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Stuttgarter Impulse

Von der Natur gefangen

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Frei Otto, Architekt

Von Kateryna Serebryakova

Institut für Leichte Flächentragwerke, Stuttgart 1967/68

In den 1980er Jahren hatte Frei Otto ein Lieblingsspiel. Dem Besucher des Instituts für Leichte Flächentragwerke in Stuttgart-Vaihingen zeigte er die Luftaufnahme des Universitätscampus mit der Aufforderung: "Nun zeigen Sie mir mal mein Institut!"

Der Blick des Fremden wanderte durch das Grüne über mehrere Institutsgebäude hinweg und stieß plötzlich auf das grau eingedeckte Zeltdach, hoch aufragend, aber kaum sichtbar. Das ist das Institutsgebäude im Pfaffenwaldring 14 und das 1:1-Modell zum deutschen Ausstellungspavillon der EXPO '67 in Montreal.

Lange Suche und Überraschung des Gastes waren das größte Lob für Frei Otto: Sein Bau ist ein "Teil der Natur, ein Teil des Ganzen!"

 

"Architektur ist die Mutter der Ruinen"

Am Anfang war der Name "Frei", von seinen Eltern erfunden. Der Geist der Freiheit herrschte in der jungen Weimarer Republik. Der erstaunte Standesbeamte meinte, dass so ein Name dem Kind in der Zukunft nicht schaden könne.

Als Kind wollte Frei Otto Erfinder werden. Er erfand permanent und alles mögliche: von einer Nähmaschine bis zu Flugzeugmodellen. Nach seinem Abitur 1943 geriet der Sohn eines Bildhauers in den Krieg. Die Fasanenfeder- und Segelflugzeuge mussten zurückbleiben.

Otto wurde Ende 1944 zum Jagdflugzeugpiloten ausgebildet. Das Kriegsende brachte zuerst amerikanische und später französische Gefangenschaft für ihn: Hunger, Ungewissheit und Arbeit als Lagerarchitekt in Würzburg, Mutterstadt und Chartres. Seine ersten ausgeführten Entwürfe waren Kasernen und Friedhöfe. Gleich nach der Entlassung entwarf er einen Kinderspielplatz und nahm am Berliner Wettbewerb "Rund um den Zoo" teil.

 

Verborgene Welt der kühnen Ideen

Die Architektur wurde zur Berufung für Frei Otto, die Architektur, die human und natürlich ist, die aber, wie die Natur, sehr leicht zerstört werden kann. "Brennende Städte wurden zu einem harten Einführungskurs für junge Architekten."

 

"Weniger ist mehr" - architektonische Ästhetik

1948 begann Frei Otto sein Architekturstudium an der Technischen Universität Berlin während der Berliner Blockade. Nebenbei besuchte er auch Kurse über moderne Kunstgeschichte, modernes Bauen sowie Vorlesungen des Studium Generale in Biologie, Musik und Geschichte.

1950 unternahm er als einer der ersten deutschen Studenten in der Nachkriegszeit eine Reise durch die USA als Stipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes, wo er die Architekten Mies van der Rohe, Frank Lloyd Wright, Eero Saarinen und Richard Neutra kennen lernte. Die großen Architekturbüros der USA experimentierten damals mit streng ökonomisch geplanten Bauflächen und Formgestaltung. Man befasste sich mit folgenden Baugrundtypen: dem Hochhaus in der Stadtmitte, weitläufigen Unternehmensgeländen mit Büros und Wohnbereichen auf dem Lande und mit Baukörpern mit expressiven und symbolischen Zügen.

Beflügelt von den Ideen des organischen und materialaufwendigen Bauens kehrte Frei Otto ins kriegszerstörte Europa zurück und promovierte im Herbst 1953 mit der Dissertation "Das hängende Dach", das eine "natürliche" Lösung der architektonischen Probleme wirtschaftlicher und technischer Natur darstellte. Aus Seilnetz- und Membrankonstruktionen entstand eine feine Mischung aus Innenraum und Natur.

Von nun an entwarf der junge freie Architekt in Berlin eine Atelierschrift, Konstruktionen und Bauten verschiedener Pavillons in Deutschland und die Entwicklungsstätte für den Leichtbau in Berlin im Jahr 1957.

