Hart wie Honig

forschung leben – das Magazin der Universität Stuttgart

Materie, die gleichzeitig fest und flüssig ist: Stuttgarter Physiker weisen erstmals die Suprasolidität nach.
[Foto: Wolfram Scheible]

Die Suprasolidität wurde 1957 prognostiziert. Ihr Nachweis gelang nun Prof. Tilman Pfau und seinem Team.

Fast 20 Jahre hat es gedauert, bis Prof. Tilman Pfau diesen „besonderen Moment“, wie er es im Rückblick formuliert, erleben durfte. Im Jahr 2000 wurde er als Experimentalphysiker an die Universität Stuttgart berufen, wo er das 5. Physikalische Institut leitet. Seitdem hat er sich mit jener Frage beschäftigt, auf die nun sein Team eine endgültige Antwort fand: Ja, es gibt das erstmals in den Fünfzigerjahren prognostizierte Phänomen der Suprasolidität tatsächlich!

Um zu verstehen, was sich hinter diesem Wort verbirgt, stelle man sich so vertraute Leckereien wie Honig oder Eis vor. „Wenn Honig altert, beginnt er im Glas zu kristallisieren. Man hat dann gleichzeitig festen und flüssigen Honig“, erläutert Pfau. Eine ähnliche Situation erlebt, wer seine Eiskugeln zu langsam isst: Sie beginnen zu schmelzen. Mit einer suprasoliden Substanz ist es ähnlich. Sie liegt gleichzeitig als Festkörper und als Flüssigkeit vor. Mit einem wichtigen Unterschied, wie der Physiker betont: „Im Honig und im Eis gehören die Atome entweder zum Festkörper oder zur Flüssigkeit, in einer suprasoliden Substanz dagegen ist jedes Atom Teil von beiden, die Atome sind sozusagen gleichzeitig fest und flüssig.“

Prof. Tilman Pfau (links) arbeitet mit seinem Team im Labor.

Grundlagenforschung in Reinform

Dass es diese – die Vorstellung sprengende – Möglichkeit überhaupt gibt, liegt an der Quantenphysik. Atome und weitere Teilchen verhalten sich anders, als es die physikalischen Gesetze erwarten lassen, mit denen sich das Fallen eines Steins beschreiben lässt. In mikroskopischen Dimensionen können Teilchen ununterscheidbar voneinander sein.

Sie sind zugleich Teilchen und Welle, ihr Aufenthaltsort und ihre Geschwindigkeit lassen sich nie zusammen exakt ermitteln. Auch wenn in der Quantenwelt also Dinge passieren, die dem gesunden Menschenverstand widersprechen, so kann man dank ihr viele Phänomene des Alltags erklären – zum Beispiel, warum die Sonne leuchtet. Und wir können die Quantenphysik für technische Gegenstände nutzen, etwa für Laser oder LEDs. 

Aggregatzustand Suprasolidität

„Die Quantenwelt wirkt sich aber auch auf die möglichen Aggregatzustände der Materie aus“, sagt Pfau. Im Alltag unterscheiden wir zwischen fest, flüssig und gasförmig. Physiker kennen jedoch noch weitere Aggregatzustände der Materie, die sie im Labor erzeugen können. Notwendig sind dafür tiefe Temperaturen. Wirklich tiefe. Weniger als ein Millionstel Grad über dem absoluten Nullpunkt, der bei -273,15 °C liegt. Kälter kann nichts im Universum werden. In dieser Kälte stießen Pfau und sein Team auf die Suprasolidität: „Geeignete Materialien bestehen aus Atomen, die gleichzeitig die Eigenschaft eines Kristalls, also eines Festkörpers, und die einer Flüssigkeit haben.“ Es ist Grundlagenforschung in Reinform – Fragen nach technischen Anwendungen kommen viel zu früh. Ein Vergleich aus einem völlig anderen, aber ebenfalls „tiefkalten“ Forschungsbereich mag das verdeutlichen: dem Bereich der Supraleitung. Schon seit 1911 ist bekannt, dass bestimmte Materialien bei extrem tiefen Temperaturen elektrischen Strom verlustfrei leiten. Bei der technischen Umsetzung dieser Erkenntnis gibt es aber erst in jüngster Zeit erkennbare Fortschritte. Ähnlich könnte es bei der Suprasolidität sein.

Das Stuttgarter Physikerteam weist neue Materiezustände nach.

