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Stuttgarter unikurier Nr. 87 April 2001
Leben mit wissenschaftlich produziertem Dissens:
Das Expertendilemma
 

Beide haben nach allen Regeln ihrer Wissenschaft gearbeitet und doch stehen am Ende zwei Ergebnisse, die nicht übereinstimmen. Dies ist im Alltag der wissenschaftlichen Praxis gar keine seltene Angelegenheit, aber wenn die Wissenschaft als Experte im Alltag auftritt, entsteht das sogenannte Expertendilemma. Wie soll entschieden werden, wenn die Wissenschaft kein geteiltes Urteil vorweisen kann? Die Abteilung Technikphilosophie und Wissenschaftstheorie der Universität Stuttgart untersucht in einem vom BMBF über zwei Jahre geförderten Forschungsvorhaben die Auslöser dieser Expertendilemmata. Neben der theoretischen Rekonstruktion soll die ausführliche Analyse von Fallbeispielen und eines angemessenen Umgangs mit solchen Situationen stehen.

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In einer Zeit zunehmender Spezialisierung des Wissens sind Entscheidungsträger in allen gesellschaftlichen Positionen zunehmend von wissenschaftlichen Expertisen abhängig. Dabei zeigt sich, daß das wissenschaftlich Gewußte offensichtlich nicht immer mit dem gesellschaftlich Relevanten zusammenfällt. Expertenkontroversen treten dann auf, wenn Expertisen zur selben Fragestellung in wichtigen Punkten zu unterschiedlichen Ergebnissen gelangen. Während einige Wissenschaftler dies für Einzelfälle halten, in denen den Experten dann einfach Schweigen nahegelegt wird, befürchten die anderen mit guten Gründen, daß die Wissenschaft dann gegenüber der Öffentlichkeit weitgehend verstummen müßte. Eine Umweltpolitik beispielsweise, die sich am Vorsorgeprinzip orientieren möchte, wäre in einem strukturellen Nachteil, wenn immer erst die größtmögliche Gewißheit über die Erklärung eines Sachverhaltes bestehen müßte, bevor politisches Handeln einsetzen kann. Die Entscheidungsträger stehen häufig unter Entscheidungsdruck und haben nicht die Zeit auf einen umfassenden Konsens zu warten. Sie werden durch die Expertenkontroversen mehr oder weniger zu einem Dissensmanagement gezwungen, dem sich mit den Mitteln der gängigen Entscheidungstheorie meist nicht hinreichend beikommen läßt. Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß Entscheidungsträger häufig verschiedene Gutachten zu einer Fragestellung in Auftrag geben, also zumindest implizit bereits mit verschiedenen Ergebnissen rechnen. Positiv gewendet eröffnen sie sich damit zusätzliche Möglichkeitsräume ihres Handelns. Das Projekt baut auf der These auf, daß die Auslöser von Expertendilemmata nicht nur in Verhaltensfehlern einzelner Wissenschaftler oder bei deren Auftraggeber zu suchen sind. Aus wissenschaftstheoretischer Sicht sind die Expertendilemmata vielmehr durch sogenannte abduktive Schlüsse rekonstruierbar. Abduktionen sind Schlüsse, die für einen vorgegebenen Sachverhalt die beste Erklärung suchen. Solche Schlüsse sind prinzipiell irrtumsanfällig, weil die Wahrheit der Prämissen, die in eine solche Schlußfolgerung eingehen, die Wahrheit der Schlußfolgerung nicht gewährleisten können. So kann man z.B. für die feststellbare Erwärmung des Erdklimas verschiedene plausible Erklärungen angeben. Damit verbunden sind dann unterschiedliche prognostische Ergebnisse und auch unterschiedliche Ratschläge für politische Maßnahmenbündel. Um die Bedeutung verschiedener Abduktionsschlüsse zu ergründen, wurden auf einer Ebene verschiedene Typen von Erklärungsschlüssen unterschieden (z. B. Ursachenerklärungen, Bedeutungserklärungen). Quer dazu werden die verschiedenen möglichen Konfliktfelder benannt, die bei Abduktionen auftreten können und die zu unterschiedlich großer Unsicherheit über eine vorgeschlagene Erklärung führen. So kann erstens die Gültigkeit einer bewährten Erklärung Gegenstand einer Expertenkontroverse sein. Weitergehend kann sich der Konflikt auf die Auswahl der besten Erklärung beziehen, wenn verschiedene plausible Erklärungen existieren. Schließlich kann die Zulässigkeit einer Erklärung überhaupt bestritten werden. Dieses Schema bildet dann letztlich den Ausgangspunkt für ein klugheitsethisch fundiertes Dissensmanagement, das sich in seinen Ursprüngen auf Descartes Überlegungen zu einer provisorischen Moral beruft. Damit entsteht die Möglichkeit, mit den resultierenden Unsicherheiten umzugehen, ohne in eine Entscheidungsblockade zu geraten, in die konsensorientierte Ansätze hier führen würden.

KONTAKT
Dr. Gerald Acker-Widmaier, Prof. Christoph Hubig, Abteilung Wissenschaftstheorie und Technikphilosophie, Tel. 121-2489 e-mail: acker-widmaier@gmx.de

 


last change: 27.04.01 / gh
Pressestelle der Universität Stuttgart

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