Mehr über organische Architektur

Studienmodell der Konzerthalle in Berlin-Lietzensee, Anfang 1950er  Studienskizzen eines Möbelstücks, Anfang der 1950er  

Hintergrundinformation: Mies van der Rohe

"Weniger ist mehr": Der Grundsatz von Mies van der Rohe, deutsch-amerikanischer Architekt (1886-1969), zeigt sich deutlich in der strengen Schlichtheit seiner Gebäude, die leicht über ihre Eleganz und über die feinen Maßverhältnisse hinwegtäuscht.

Hintergrundinformation: "Das hängende Dach"

Frei Ottos Dissertation "Das hängende Dach" wurde mit "gut" benotet und als eine Arbeit bewertet, "deren Inhalt und Form den akademischen Regeln nur bedingt entsprachen". Im Jahr 1954 wurde die Dissertation im Bauwelt-Verlag in Berlin publiziert und hatte eine schnelle und breite Wirkung auf die Baupraxis.

Die Geschichte des modernen hängenden Daches reicht in die Frühgeschichte der Menschheit zurück. Das Zelt, die Form des ersten Zuhauses, ist die älteste Bauform: gleichzeitig temporär und zeitlos, beweglich und stabil, schön und praktisch.

"Das hängende Dach ist eine zwischen festen Punkten gespannte Haut, die zugleich Dachkonstruktion und Dachhaut ist. Die Haupttragelemente des hängenden Daches liegen grundsätzlich in der Dachhaut, werden im wesentlichen nur auf Zug beansprucht und sind mindestens in einer Richtung negativ (durchhängend) gekrümmt. Das hängende Dach ist die Umkehrung der druckbeanspruchten Schalenkonstruktion. Das bei der Schale gefürchtete Ausbeulen kann beim hängenden Dach nicht auftreten. Die Membrane (gespannte Haut) aus Tuch oder Blech charakterisiert am besten das Wesen des hängenden Daches im Zelt. Zumeist ist es wirtschaftlicher, die Membrane durch ein Seilnetz zu ersetzen und dieses dann auszufachen. Sind Seile nur in einer Richtung gespannt und quer darüber durchlaufende Träger gelegt, so ergibt das ein Seil-Trägernetz.
Im ebenen hängenden Dach sind Seile derart gespannt, dass sie trotz ihrer Krümmung in einer verhältnismäßig dünnen, ebenen Platte untergebracht werden können."

(aus "Das hängende Dach")

Schnitte und ein Messpunkt vom Vierpunktmessmodell und eine Skizze der Versuchsanordnung  

Hintergrundinformation: organische Architektur

Als "organische Architektur" wird alles bezeichnet, was nicht aus rein geometrischen Formen zusammengesetzt ist und so wirkt, als könne es natürlich sein. Damals suchten die Architekten nach Alternativen, um nicht ständig andere Stile nachahmen zu müssen.

Hintergrundinformation: Atelierschrift

Die Schrifttype wurde 1950 von Frei Otto entworfen und mit der Gründung seines Berliner Ateliers 1952 als Atelierschrift eingeführt. Sie wurde sowohl zur Beschriftung von Zeichnungen, Büchern und Zeitschriften als auch am Computer eingesetzt.

Mehr unter externer Link http://www.freiotto.com/FreiOtto%20ordner/FreiOtto/Hauptseite.html

Hintergrundinformation: Entwicklungsstätte für den Leichtbau

Die Entwicklungsstätte für den Leichtbau (EL) wurde als wissenschaftliches Laboratorium auf dem Gebiet des "zugbeanspruchten und biegeunsteifen Flächentragwerks" in Berlin errichtet. Ihre Forschungsaufgaben wurden im Jahr 1964 auf das Stuttgarter Institut für Leichte Flächentragwerke übertragen.

 

Man lernt, solange man lehrt

Frei Otto hat eine besondere Haltung zur Lehre der Architektur: Man kann sie nur schwer lehren, vielleicht nur ihre Grundlagen. Das Entwerfen aber kann gar nicht gelehrt werden, statt dessen wird der empirische Weg gewählt. "Ich entwerfe nicht, ich suche", sagt Frei Otto.

