Materialmodelle aus Beton und Kunststoff

Atomare Endlager: Wie bleiben sie langfristig dicht?

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart (Ausgabe März 2021)

Prognosen sind besonders schwierig, wenn sie sich auf eine sehr ferne Zukunft beziehen, zum Beispiel in einer Million Jahren. Doch genau das wird gefordert bei den Langzeit-Sicherheitsanalysen für atomare Endlager. Dafür entwickeln Forschende nun eine bestimmte Simulationstechnik.

Eine Million Jahre – so lange sollen unterirdische Endlager für radioaktive Abfälle sicher sein. Das „Gesetz zur Suche und Auswahl eines Standortes für ein Endlager für hochradioaktive Abfälle“ schreibt es so vor. Welche Gebiete in Deutschland als Atommüll-Endlager infrage kommen, wurde im Herbst 2020 publik: 90 Standorte sind geologisch prinzipiell geeignet, dort befinden sich Salzstöcke, Tonschichten oder Granit. Ab 2050 sollen die ersten Behälter mit strahlendem Abfall eingelagert werden – doch wie kriegt man die Lagerstätten über so lange Zeiträume hinweg wirklich dicht?

Dr. André Schmidt

Denn auch die geeignetsten Gesteine, die das unterirdische Endlager einmal einschließen sollen, enthalten Hohlräume. Nach derzeitigem Stand der Technik sollen diese nach der Einlagerung des Atommülls mit Verschlusssystemen aus Beton – sogenannten Dämmen und Pfropfen – abgedichtet werden. Doch Beton ist ein junger Werkstoff, es gibt ihn erst seit dem 19. Jahrhundert. Ob er sich für die Abdichtung von Bergwerken wirklich eignet und wie er sich über eine Million Jahre hinweg verhält – niemand weiß es. Bleibt der Beton stabil? Und welche Auswirkungen haben geologische Effekte und andere Einwirkungen?

Um diese Fragen zu beantworten, haben sich das Institut für Nichtlineare Mechanik (INM), die Materialprüfungsanstalt der Universität Stuttgart und die Gesellschaft für Numerische Simulation (GNS mbH) in dem gemeinsamen Forschungsvorhaben ProVerB zusammengetan. ProVerB steht für „Prognosewerkzeuge für das mechanische Verhalten von Beton über lange Zeiträume zur Sicherheitsanalyse von Verschlusssystemen für Endlagerstätten“. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bewilligte Projekt wird eng von der Bundes­gesellschaft für Endlagerung (BGE) begleitet.

Dieser Wissenschaftszweig ist allgemein wenig bekannt.

Dr. André Schmidt, Institut für Nichtlineare Mechanik

Die Kernkompetenz der Antragsteller liegt in der konzeptionellen, mathematischen und numerischen Materialmodellierung. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Modellen mit sogenannten „fraktionalen Ableitungen“ für viskoelastische Werkstoffe. „Dieser Wissenschaftszweig ist allgemein wenig bekannt“, erklärt Projektleiter Dr. André Schmidt vom INM. „Durch die Verwendung fraktionaler Ableitungen zur zeitlichen Beschreibung des Deformationsverhaltens erschließt man sich neue Funktionsklassen, die zur Modellierung über große Zeitbereiche besonders gut geeignet sind.“ 

Traditionelle Schätzverfahren funktionieren nicht

Für konventionelle Betonbauwerke wird heutzutage mit einer Lebensdauer von 30 bis 50 Jahren gerechnet. Zur Überprüfung werden empirische Kriterien und gegebenenfalls regelmäßige Inspektionen eingesetzt. „Allerdings“, sagt Prof. Kai Diethelm, „sind die traditionellen Ansätze nicht anwendbar für die zeitliche Größenordnung, die zur Abschätzung der Langzeitsicherheit von Endlagern betrachtet werden muss. Daher müssen neue Verfahren entwickelt werden.“ Diethelm hält neben seiner Tätigkeit für die GNS die Professur für Mathematik und angewandte Informatik an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Würzburg-Schweinfurt, die das Projekt ebenfalls begleitet.

Digitale funkgesteuerte Messuhr am Prüfstand.

