Das Bauen der Zukunft muss nachhaltiger und ökonomischer werden. Um diese Ziele bei der Forschung optimal zu berücksichtigen, setzt das Exzellenzcluster IntCDC ein neues interdisziplinäres Verfahren ein: die sozio-technische Forschungsintegration.
Architektur ist eine Disziplin, deren Ergebnisse wie wenige andere für Generationen öffentlich sichtbar sind. Architektur kann Identifikation stiften oder Reibungspunkte erzeugen – unberührt bleibt aber kaum jemand. In diesem Bewusstsein verfolgt das Exzellenzcluster „Integrative Computational Design and Construction for Architecture“ (IntCDC), in dem 120 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Stuttgart und des Max-Planck-Instituts für Intelligente Systeme forschen, einen Ansatz der interdisziplinären Reflexion. Die „sozio-technische Forschungsintegration“ (socio-technical integration research, kurz: STIR) soll dazu beitragen, das Bauen der Zukunft schon im Forschungsstadium ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltig auszurichten. Dass dabei ebenfalls Reibung entsteht, ist durchaus erwünscht.
Luis Orozco ist Doktorand am Institut für Computerbasiertes Entwerfen und Baufertigung (ICD) und arbeitet an neuartigen Verfahren des Holzbaus mit dem Ziel, auch mehrstöckige Gebäude modular vorproduzieren zu können. Bei seiner Arbeit traf der Architekt in den vergangenen Monaten nicht nur auf Berufskolleg*innen oder Forschende aus den Bereichen Informatik und Ingenieurwesen. Einmal pro Woche fand er sich auch mit Deniz Hos vom Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart zusammen. Der Soziologe Hos beleuchtet gemeinsam mit Orozco die Forschungsschritte hinsichtlich ihrer ethischen, rechtlichen, sozialen oder auch ökologischen Folgen.
Wissenstransfer kann schwierig sein.
Luis Orozco
„Architektur und Bauwesen berühren viele verschiedene Aspekte und Menschen“, sagt Luis Orozco. Der STIR-Prozess ermögliche es, den Blick für die unterschiedlichen Perspektiven und Auswirkungen zu schärfen, etwa was die Belange der Arbeitenden in der Bauindustrie betreffe.
Im STIR-Projekt trafen sich Hos und Orozco fast drei Monate lang wöchentlich. Dabei arbeiteten die beiden zunächst in Gesprächen heraus, von welchen Annahmen Orozcos Forschung geleitet ist und welche Bezüge dabei zu den großen sozialen Herausforderungen bestehen. Ziel eines solchen Prozesses ist es, mögliche Folgen der Technikentwicklung – erwünschte wie unerwünschte – frühzeitig zu erkennen und mit den gesellschaftlichen Erwartungen abzugleichen. Hos betont, dass die sozio-technische Integration die jeweilige Forschung nicht nur begleitet, sondern vielmehr mitgestaltet. Gesellschaftliche Fragestellungen und Belange werden so von Beginn an Teil der wissenschaftlich-technischen Arbeit. „Wir gehen davon aus, dass die technologischen Entwicklungen nicht festgelegt sind, sondern dass es an vielen Stellen Entscheidungsspielräume gibt“, erklärt Prof. Cordula Kropp vom Lehrstuhl für Soziologie mit dem Schwerpunkt Risiko- und Technikforschung am Institut für Sozialwissenschaften.
Wenn wir nicht anecken würden, könnten wir keinen Fortschritt erzielen, also sind Reibungspunkte eingeplant.
Deniz Hos
Solche Spielräume würden jedoch häufig unbewusst genutzt oder nur mit Blick auf „das Günstigste“. Damit blieben Chancen, künftige Entwicklungen nachhaltiger oder verantwortlicher zu gestalten, ungenutzt. Durch die im STIR-Prozess erarbeiteten Gesprächsprotokolle könnten solche Optionen nicht nur bewusst gemacht, sondern genutzt werden. Vom Nutzen des Verfahrens ist auch Prof. Achim Menges vom ICD überzeugt: „Das Bewusstmachen der vielfältigen Aspekte, die es zu integrieren gilt, ist aus Sicht des Exzellenzclusters am wichtigsten.“ STIR verdeutliche, wie weit oder eng der Blick des einzelnen Forschenden bislang war und welche Perspektiven mit einbezogen werden könnten – „ein sehr wertvoller Beitrag“, so Menges.