Fließendes Helium

Auf der Jagd nach der Suprasolidität nutzten Physiker in aller Welt lange Zeit Helium. Dieses hatte sich bereits bei einem anderen Phänomen der Tieftemperaturphysik als gutes Material erwiesen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts sind Physiker in der Lage, Helium so weit abzukühlen, dass es nahe dem absoluten Nullpunkt flüssig wird. Dieser flüssige Aggregatzustand ist aber aufgrund der Quantenwelt ein besonderer: Helium zeigt dann keine innere Reibung mehr, was sich so äußert, dass es über Hindernisse fließt, die es gemäß den makrophysikalischen Gesetzen gar nicht hätte überwinden können. Physiker bezeichnen diesen Aggregatzustand in Anlehnung an eine Flüssigkeit als supraflüssig. Wenn also Tilman Pfau von Suprasolidität spricht, meint er streng genommen einen Aggregatzustand, in dem Atome gleichzeitig Teil eines Kristalls und einer Supraflüssigkeit sind.

Geeignete Materialien bestehen aus Atomen, die gleichzeitig die Eigenschaft eines Kristalls, also eines Festkörpers, und die einer Flüssigkeit haben.

Prof. Tilman Pfau

„Helium erwies sich für diese Art von Untersuchungen jedoch als ungeeignet“, erzählt Pfau. „Suprasolides Helium kann es wohl gar nicht geben.“ Forschende wandten sich daher anderen Elementen zu. Lange galt Chrom als Hoffnungsträger, auch in Stuttgart. „Nahe dem absoluten Nullpunkt spielen zwei Arten von Wechselwirkungen zwischen den Atomen eine Rolle“, sagt Pfau. „Kommen sich zwei sehr nahe, stoßen sie sich ab wie Billardkugeln. Zugleich wirken Chrom-Atome über längere Distanzen magnetisch aufeinander ein, sie können sich anziehen oder abstoßen.“

Man darf sich die Materialprobe, mit der das Stuttgarter Team experimentiert, allerdings nicht als Metallstück vorstellen. Vielmehr geht es darum, eine möglichst große Zahl einzelner Atome kontrolliert bei tiefen Temperaturen zu einem Kondensat zusammenzuführen, an dem sich dann die eigentlichen Untersuchungen – suprasolide oder nicht? – durchführen lassen. In so einem Kondensat, dessen Dichte geringer als die von Luft ist, müssen sich alle Atome in vollkommener Harmonie miteinander bewegen, erst dann tritt der angestrebte Quanteneffekt auf: die Ununterscheidbarkeit der Atome. Gezielt lässt sich das über die passende Balance zwischen Billardkugelzusammenstößen kurzer Reichweite und magnetischer Wechselwirkung langer Reichweite einstellen. „Es klappte aber nicht, das Chrom-Kondensat ist immer wieder kollabiert“, sagt Pfau. „Wir konnten nichts messen.“

In der Quantenwelt: Atome vorn als Kristal, in der Mitte supersolid, hinten superflüssig.

Wettlauf mit anderen Forscherteams

Sein Team suchte daher weiter nach Alternativen. Die Wahl fiel auf Dysprosium, ein Metall aus der Gruppe der seltenen Erden. Es weist nochmals deutlich günstigere magnetische Eigenschaften auf. Für das Experiment in Stuttgart war es die entscheidende Weichenstellung. Pfau erinnert sich: „2015 ist es uns gelungen, Tröpfchen aus Dysprosium herzustellen, die nicht kollabierten. Ich hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass es überhaupt geht.“ Allerdings eigneten sich die Tröpfchen noch immer nicht, um die Suprasolidität messtechnisch nachzuweisen – aber sie waren stabil, das war entscheidend.

Prof. Tilman Pfau gelingt als erstem der Nachweis

In der Folgezeit verfeinerte das Stuttgarter Team das Verfahren zur Erzeugung der Dysprosium-Tröpfchen immer weiter. „2018 gelang es uns dann, die Atome so langsam und vorsichtig zu einem Kondensat zusammenzufügen, dass sie für die erforderlichen Messungen stillhielten.“ Die Zeit drängte inzwischen, denn das Stuttgarter Team war nicht mehr das einzige, das der Suprasolidität auf der Spur war. Drei Kriterien muss ein Kondensat erfüllen, um zweifellos als suprasolide zu gelten. Es muss sich eine Kristallstruktur ausbilden. Diese muss in eine Supraflüssigkeit eingebettet sein. Und im Kondensat müssen sich Schallwellen auf eine charakteristische Weise ausbreiten. Vor allem die Messungen zur Schallgeschwindigkeit waren eine harte Nuss, die noch niemand geknackt hatte. In Stuttgart gelangen sie Anfang des Jahres. „Drei, vier Tröpfchen reichten letztlich für die Messung aus“, so Pfau.

Sie seien mit den Ergebnissen sofort zum Kollegen Prof. Hans Peter Büchler, Leiter des Instituts für Theoretische Physik III, gegangen. Er sollte überprüfen, ob die experimentellen Ergebnisse tatsächlich mit theoretischen Überlegungen übereinstimmten. „Erst nach intensiven Diskussionen mit ihm war ich überzeugt, dass wir tatsächlich die Suprasolidität nachgewiesen hatten.“

Text: Michael Vogel

Der Beitrag erschien im Magazin forschung leben

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