Im Rahmen von ProVerB entwickeln die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Simulationstechnik, die auf der Finite-Elemente-Methode basiert. Damit lassen sich dann beliebige Szenarien simulieren – soweit sich das Materialverhalten erfassen, beschreiben und numerisch abbilden lässt. Um die gesetzlich geforderte Langzeitsicherheit rechnerisch nachzuweisen, müssen klar definierte Annahmen getroffen werden. Das für die Vorhersage festgelegte Szenario erklärt Schmidt so: „Man betrachtet Beton ohne Bewehrung, also nicht mit Stahl armiert, in einem statischen, also zeitlich unveränderlich angenommenen Bergwerk. Unter diesen Bedingungen untersuchen wir, wie sich das Abdicht-Bauwerk über lange Zeiträume verhält.“ 

An diesem Punkt drängt sich die Frage auf, mit welcher Sicherheit man Aussagen darüber treffen kann, ob das Endlager dicht bleiben wird oder nicht. Schmidt formuliert es präziser: „Weitergehend gefragt heißt das: Was müsste man wissen, um mit hinreichender Sicherheit ein Versagen unter den gegebenen Annahmen auszuschließen?“

Projektbearbeiter Matthias Hinze erklärt die Funktionsweise des Prüfstands mit den eingebauten Beton-Probekörpern.

Zur Beantwortung dieser Frage holten sich die Projektpartner zusätzlich die Expertise des Teams um Prof. Wolfgang Nowak vom Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung (IWS) ins Boot. Der Institutsleiter und Forschungsleiter im Exzellenzcluster Simulation Technology (SimTech) ist Inhaber des Lehrstuhls für stochastische Simulation und Sicherheitsforschung für Hydrosysteme. Seine Spezialgebiete sind datenintegrierte Simu­lation, Unsicherheits- und Verlässlichkeitsanalysen sowie optimale Versuchsplanung. Unsicherheitsanalysen sind gefragt, wenn man das komplexe Langzeitverhalten von Beton vorhersagen möchte. Bisher werden hierfür Langzeitexperimente mit einer Dauer von bis zu drei Jahren durchgeführt und mithilfe von Simulationsmodellen ausgewertet.

Für Vorhersagen über einen Zeitraum von tausenden Jahren ist eine solche Herangehensweise jedoch viel zu unsicher. „Daher erfassen wir die Unsicherheiten bei der Auswertung der Experimente rigoros, sodass man im Vorhersagemodell die verbleibenden Unsicherheiten konkret benennen kann“, erklärt Nowak. Anschließend geht es um die Frage, wie markant diese Unsicherheiten sind: Welche Verlässlichkeiten (Wahrscheinlichkeiten nahe bei 100 Prozent) lassen sich erreichen, wenn man den Sicherheitsfaktor verdrei- oder verfünffacht? Und könnten Langzeitexperimente von fünf bis zehn Jahren die Unsicherheiten und somit Risiken verringern?

Große Geschütze

„Das Schöne ist, dass die meisten Simulationen ein- oder zweidimensional sind“, sagt Nowak. „Für die Berechnungen, Simulationen und Unsicherheitsanalysen sind das optimale Voraussetzungen, da einzelne Berechnungen sehr schnell sind. Wir reden von Millisekunden bis wenigen Sekunden, zumindest bei den ganz einfachen Fällen.“ Dies gibt den Forschenden die Möglichkeit, aufwendige Verfahren anzuwenden, die sonst ausscheiden würden, weil sie Monate, wenn nicht gar Jahre an Rechenzeit beanspruchen. Normalerweise muss bei solchen Arbeiten nämlich immer eine Modellreduktion stattfinden. „Aber in diesem Fall können wir die großen Geschütze anwenden, also statistische Methoden, die Millionen von Simulationsläufen benötigen, und ohne vorgeschaltete Modellreduktion“, erklärt Nowak. „Somit können wir an schnellen Modellen ganz frei all das ausprobieren, woran wir in SimTech und anderen Projekten für langsamere, größere Simulationen forschen.“

Am Ende dieses interdisziplinären Projektes soll ein flexibel einsetzbares Simulationswerkzeug für Langzeitanalysen zur Verfügung stehen, das mit einer Methodik zur Erfassung von Unsicherheiten verknüpft ist. Daraus könnten dann Empfehlungen abgeleitet werden, zum Beispiel über welche Dauer Langzeitexperimente durchgeführt werden sollten, um  ein Versagen des Verschlusssystems mit hinreichender Sicherheit auszuschließen.

Text: Sabine Sämisch/Andrea Mayer-Grenu

Dr. André Schmidt, Institut für Nichtlineare Mechanik (INM)
Mail
Telefon: +49 711 685 66275

Prof. Wolfgang Nowak, Institut für Wasser- und Umweltsystemmodellierung (IWS)
Mail
Telefon: +49 711 685 60113

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