Der Lehrer selbst ist kein Richter, sondern er verbreitet eigenes Wissen, zeigt die Wege zu Neuem und lernt gemeinsam mit den Schülern auf noch unbekannten Gebieten. In diesem Sinne lehrte Frei Otto als Gastprofessor an vielerlei Stationen: 1958 an der Washington University St. Louis, 1959/1960 in Ulm an der Hochschule für Gestaltung, 1960 an der Yale University, 1962 an der University of California in Berkeley, am M.I.T. und an der Harvard University, ab 1964 in Stuttgart als Honorarprofessor und ab 1976 als Ordentlicher Professor.

 

Institut mit Leichtigkeit geleitet

1964 wurde der promovierte Diplomingenieur Frei Otto an die damalige Technische Hochschule Stuttgart gerufen: Eigens für ihn wurde das Institut für Leichte Flächentragwerke gegründet, eine Forschungseinrichtung, die wegen ihrer interdisziplinären Arbeitsmethoden schon nach wenigen Jahren weltbekannt war. Professor Frei Otto leitete sein Institut und lehrte in Stuttgart 26 Jahre lang, bis zu seiner Emeritierung. Danach blieb das Institut einige Jahre "kopflos" oder "dachlos". Man sprach sogar von seinem Zerbrechen. Doch heutzutage heißt es Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren und wird von Professor Werner Sobek geleitet.

Portrait von Frei Otto im Institut für Leichte Flächentragwerke  

Hintergrundinformation: Institut für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren

Mehr unter externer Link https://www.uni-stuttgart.de/ilek/Geschichte/

 

Babylon im "Tal der Architektur"

Die studentische Bewegung 1968 erfasste die junge Generation in den USA und Europa. Der Protest richtete sich gegen alle herrschenden Autoritäten in Gesellschaft und Staat sowie gegen diktatorische Staatsformen in der Welt. Frei Otto erinnerte sich an diese Umbruchzeit für die Technische Hochschule Stuttgart und für die Abteilung Architektur:

"Es brannten Schulen und Lehrstühle in Californien, England, Japan und Paris. In Stuttgart nicht. Stuttgart war ja nicht konservativ. Hier wurde ideologisch relativ progressiv gedacht und milde gestritten. Organisatorisch wurde aber kräftig reformiert. Später wurde bald restauriert.
Die Revolution war ein Sturm, der viel brachte und zugleich knickte.
Die berühmte eine Baufakultät brach auseinander. Mit acht Fachbereichen wollte man mehr Macht. Man verlor sie. Architektur, Städtebauer, Geodäten, Konstrukteure, Ingenieure, Wasserbauer, Verkehrsplaner strebten auseinander, sprachen andere Sprachen, jeder hatte bald nur noch ein Stimmchen. Die Gemeinsamkeit in der Lehre war fort. Wenigstens in dem Haus, das sich nun Universität nannte."

Mehr zum "Tal der Architektur"

Hintergrundinformation: "Tal der Architektur"

In seinem Vortrag "Stuttgarter Architektur - gestern, heute und morgen" sprach Frei Otto 1978 über die Tradition dreier "Stuttgarter Schulen im Tal der Architektur":
Die erste Schule wurde von Bonatz und Schnitthenner vertreten und bestand von den 1920er Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Die zweite Schule wurde von Gutbier, Gutbrod, Linde, Siegel und Wilhelm gegründet (Otto zählte sich selbst auch dazu), sie bestand bis 1968. Die dritte Schule ist nach Frei Otto die heutige.

Weitere Informationen über Geschichte und Gegenwart der Fakultät Architektur und Stadtplanung in Stuttgart unter externer Link http://www.architektur.uni-stuttgart.de/fakultaet/profil.html

Hintergrundinformation: Abteilung Architektur

Die berühmte Bauwesen-Fakultät bestand seit 1941 aus zwei Abteilungen: Architektur und Bauingenieur- und Vermessungswesen. Mit der Umbenennung der Technischen Hochschule Stuttgart zur Universität am 4. Juli 1967 gliederte sich die Bauwesen-Fakultät in folgende Fachbereiche:

  • Baukonstruktion
  • Bauplanung
  • Geodäsie
  • Konstruktiver Ingenieurbau
  • Orts-, Regional-, und Landesplanung
  • Wasser- und Verkehrswesen

Das Institut für Leichte Flächentragwerke gehörte seit 1967 zum Fachbereich Konstruktiver Ingenieurbau.

