Vortrag Bundespräsident Gauck


Skeptisch gegenüber Volksentscheiden auf allen Ebenen

Vortrag von Bundespräsident Joachim Gauck, 18.12.13
„Mehr Bürgergesellschaft wagen“ war die Gedächtnisvorlesung von Bundespräsident Joachim Gauck anlässlich des 50. Todestags von Theodor Heuss überschrieben. Mehr als 900 Gäste lauschten Gaucks Gedanken zu seinem Amtsvorgänger, dem Für und Wider von Bürgerbeteiligung – und seinem Verhältnis zu Stuttgart.
 
 
Schon mehr als eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung hatten sich vor den Einlasskontrollen lange Schlangen gebildet.  Die Veranstaltung, zu der die Theodor-Heuss-Stiftung und die Universität eingeladen hatte, fand, wie erwartetet,  große Resonanz. Uni-Rektor Prof. Wolfram Ressel  und Gabriele Müller-Trimbusch, Vorstandsvorsitzende der Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus begrüßten die zahlreich erschienen Gäste aus Politik, Wissenschaft und der interessierten Öffentlichkeit.
 
 
Neue Möglichkeiten durch neue Medien
Genauso viel Beteiligung wie an diesem Abend wünschte sich Gauck auch am gesamten gesellschaftlichen Leben. „Ich wünsche mir aktive Bürger“, sagte er, und nannte als Beispiele Parteien, Gewerkschaften und Bürgerinitiativen als Möglichkeiten, sich einzumischen. Über viele dieser Formen wäre Theodor Heuss, wenn er heute noch lebte, „sicherlich überrascht“, knüpfte Gauck immer wieder an den Anlass für die Gedächtnisvorlesung und den 50. Todestag des ersten Bundespräsidenten an. Gauck erklärte, dass die zurückhaltende bis ablehnende Position von Theodor Heuss gegenüber pebliszitären Elementen in der repräsentativen Demokratie auf die historische Situation der Neugründung des öffentlichen Lebens nach den Erlebnissen des NS-Terrors zurückzuführen sei. „Vollständig befremdet wäre Heuss wahrscheinlich, würde er vor einem Laptop sitzen und dort sehen, wie der Einzelne sich mit Hilfe des Internets Gehör verschaffen kann wie nie zuvor.“ Dabei ginge es meistens nicht nur darum, etwas zu verhindern, sondern konstruktiv mitzugestalten. Dadurch erhalte die Bürgergesellschaft „ein frisches Gesicht. Aus dieser Kraft wird die repräsentative Demokratie schöpfen.“ Eine größere Beteiligung, „so hoffte ich, bedeute weniger Entfremdung zwischen Bürger und Staat“, erinnerte er sich an den bürgerbewegten Herbst 1989, und zufriedenere Bürger, auch wenn diese in Abstimmungen verloren hätten. Das gelte aber nicht in Stuttgart, sagte er mit einem Augenzwinkern. Manchmal drohten Plebiszite auch, „Gräben in der Gesellschaft zu vertiefen statt sie zu überbrücken – zu diesem Kapitel könnten Sie hier eine Menge mehr erzählen als ich“, sagte er an die Zuhörer gewandt.
 

Gefahren von Volksentscheiden
Joachim Gauck zeigte sich allerdings skeptisch, dass diese Beteiligung auf allen Ebenen geschehen solle. Es lohne sich die Frage zu stellen, ob von Volksentscheiden auf Bundesebene immer mehr Demokratie zu erwarten sei, sagte er. „Der Glaube, Volksentscheide begünstigten eine tolerante und demokratische Politik, erweist sich gelegentlich als Irrglaube.“ Es bestünde die Gefahr, dass „die Arbeit des Parlaments ausgehöhlt werde“, dabei sei dieses der Ort, der „populistische Strömungen aushalten und abfedern“ kann und auch Kompromisse kenne. Er sehe zwei große Gefahren, zum einen durch eine geringe Wahlbeteiligung, die dazu führe, dass eine hochmotivierte und gut vernetzte Interessensgruppe einen überproportionalen Einfluss bekomme. Und es könne eine „Missachtung der Minderheit durch die Mehrheit geben“. Als aktuelles Beispiel nannte er eine Abstimmung in Kroatien, nach der nur das traditionelle Ehemodell in der Verfassung festgeschrieben wird und es nun wegen des Erfolgs von derselben Seite Bestrebungen gebe, auch die Rechte der nationalen Minderheiten per Referendum einzuschränken.

 
Dass er sich in Stuttgart wie zuhause fühle, „weil ich mit Ihnen das Gefühl teile, Bürger zu sein“, und deshalb auch die eine oder andere Anekdote zum Besten gab, zeigte Gauck nach der Vorlesung, für die ihm das Publikum mit langem Applaus und stehenden Ovationen dankte. Beim anschließenden Empfang kam der Bundespräsident noch mit zahlreichen Gästen ins Gespräch.
 

Hier finden Sie unter YouTube einen Mitschnitt des Vortrags.