Über die Forschung hinausblicken
Dass der Ansatz interdisziplinärer Gesprächsprotokolle im Exzellenzcluster IntCDC zum Einsatz komme, ist aus Menges’ Sicht eine sehr gute Entscheidung: Im Cluster arbeiten Forschende aus verschiedensten Bereichen, von der Architekturgeschichte über Materialwissenschaften und Bauingenieurwesen bis hin zur Robotik und den Sozialwissenschaften.
Wir stellen viele kritische Fragen und die Proband*innen versuchen darauf zu antworten.
Prof. Cordula Kropp
Der sozialwissenschaftliche Ansatz der sozio-technischen Forschungsintegration könne die Beteiligten einerseits dafür sensibilisieren, welche Prioritäten gewisse Themen in bestimmten Phasen hätten. Andererseits könne es gelingen, über die Forschung hinauszublicken und zu erkennen, welche Folgen Forschungsentscheidungen haben können, die sonst ohne größere Reflexion getroffen werden. „Eines unserer Probleme war, dass die Thematik so komplex ist, dass sogar innerhalb des gleichen Forschungsfeldes der Wissenstransfer von einer Arbeitsgruppe zur nächsten schwierig sein kann“, sagt Luis Orozco. Via STIR konnte er den Transfer innerhalb zweier Gruppen von Masterstudierenden testen: „Unser Ziel war, das Holzbausystem, das wir entwickeln, so einfach wie möglich auszudrücken, damit unser Wissen bestmöglich übertragen werden kann.“
Gleichwohl ist ein gewisses Maß an Konflikt im Gesprächsprozess durchaus erwünscht, wie Deniz Hos hinzufügt: „Wenn wir nicht anecken würden, könnten wir keinen Fortschritt erzielen, also sind Reibungspunkte eingeplant.“ In den beiden Projekten, in denen Hos arbeitete, habe es eine so gute Kommunikationsebene gegeben, dass er auch überspitzt habe fragen können, ohne dass es ihm auf der persönlichen Ebene übel genommen worden sei. „Ich konnte auch provokant nachhaken und hatte trotzdem immer das Gefühl, so einen Mehrwert zu erzielen.“
Es geht um eine Veränderung der Architektur, dafür sind mehr als Architektinnen und Architekten notwendig.
Prof. Achim Menges
Reibung sei etwa dann entstanden, wenn es um Aspekte ging, die aus Expertensicht für die rein technische Entwicklung nicht die oberste Priorität besaßen, zum Beispiel ethische Fragen oder der Zugang zu Baumaterial. Cordula Kropp ergänzt: „Uns erschien das IntCDC-Projekt gerade deshalb geeignet, weil es eine so radikale, disruptive Erneuerung ist, die die herkömmliche Bauweise fundamental verändern könnte.“
„Es geht um eine Veränderung der Architektur, dafür sind mehr als Architektinnen und Architekten notwendig“, sagt Achim Menges. Einbezogen werden müssten alle, die am komplexen Entstehen solcher Bauten beteiligt sind. Dazu gehörten auch sozialwissenschaftliche Fragen oder die historische Reflexion. Noch sei es zu früh, um abschließende Erkenntnisse aus dem Prozess zu ziehen, sagt Menges. Er hofft jedoch, dass das STIR-Verfahren innerhalb des Exzellenzclusters noch breitflächigere Anwendung findet.
Text: Jens Eber
Prof. Cordula Kropp, Institut für Sozialwissenschaften
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Telefon: +49 711 685 83941
Prof. Achim Menges, Institut für Computerbasiertes Entwerfen (ICD)
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