 

Symbiose in der Architektur

1961 gründeten Frei Otto und Johann Gerhard Helmcke, Ordinarius für Biologie und Anthropologie an der TU Berlin und Leiter des Instituts für Kariesforschung und Mikrobiologie am Max-Planck-Institut, die Forschungsgruppe Biologie und Bauen. Ab 1964 wurde die Arbeit der Gruppe in Stuttgart weitergeführt. Biologen, Architekten und Ingenieure arbeiteten zusammen, um einen Grundkonflikt zwischen Natur und Technik zu verstehen und zu überwinden: Der Mensch zerstört die Natur durch die Bauten, die er errichtet, um sich von der Gewalt der Natur zu schützen. "Natürlich bauen", so dass die Bauten zusammen mit der Natur ein harmonisches Biotop bilden, war die entscheidende Problemlösung von Leichtbautechnikern.

"Die Biologie ist eine Naturwissenschaft. Sie beobachtet die Natur und analysiert sie. Entwicklungsprognosen und Planungen sind der Biologie fremd. Die Architektur ist Synthese, ist Planung, ist vermutete Zukunft. ... Der Architekt braucht den Biologen, der mit jenen Methoden die heutige Situation erforscht und unmittelbare reale Hilfe geben kann. Es geht um den Menschen und seine bestmögliche Umwelt. Die Grundaufgabe jeden Bauens ist primär stets human-biologisch und erst sekundär technisch."

1970 wurde der Sonderforschungsbereich 64 der Deutschen Forschungsgemeinschaft "Materialforschung und Forschung im konstruktiven Ingenieurbau" gegründet, der im Jahre 1973 in "Weitgespannte Flächentragwerke" umbenannt wurde. Mehr als 50 Mitarbeiter aus Mathematik, Bauwesen, Architektur, Geodäsie, Luft- und Raumfahrt und Psychologie wurden in diesem Projekt unter der Leitung von Frei Otto beschäftigt. Im Mittelpunkt der Forschung standen "alle jene Strukturen, die mit geringstem Materialaufwand Räume umschließen oder Flächen überspannen". Dazu gehörten leichte Wölbkonstruktionen, Gitterschalen, Netze, Zelte und sich selbst tragende Membrankonstruktionen, die in Luft-, Raum-, und Seefahrt, Maschinenbau, Energietechnik und Fernmeldetechnik verwendet werden könnten. "Die weitspannbaren flächenbildenden Tragwerke sind ein Spitzengebiet des Bauwesens. Es geht dabei um Ausweitung der Grenzen, und zwar weniger der effektiven Spannweiten, als um die Vergrößerung der Effektivität im materiellen, ökonomischen Bereich."

Wie die Natur hat auch die Forschung eigene Entwicklungsphasen. Seit 1985 existierte der Sonderforschungsbereich 230 mit dem Thema "Natürliche Konstruktionen" am Institut für Leichte Flächentragwerke, dabei interpretierte Frei Otto mit seinen Kollegen die Natur anhand von Untersuchungen ihrer Konstruktionen.

"Die Formen materieller Objekte entstehen durch gestaltbildende Prozesse. Gestalten entstehen in allen Bereichen der Natur: in der unbelebten Natur, in der lebenden Natur, in den Techniken der Tiere und des Menschen, in der Kunst. Alle materiellen Objekte der Natur und der Technik haben eine Form und sind zusammengefügt, sind somit Konstruktionen. Die Objekte der Natur sind natürliche Konstruktionen. Sie entstehen auf Grund von Selbstbildungsprozessen. Der Mensch kann sowohl natürliche Prozesse anregen als auch Künstliches tun."

Publikationen des Instituts für Leichte Flächentragwerke (1)  Publikationen des Instituts für Leichte Flächentragwerke (2)  Natürliche Konstruktionen, Stuttgart 1982  

Hintergrundinformation: Sonderforschungsbereich

Sonderforschungsbereiche sind langfristige Forschungsprojekte der wissenschaftlichen Hochschulen, die von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert werden. Die Einrichtung von Sonderforschungsbereichen in Deutschland begann 1970.

Die beiden Sonderforschungsbereiche vom Institut für Leichte Flächentragwerke wurden jährlich mit zwei Millionen Mark finanziert und waren als interdisziplinäre Projekte auf 15 Jahre befristet.

