Tibetanische Mönche

Mut zum Risiko

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Das Förderprogramm „Terra incognita“ ermöglicht Wissenschaftler*innen die Freiheit, Forschung in unbekannten Zukunftsbereichen zu betreiben.
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„Terra incognita“ heißt ein neues Förderprogramm der Universität Stuttgart, mit dem Forschende buchstäblich Neuland betreten sollen. Zwei Beispiele aus der ersten Ausschreibungsrunde.

Prof. André Bächtiger streitet nicht gern. „Ich bin jemand, der wahnsinnig gern kooperativ mit Leuten über Themen redet“, sagt der Leiter der Abteilung für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. „Aber“, fährt er fort, „ich habe gemerkt, dass mich im akademischen Kontext robuste Debatten erheblich weiterbringen, obwohl ich sie psychologisch nicht gernhabe.“ Diese persönliche Erkenntnis erklärt vielleicht einen seiner Forschungsschwerpunkte: die Frage, auf welche Weise Menschen am besten kommunizieren sollten, um zu lernen und gegenseitiges Verständnis zu entwickeln.

Eine Antwort erhofft sich Bächtiger – gemeinsam mit einem interdisziplinären Team aus den Bereichen Computerlinguistik, Sozialwissenschaften und Philosophie – von seinem neuen Projekt. Unter dem Titel „Optimale Kommunikation: Experimentalforschung in Kombination mit Simulation und Computerlinguistik“ führen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler ein Online-Experiment durch: Die Teilnehmenden werden in Gruppen eingeteilt, die in unterschiedlichen Gesprächsformaten ein umstrittenes Thema diskutieren.

In dem Format „Contestatory Inquiry“ – übersetzt etwa: „von Streit geprägte Ermittlung“ – zum Beispiel konfrontiert ein Moderator oder eine Moderatorin die Teilnehmenden mit Gegenargumenten und fordert sie zur Reaktion auf. Im Format „Appreciative Inquiry“ – „wertschätzende Ermittlung“ – werden die Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Positionen betont. Danach prüfen am Experiment unbeteiligte Experten, darunter Philosophinnen und Philosophen, wer die fundiertesten und meisten Argumente vorbrachte – individuell und als Gruppe.

Tibetanische Mönche praktizieren eine konfrontative Debattenkultur.
Tibetanische Mönche praktizieren eine konfrontative Debattenkultur.

NEUE WEGE ZU BESSERER KOMMUNIKATION

Bächtigers Hypothese ist, dass das konfrontative Format womöglich den größeren Erkenntnisgewinn bringt, aber nicht das größte Gemeinschaftsgefühl. In Kombination mit der neuartigen computerlinguistischen Auswertung des gesamten Forschungsexperiments sieht Bächtiger das Projekt als Pionierforschung. Hinzu komme eine hohe Relevanz der Fragestellung, so der Prodekan am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Stuttgart. „Debatten, sei es in der Politik oder in Talkshows, haben heute ein sehr schlechtes Image. Viele Menschen denken: ,Was bringt das? Die schlagen sich die Köpfe ein, und am Ende hat keiner etwas gelernt.‘“ Falls die geplanten Analysen gelingen, könnte das Projekt Wege aufzeigen, wie etwa Kommunikation im Internet oder auch in Bürgerforen optimal gestaltet und analysiert werden kann.

Debatten, sei es in der Politik oder in Talkschows, haben heute ein sehr schlechtes Image. Viele Menschen denken:'Was bringt das? Die schlagen sich die Köpfe ein, und am Ende hat keiner etwas gelernt.'"

Prof. André Bächtiger

Bächtigers Projekt ist eins der ersten sechs Vorhaben, die durch das neue Forschungsförderprogramm „Terra incognita“ der Universität Stuttgart finanziert werden. Terra incognita heißt es, weil die Universität buchstäblich Neuland damit erschließen will. Oder genauer: Sie will es Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern ermöglichen, dies zu tun. Alle Forschenden an der Universität können die Förderung beantragen, einzeln oder im Team. Ausgewählte Projekte werden sechs bis zwölf Monate lang mit einer Summe von bis zu 50.000 Euro unterstützt.

Der programmatische Freiraum zu scheitern ist etwas, das Ruth Corkill an der neuen Förderung besonders imponiert. Auch ihr Projektantrag mit dem Titel „Magnetomyographie von Skelettmuskeln“ war erfolgreich. „Bei Projektanträgen wird man oft gedrängt, das Risiko herunterzuspielen“, sagt die Physikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Modellierung und Simulation biomechanischer Systeme (IMSB). „Es muss möglichst so klingen, als sei schon von vornherein klar, welchen Weg die Forschung nimmt – was überhaupt nicht realistisch ist. Das veranlasst Forschende wiederum dazu, ein Projektkonzept eher konservativ anzulegen. Aber in so einem Raum passiert eben gerade keine Innovation.“ Terra incognita dagegen unterstütze Kreativität, so Corkill, denn hier gelte die Einsicht: „Hohes Risiko, aber auch hoher Gewinn.“

MUSKELAKTIVITÄT BESSER VERSTEHEN

Bei Corkills Projekt geht es um einen radikal neuen Ansatz, um elektrische Aktivität von Skelettmuskeln genauer messen zu können.Das Thema berührt grundlegende medizinische Fragen: „Wenn die Muskelaktivität beeinträchtigt ist, kann das die Bewegung behindern oder sogar die Atmung und andere fundamentale Fähigkeiten des Körpers. Um aber neue Therapien zu entwickeln, müssen wir die Mechanismen der Muskelaktivität noch viel detaillierter verstehen. Dazu benötigen wir eine bessere räumliche und zeitliche Auflösung, und wir müssen es schaffen, auf eine nichtinvasive Weise viel tiefer in die Muskeln hineinzuschauen.“

Elektrische Aktivität von Skelettmuskeln
Die Aktivität von Skelettmuskeln soll detaillierter sichtbar werden.

Doch das bisher vorherrschende Verfahren der Elektromyographie, also der Messung von elektrischen Signalen, hat ein unüberwindbares Handicap: Elektrische Signale zerfallen, während sie sich durch biologisches Gewebe verbreiten. Corkill denkt, dass die Messung von Magnetfeldern, die durch die elektrische Aktivität der Skelettmuskeln erzeugt werden, den notwendigen Paradigmenwechsel bringen könnte. Denn die Abschätzung von Ort und Größe einer bioelektrischen Quelle mittels magnetischer Messung verspricht eine höhere Genauigkeit.

Corkill kooperiert mit weiteren Expertinnen und Experten aus der Quantenphysik, Simulationstechnologie und Ethik, um neuartige Quantensensoren für diese Messungen zu entwickeln sowie Messungen durchzuführen, die das Konzept bestätigen.

Die Neuseeländerin, die seit April 2018 an der Universität Stuttgart forscht, erfuhr von Terra incognita durch ihren Betreuer Prof. Oliver Röhrle, Prodekan der Fakultät für Bau- und Umweltingenieurwissenschaften. Ausgestattet mit einem Master in Physik und einem Master in Lyrik, war Corkill nach Stuttgart gekommen, weil sie die Möglichkeit sah, bei Röhrle anspruchsvolle Physik mit Anwendungen zu verbinden, „die etwas Positives für Menschen bewirken“.

Text: Judith Reker

Prof. Dr. André Bächtiger
Institut für Sozialwissenschaften
Abteilung für Politische Theorie und Empirische Demokratieforschung

Ruth Corkill
Research Assistant
Institute for Modelling and Simulation of Biomechanical System

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