Symbolbild Zeitungen

Facebook im 19. Jahrhundert

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart

Mit Hilfe digitaler Methoden wird an der Universität Stuttgart zur Informationsverbreitung durch Zeitungen im 19. Jahrhundert geforscht. Computerunterstützt lassen sich Muster des Informationsflusses über nationale und sprachliche Grenzen hinweg untersuchen.
[Foto: Jana Keck/ILW/Universität Stuttgart]

Im Projekt „Oceanic Exchanges“[en] analysiert ein internationales Team, wie sich Zeitungsnachrichten früher verbreitet haben. Die Universität Stuttgart ist mit Forschenden aus den Literaturwissenschaften, der Computerlinguistik und Informatik dabei.

Als am 27. August 1883 der Vulkan Krakatau zwischen den Inseln Sumatra und Java explodierte, erfuhren Menschen in Europa und anderen Kontinenten das bereits am nächsten Tag. Und zwar aus der Zeitung. „Der Ausbruch gilt als erstes globales Medienereignis“, sagt Prof. Marc Priewe, Leiter der Abteilung Amerikanische Literatur und Kultur am Institut für Literaturwissenschaft (ILW) der Universität Stuttgart. Wie konnte sich die Nachricht von der Katastrophe damals so schnell weltweit verbreiten? Das können Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler heute nachvollziehen, indem sie digitalisierte historische Zeitungen analysieren.

 Zu verstehen, wie die erste Globalisierung von Informationen im 19. Jahrhundert ablief, ist das Ziel des Projekts „Oceanic Exchanges“ (OcEx). Es vereint Forschende aus den USA, Mexiko, Finnland, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland. An der Universität Stuttgart sind neben dem ILW die Institute für Maschinelle Sprachverarbeitung sowie für Visualisierung und Interaktive Systeme beteiligt.

Druckerpresse und Telegrafie machten im 19. Jahrhundert die Massenpresse erst möglich. Immer mehr Menschen konnten lesen. Damit wuchs die Nachfrage nach politischen, aber auch sensationellen Informationen. „Zeitungen sind das Facebook des 19. Jahrhunderts“, zitiert Priewe den Initiator von OcEx, Ryan Cordell. Seit Jahren untersucht der Professor für amerikanische Literatur an der Northeastern University in Boston, wie die Blätter voneinander abschrieben. „Eine Meldung beginnt beispielsweise in New York und taucht dann einige Tage später in Louisville, Kentucky, auf“, erklärt Priewe.

„Bestimmte Nachrichten gingen viral, wie man heute sagt – vor allem Neues über Persönlichkeiten.“ Schon damals galt: „Bei Politikern wird mehr über ihre Familienverhältnisse berichtet, über die Kleidung“, hat Priewes Mitarbeiterin Jana Keck festgestellt. Die Zeitungsforscherin untersucht in ihrer Dissertation unter anderem, wie die Blätter der deutschen Auswanderer über die Sklaverei berichteten. „In den deutschsprachigen Zeitungen in Europa wird vor allem die Tatsache berichtet, dass es in den USA Sklaverei gibt. Die Auswanderer in den USA waren schockiert, weil sie sich der Existenz von Sklaverei nicht bewusst waren“, hat Keck herausgefunden. „Wir sehen, dass die deutschsprachigen Zeitungen in den USA eine Plattform der Diskussion schufen über den Widerspruch zwischen der amerikanischen Betonung von Freiheit einerseits und der Sklaverei andererseits.“

Wir wollen die Daten für die Öffentlichkeit und die Wissenschaft digital verfügbar machen und die Zeitungsseiten vor dem Verfall retten.“

Jana Keck, Abteilung Amerikanische Literatur und Kultur am Institut für Literaturwissenschaft

Datengrundlage von OcEx sind mehr als 100 Millionen computerlesbare Zeitungsseiten aus mehr als sieben Ländern. In Deutschland sind laut Priewe noch nicht einmal zehn Prozent der historischen Zeitungen digitalisiert. Begonnen wurde in den 1990er-Jahren. Bis heute scannen die Bibliotheken ihre Bestände. Dabei arbeiteten sie lange unkoordiniert und erzeugten damit uneinheitliche Datensätze. „Wir wollen die Daten für die Öffentlichkeit und die Wissenschaft digital verfügbar machen und die Zeitungsseiten vor dem Verfall retten“, sagt Keck. Deshalb arbeitet das Stuttgarter OcEx-Team eng mit der Staatsbibliothek Berlin zusammen. Die gibt Richtlinien heraus und schult andere Bibliotheken in den besten Methoden der Digitalisierung.

Denn die Qualität vor allem der frühen digitalen Erzeugnisse ist oft schlecht. „Bei der Texterkennung entstehen zum Teil seltsame Zeichenfolgen“, so Keck. Daher entwickelt die Gruppe in Stuttgart ausgefeilte digitale Such- und Textverarbeitungswerkzeuge. „So erhalten wir robuste Ergebnisse, weil wir nicht mehr nach einzelnen Wörtern suchen, sondern nach ganzen Phrasen.“ Das Team setzt neuronale Netze in Wahrscheinlichkeitsmodellen ein, um vorherzusagen, welches Wort in welchem Kontext vorkommt – also beispielsweise, wann bei „Schloss“ ein Türschloss gemeint ist und wann ein Gebäude. Zudem erarbeiten die Stuttgarter Methoden, um die Forschungsergebnisse bildhaft und verständlich darzustellen.

Vor der Digitalisierung musste man in die Archive steigen und jede einzelne Zeitungsausgabe durchschauen. Wir stehen am Beginn einer Revolution, wenn wir nun vom Computer aus mit Schlüsselbegriffen die Daten durchsuchen.“

Prof. Marc Priewe, Leiter der Abteilung Amerikanische Literatur und Kultur am Institut für Literaturwissenschaft

Die Werkzeuge von OcEx machen nicht nur sichtbar, auf welchen Wegen sich Nachrichten verbreiteten, sondern auch, wer Texte veränderte. „Man kann die Bedeutung dieser Möglichkeiten gar nicht hoch genug einschätzen“, betont Priewe. „Vor der Digitalisierung musste man in die Archive steigen und jede einzelne Zeitungsausgabe durchschauen. Wir stehen am Beginn einer Revolution, wenn wir nun vom Computer aus mit Schlüsselbegriffen die Daten durchsuchen.“ Der Forscher gibt ein weiteres Beispiel: In den 1830er-Jahren wurden die Indianer im Südosten der USA gewaltsam nach Oklahoma umgesiedelt. „Das wird in der Geschichtswissenschaft Trail of Tears genannt, also Pfad der Tränen. Wenn man diesen Begriff in zeitgenössischen Zeitungen sucht, findet man dazu nichts“ – weil er erst später geprägt wurde. „Wir arbeiten an einem Werkzeug, das erst zum Wikipedia-Artikel über den Pfad der Tränen springt und dann mit den Begriffen daraus die Zeitungen durchsucht.“

Zwar endet das Projekt OcEx im Sommer 2020, aber „die geisteswissenschaftlichen Fragen hören nie auf“, sagt Keck. Dank digitaler Werkzeuge könnte in Zukunft nichts so neu sein wie die Zeitung von vorvorgestern.

Text: Daniel Völpel

Prof. Marc Priewe
Abteilungsleitung Amerikanische Literatur und Kultur
Institut für Literaturwissenschaft

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