 

"Spielend" leichte Konstruktionen

Der deutsche Pavillon zur Weltausstellung 1967 in Montreal und das Kongresszentrum in Mekka 1974, die Olympiadächer in München 1972, Multihalle in Mannheim 1975 und Ökohaus in Berlin 1990. Diese und viele andere Projekte und Bauten sind eng mit dem Namen Frei Otto und seiner theoretischen und experimentellen Forschung am Institut für Leichte Flächentragwerke verbunden.

 

Natürlich ist der Leichtbau

Die Architektur sucht nach ihrer Identität mit der Zeit. Das Alltagsleben wird immer dynamischer, rationeller und flinker. Alles erlebt Veränderungen: von der Kleidung der Menschen, die kürzer, enger und offener wird bis zu der "Bekleidung" von Städten, die durch schlichte, abstrakte und minimale Formen und Konstruktionen charakterisiert werden. "Der Mensch formt seine Häuser, dann formen die Häuser den Menschen." Aber durch massenhafte, eintönige Bauten wird nicht nur die Natur selbst, sondern auch die unwiederholbare Individualität des Menschen zerstört. Um das Wesen des Menschen und seine Umwelt zu retten, träumte und suchte Frei Otto nach möglichst anpassungsfähigen, wandelbaren Formen in den natürlichen Landschaften.

Die Neuentdeckung der Leichtigkeit in der Architektur ist die Reaktion der Moderne auf die neuen ästhetischen und ökonomischen Faktoren des Lebens. Die leichten Konstruktionen kommen den Herausforderungen der Zeit im Bereich des Bauens entgegen: mit wenig Material und Arbeitsaufwand werden hochfeste, leichte und schnellerstellte Bauten mit vielen Verwendungsmöglichkeiten entwickelt.

Das Prinzip Leichtbau lautet: "Je weniger Masse eine Konstruktion benötigt, um die Kräfte zu übertragen, desto besser ist ihre Form." Nach diesem "sparsamen" Prinzip funktionieren mehrere Konstruktionen der lebenden und unlebenden Natur. Um die Qualität von Konstruktionen zu bewerten, wurde eine neue, physikalische Größe eingeführt: Bic.

Die optimalen, in diesem Fall niedrigsten Bicwerte haben Atome, Haare, Spinnfäden, Häute, Pflanzenfasern und schließlich Knochen. Die Natur besitzt viele schon gegebene, fantasievolle Formen, die die ausgedachte Welt der Menschen nicht hat. Dafür ist der Mensch fähig, Konstruktionen zu erfinden, welche keine Entsprechungen in der Natur haben. Durch das Prinzip Leichtbau bekommt der Erfinder mehr "Freiheit, Überschuss, Spiel" in seinem Schaffen und "nähert sich mit der Hilfe der modernen Technik wieder dem Urtümlichsten und Einfachsten", das als unwidersprüchliches Ideal der Menschheit immer existierte.

Skizze "Lebende und nicht lebende Natur"  Skizze "Sich selbst formende Konstruktionen"  

Hintergrundinformation: Neuentdeckung der Leichtigkeit

Die Leichtbauarchitektur hat eine jahrtausendealte Tradition: Zelte von Nomadenvölkern, Hängebrücken aus Bambusseilen in China, Sonnenschirme der Japaner und erste Luftballons. Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts hatten die Denkweise der Architekten verändert, neue Bautechnologien und die Entdeckung neuer Aspekte herbeigeführt: "Biotechnik" von R. H. France (1920) und "Bionik" von Jack E. Steele (1958).

Hängebrücke  Cheyenne Camp, Western Plain, USA  Luftballon  

Hintergrundinformation: Bic

Der Bic ist eine messbare Größe, die den Aufwand an Materialien eines Objektes bezeichnet, das eine bestimmte Form besitzt und die Fähigkeit zur Übertragung von Kräften bei einer gewissen Belastung hat. Unter einem Objekt wird in diesem Fall eine Konstruktion der Natur oder Technik verstanden, die durch physikalisch-chemische oder künstliche Bildungsprozesse entsteht.

Der Bic lässt sich experimentell und rechnerisch feststellen:

Bic = m / (F * s)

Dabei ist m: Masse der Konstruktion, gemessen in Gramm; F: Kraft, die die Konstruktion überträgt, gemessen in Newton; und s: Übertragungsstrecke, gemessen in Meter.

