbau kommt aus der Luftfahrt, und die Autoindustrie rannte uns die Türen danach ein.“
Am IFB selbst war es nicht nötig, dem Technologietransfer zu mehr Schwung zu verhelfen. „Die Forschung am IFB ist traditionell stark auf die Anwendungen orientiert und geprägt von zahlreichen Kooperationen mit der Industrie“, berichtet Middendorf und ergänzt lachend: „Da musste ich mich eher auf die Grundlagenseite kämpfen und zum Beispiel eine Erfolgsbilanz bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft erarbeiten.“ Doch die Freude am Transfer blieb, davon zeugen durchschnittlich drei bis vier Erfindungsmeldungen sowie eine Ausgründung pro Jahr. Middendorf fördert den Gründergeist, versteht sich aber auch als Mahner: „Bei allem Enthusiasmus sehe ich meine Aufgabe auch darin, das Geschäftsmodell kritisch zu hinterfragen, damit ein Projekt die Chance auf Erfolg hat. Und natürlich muss die Promotion oder das Paper fertig werden.“
Strukturen schaffen
Spätestens 2018 wurde die Herzensangelegenheit zur offiziellen Mission: Seither ist Peter Middendorf der Prorektor für Wissens- und Technologietransfer (WTT) der Universität Stuttgart. Von außen wurde die Universität schon damals als transferstarker Motor in einer innovationsstarken Region wahrgenommen. Doch die Strukturen waren heterogen, einige Aspekte wie das Thema Entrepreneurship (Unternehmertum) nur in Ansätzen vorhanden. Schon Middendorfs Vorgänger Prof. Thomas Graf trat dafür ein, den Technologietransfer zu stärken, zu zentralisieren und sichtbarer zu machen. Hierfür galt es nun, die Strukturen aufzubauen. „Dazu gehört zunächst eine Strategie, aber auch Kommunikation, Mittel einwerben, die Organisation hinterfragen, auch im Vergleich mit anderen Universitäten“, erläutert Middendorf.
Das Ergebnis war eine Strategie, die auf gründungsorientierte Transfers gerichtet ist und Entrepreneurship über alle Ebenen hinweg kontinuierlich fördert – vom Lehrangebot „Let US start!“, das den Gründergeist bei Studierenden wecken soll, und dem Aufbauprogramm „Let US elevate!“ über praktischen Gründungssupport in der Technologietransferinitiaive TTI bis hin zu Partnerprogrammen wie „Startup!Autobahn“, das im Rahmen der ARENA2036 die Umsetzung mit Industriepartnern fördert. Als Drehscheibe für Gründungsangebote wurde mit Unterstützung des Daimler-Fonds im Stifterverband der neue Lehrstuhl für Entrepreneurship in Technologie und Digitalisierung eingerichtet und mit Prof. Alexander Brem besetzt.
Erste Früchte
Die Anstrengungen zeigten schnell Erfolg: Fast aus dem Stand heraus konnte die Universität gemeinsam mit der Hochschule der Medien Stuttgart das Projekt EXi+ starten, mit dem das vorhandene Angebot im Bereich Entrepreneurship in der Region vernetzt und ergänzt werden soll. Und auch beim „Gründungsradar“ des Stifterverbands, einem Ranking, das die Anstrengungen der Hochschulen für die Stärkung der Gründungskultur vergleicht, zeigt die Kurve steil nach oben: 2020 konnte sich die Universität Stuttgart gegenüber 2018 um gleich 14 Plätze verbessern und rangiert unter den 42 großen Hochschulen in Deutschland jetzt auf Platz 12. „Dass die Fokussierung auf Entrepreneurship und Gründungen in unserer Transferstrategie so schnell erste Früchte trägt, freut uns sehr“, sagt Middendorf.
Auch auf der Forschungsebene strahlen neue Transfer-Leuchttürme: Im Zukunftscluster QSens machen Forschende um die Professoren Jens Anders und Jörg Wrachtrup Quantensensoren alltagstauglich für Anwendungen in Medizin, Industrie 4.0, Mobilität und Nachhaltigkeit. Und im Innovationscampus Mobilität der Zukunft (ICM) arbeiten Forschende der Universität Stuttgart und des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) gemeinsam an Durchbruchtechnologien in den Bereichen Mobilität und Produktion. „Beide Verbünde sind ein Paradebeispiel dafür, wie man Grundlagenforschung und Transfereng verzahnt“, betont Middendorf.
„Das Transfercenter soll die Mitarbeitenden innerhalb der Universität unterstützen und gleichzeitig den Austausch mit externen Partnern vereinfachen.“
Prof. Peter Middendorf
Next Step: ein Zentrales Transfercenter
Gemeinsam mit der sogenannten WTT-Runde hat er bereits die nächste „Baustelle“ im Blick: „Wir müssen uns fragen, wie wir den Wissens- und Technologietransfer an der Universität Stuttgart organisatorisch besser aufstellen können.“ Nach gründlicher Analyse der möglichen Strukturen und Modelle entstand die Idee eines zentralen Transfercenters. Ab Mitte 2022 sollen dort alle Instrumente und Ansprechpersonen unter einem Dach gebündelt, bisher wenig ausgeprägte Aspekte wie ein Career Service, Technologie-Scouting und die Gründungsberatung ausgebaut und eine Plattform für strategische Partnerschaften geschaffen werden. Auch die Geschäftsstellen großer Transferprojekte wie ICM oder QSens können in dem neuen Zentrum eine Heimat finden. „Das Transfercenter soll die Mitarbeitenden innerhalb der Universität unterstützen und gleichzeitig den Austausch mit externen Partnern vereinfachen“, beschreibt Middendorf den Mehrwert.
Darüber hinaus soll dem Wissenstransfer und damit dem Thema Public Engagement mehr Raum gegeben werden, insbesondere über die Zusammenarbeit mit dem Internationalen Zentrum für Kultur- und Technikforschung (IZKT) oder dem Interchange Forum for Reflecting on Intelligent Systems (IRIS) an der Universität Stuttgart, das die kritische Reflexion über intelligente Systeme fördert. Auch die Wissenschaftskommunikation soll in diesem Kontext an Bedeutung gewinnen. Dabei geht es Peter Middendorf um mehr als die operative Kommunikation: „Es besteht auch ein großer Bedarf an Forschung zur Wissenschaftskommunikation.“ Das Thema ist brandaktuell, nicht erst seit die neue Bundesregierung Wissenschaftskommunikation erstmals im Koalitionsvertrag verankert hat. Wer zum Zuge kommen will, betont Middendorf, muss schnell sein: „Die Frucht hängt hoch, dafür ist sie aber besonders reizvoll.“
Prof. Peter Middendorf, E-Mail, Tel.: +49 711 685 62411