Skizze "Bic"  

 

Freie Experimente

Am Institut für Leichte Flächentragwerke wurde immer fantasiert und experimentiert. Frei Otto stellte mit seinem Team philosophische und technische Fragen: Wie werden die Menschen weiterleben? Was ist gute Architektur? Wie entsteht eine Konstruktion? Welche Prozesse beeinflussen den Entstehungsvorgang aller Objekte? Wie baut die Natur? Welche gegenseitigen Verhältnisse entstehen zwischen Natur und Bauten?

Spielend, aber technisch exakt wurden die Experimente durchgeführt, um die Entstehungsprozesse von materiellen Objekten aus der lebenden und unlebenden Natur zu simulieren und sie wissenschaftlich zu betrachten. Die Natur war dabei kein Vorbild, sondern nur ein Erkenntnismittel der natürlichen Strukturen. Es wurde nach Konstruktionen gesucht, die menschennah, ästhetisch und naturschonend sind.
Bei den zahlreichen Experimenten wurden Werkstoffe benutzt, die alle noch aus ihrer Kindheit kennen: Seifenblasen, Sand und Steine; Fäden, Gewebe und Ketten; Gips und Gummifolien. Vielfältige Modelle und Versuchseinrichtungen wurden damit am Institut für Leichte Flächentragwerke entwickelt und gebaut: Seifenhautmaschine, Minimalweggerät, Kipp- und Drehtellergerät, Gips-, Ketten- und Kunststoffmodelle.
Durch diese Experimente und ihre systematische Analyse wurden die Formbildungsprozesse von unterschiedlichen Minimalflächen und Leichtkonstruktionen verschiedener Art erforscht und in die Praxis umgesetzt: zugbeanspruchte Membranen- und Seil-Netzkonstruktionen, pneumatische Konstruktionen und wandelbare Konstruktionen, Verzweigungskonstruktionen und Hängekonstruktionen, Bogen, Gewölbe und Schalen.

Auf diese Weise stellt der Architekt und Visionär Frei Otto die allgemein menschlichen Fragen weiter und gibt die Antworten aus seiner Sicht:

"Wie müssen wir weiter leben? - Man muss mehr denken, mehr forschen, entwickeln, erfinden und wagen, um allen Menschen ein friedliches Leben in der von ihnen selbst behüteten Natur zu ermöglichen."

Das Innere eines Gesteins  Experimente mit hängenden Ketten und Netzen aus Metallstäben (1)  Experimente mit hängenden Ketten und Netzen aus Metallstäben (2)  Multihalle, Mannheim (Gitterschale), 1971  

Hintergrundinformation: Entstehungsprozesse von materiellen Objekten

"Alle materiellen Objekte der Natur und der Technik haben eine Form und sind zusammengefügt, sind somit Konstruktionen. Die Objekte der Natur sind natürliche Konstruktionen. Sie entstehen auf Grund von Selbstbildungsprozessen. Der Mensch kann sowohl Natürliches anregen als auch Künstliches tun."

Hintergrundinformation: Seifenhautmaschine

Die Seifenhautmaschine mit Klimakammer wurde am IL zur geometrischen Erfassung und Vermessung von Seifenhautmodellen entwickelt und gebaut. Mit parallelem Licht wurden die Modelle in wahren Dimensionen auf eine Fotoplatte oder Mattscheibe projiziert, fotografiert und vermessen. Die entstandenen Seifenhautformen wurden bei Entwurfs- und Arbeitsmodellen verwendet.

Seifenhautmaschine mit Klimakammer  Umgedrehte Seifenhaut  Modell einer Seifenhaut im Kreisring mit senkrechter Lamelle  

Hintergrundinformation: Minimalweggerät

Das Minimalweggerät wurde 1958 im Atelier Frei Otto, Berlin, entwickelt und im Institut für Leichte Flächentragwerke verwendet. Mit Hilfe von Nadeln, Seifenwasser und einer Glasplatte, die von der Wasseroberfläche entfernt ist, wird die Minimalflächenkonfiguration von Seifenhaut auf der Unterseite der Glasplatte gebildet, anschließend wird sie von oben fotografiert und vermessen. Damit wurden Verkehrswege optimiert und Verzweigungskonstruktionen im Holz-, Stahl- und Betonbau entworfen.

Minimalweggerät  Minimalflächenkonfigurationstabelle  

Hintergrundinformation: Kipp- und Drehtellergerät

Das Kipp- und Drehtellergerät wurde zur Untersuchung der Stabilität von Ziegel- und Steinbauwerken benutzt. Auf eine Drehscheibe wurde ein Modell eines Steingebäudes gebaut, dann wurde das Gerät in Gang gebracht. Damit simulierte man Erdbebensituationen und untersuchte ihre Wirkung auf die Steingebäude.

Experimente mit dem Kipp- und Drehtellergerät (1)  Experimente mit dem Kipp- und Drehtellergerät (2)  Experimente mit dem Kipp- und Drehtellergerät (3)  

Hintergrundinformation: Modelle

Modelle von Gebäuden und ihre Visualisierung sind für die Architekten eine wichtige Herausforderung. Die entwickelten Ideen und Formen müssen immer am Modellbau technisch reproduziert werden. Sämtliche Konstruktionen, die Frei Otto und seine Kollegen nach 1970 entwickelten, wurden neben dem traditionellen Modellbau auch am Computer generiert und gezeichnet. Die erste Computersimulation eines physikalischen Modells wurde 1966 von Klaus Linkwitz nach einer Initiative von Frei Otto durchgeführt.

Hintergrundinformation: Minimalflächen

Minimalflächen sind sattelförmig gekrümmte Gebilde mit minimaler Fläche innerhalb eines geschlossenen Randes. Sie lassen sich experimentell in membranbildenden Flüssigkeiten (Seifenlauge) erzeugen. Das Zelt ist die typische Form der Minimalfläche, die in allen Richtungen gleichmäßig gespannt ist.
Man unterscheidet folgende Zelttypen: einfaches Segel, Spitzzelt, Bogenzelt, Buckelzelt, Wellenzelt und mehrere Mischtypen.

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Hintergrundinformation: Netzkonstruktionen

Netzkonstruktionen bestehen aus Membranen, die große Spannweiten überdecken können. Mit gleichmaschigen Netzen können einseitig und zweiseitig gekrümmte Flächen gebildet werden, wenn sich die Winkel der Netzseile im Knoten verändern können. Das Netz wird normalerweise eben hergestellt und bei der Montage durch Vorspannung in eine endgültige, räumlich gekrümmte Form gebracht. Auf Grund der experimentellen Arbeiten wurde ein Standardnetz entwickelt, das schnell vorgefertigt und für die meisten Spannweiten verwendet werden kann.

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Hintergrundinformation: pneumatische Konstruktionen

Pneumatische Konstruktionen sind Tragsysteme, die aus einer durch Luftdruck gestützten und somit vorgespannten Membrane bestehen. In der Architektur zählt man sie zum extremen Leichtbau. Der fasergestützte weiche Pneu ist die Urkonstruktion des Lebens. Mit dem Konstruktionssystem Pneu sind die Konstruktionen und Gestalten der lebenden Natur erklärbar.

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Hintergrundinformation: Hängekonstruktionen

Hängekonstruktionen sind einseitig gekrümmte Konstruktionen, die ohne Vorspannung, nur durch ihr Eigengewicht stabilisiert werden. Die Krümmung ihrer Dachfläche stellt sich in Abhängigkeit von den Randbedingungen von selbst ein. Durch ausreichendes Eigengewicht, durch Aussteifen der Dachfläche oder durch Abspannungen kann eine Hängekonstruktion stabilisiert werden.

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Hintergrundinformation: Bogen, Gewölbe und Schalen

Bogen, Gewölbe und Schalen sind druckbeanspruchte Wölbkonstruktionen, die dem einfachen Prinzip der Umkehrung der Kettenlinie folgen.

Eine an zwei Punkten hängende Kette nimmt unter ihrem Eigengewicht von selbst eine richtige Form ein. Die Kurve, die diese sich selbstständig bildende Konstruktion bildet, wird Kettenlinie genannt. Bei der hängenden Kette treten nur Zugkräfte auf.
Durch die Umkehrung, d.h. Spiegelung der Hängeform um 180 Grad an einer horizontalen Achse, erhält man die Stützlinie der rein druckbeanspruchten Wölbform. Bei Bögen und Gewölben, die der auf dem Kopf gestellten Kettenlinie folgen, treten also nur Druckkräfte auf. Dadurch entstehen Wölbformen, die mit wenig Material und geringer Masse auskommen. Dies ist eine der Voraussetzungen für das Erreichen großer Spannweiten.

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Hintergrundinformation: Verzweigungskonstruktionen

Verzweigungskonstruktionen sind räumliche Tragwerke. Sie werden zunehmend im Stahl-, Holz- und Betonbau angewendet. Durch die Anordnung von Stäben wird das System stabil und der Balken besser ausgenutzt. Bei gleichem Materialaufwand sind größere Spannweiten möglich. Verzweigungskonstruktionen findet man im Brückenbau, bei größeren Decken- und Dachflächen, im Zeltbau oder bei Hängedächern.

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Hintergrundinformation: wandelbare Konstruktionen

Wandelbare Konstruktionen können nach ihrer Form beliebig oft und in relativ kurzer Zeit verändert werden. Das breite Spektrum dieser Konstruktionen reicht von einfachen Sonnensegeln bis zu relativ komplexen fahrbaren Kuppelkonstruktionen. Der älteste Typ einer wandelbaren Dachkonstruktion kleiner Spannweite ist der Schirm.

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Biographie: Frei Otto (geb. 1925)

Anm.: In der Biographie werden nur einige der zahlreichen Bauten von Frei Otto erwähnt. Weitere Informationen unter [url]http://www.freiotto.com/[/url] und in der [iurl:quellen/index.php]Literaturliste[/iurl] zum Thema.

Frei Otto

31.5.1925 Geburt von Frei Otto in Siegmar/Sachsen als Sohn eines Bildhauers
1943 Abitur an der Schadow-Schule in Berlin-Zehlendorf
1943 - 1945 Wehrdienst
1945 - 1947 Kriegsgefangener bei Chartres, Frankreich; Lagerarchitekt
1948 Studium der Architektur an der Technischen Universität Berlin
1950 - 1951 Studienreise durch die USA mit dem Studium Soziologie und Städtebau an der University of Virginia
1952 Diplom, Freier Architekt in Berlin
1954 Promotion zum Dr.-Ing. mit der Dissertation "Das hängende Dach"
1957 Gründung der Entwicklungsstätte für Leichtbau in Berlin
1958 - 1969 Atelier Berlin Türksteinweg
1958 Visiting Professor an der Washington University, St. Louise; Seminar an der Universität Mexico
1959 Gastdozent an der Hochschule für Gestaltung, Ulm
1960 Visiting Professor an der Yale University, New Haven
1961 Assistent von P. Poelzig an der Technischen Universität Berlin; Gründung der Forschungsgruppe "Biologie und Bauen" (mit J.G. Helmcke)
1962 Visiting Professor an der University of California Berkeley, am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und an der Harvard University
1964 Gründung des Instituts für Leichte Flächentragwerke (IL) an der Technischen Hochschule Stuttgart
1965 Ernennung zum Honorarprofessor an der Technischen Hochschule Stuttgart
1966 - 1967 Deutscher Pavillon der EXPO '67 in Montreal, Kanada mit Gutbrod u.a.
1968 Gebäude für das Institut für Leichte Flächentragwerke, Stuttgart-Vaihingen
1969 Gründungsmitglied des Sonderforschungsbereichs 64 "Weitgespannte Flächentragwerke" der Deutschen Forschungsgemeinschaft; Atelier Frei Otto, Warmbronn
1971 Leiter der Klasse Architektur der Internationalen Sommerakademie für Bildende Kunst, Salzburg; Paul-Bonatz-Preis der Stadt Stuttgart für die Arbeit des Instituts für Leichte Flächentragwerke; Ausstellung im Museum of Modern Art, New York
1972 Olympiadach München für und mit Behnisch u.a.
1974 Kongresszentrum und Hotel, Mekka mit Gutbrod u.a.
1975 Multihalle Mannheim mit Mutschler u.a.
1976 Ordentlicher Professor an der Universität Stuttgart
1981 Ausstellung "Natürliche Konstruktionen", Institut für Auslandsbeziehungen, Stuttgart und Goethe-Institute in etwa 80 Ländern
1985 Sonderforschungsbereich 230 "Natürliche Konstruktionen" der Deutschen Forschungsgemeinschaft
1990 Emeritus; Ökohaus, Berlin mit Kendel u.a.
1992 Ausstellung "Gestalt finden" mit Bodo Raisch in der Villa Stuck, München
2000 Projekt Stuttgarter Bahnhof mit Büro Ingenhoven