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Leichtbau in Natur und Technik

 

Der Leichtbau hat entscheidende Impulse aus der Uni Stuttgart erfahren. Lange bevor dort leichte Werkstoffe genäht und gefaltet wurden, lange bevor adaptive Strukturen im Fokus der Forscher standen oder gar der unikurier berichtete, wurde 1970 der Sonderforschungsbereich „Weitgespannte Flächentragwerke“ eingerichtet.

Netze in Natur und Technik sowie Pneus, die zu den leichtesten, bekannten Flächentragwerken zählen, standen im Interesse der beteiligten Wissenschaftler, zu denen unter anderen die mit ihren Bauwerken weit über Stuttgart hinaus bekannten Bauingenieure Fritz Leonhardt und Jörg Schlaich sowie der Architekt Frei Otto zählten, der Bauingenieur John Argyis, maßgeblicher Mitbegründer der Berechnungsmethode der finiten Elemente, und der Geodät Klaus Linkwitz, der neue Methoden zur rechnerischen Formfindung und Analyse leichter Flächentragwerke entwickelte. Alle zusammen realisierten sie riesige, zuvor als „utopisch“ bezeichnete Seiltragwerke: Der Deutsche Zeltpavillon für die Weltausstellung 1967 in Montreal, dessen Versuchsbau als „Zelt im Grünen“ auf dem Vaihinger Campus zu finden ist, sowie das gigantische Zeltdach für die Olympischen Spiele 1972 in München zeugen von dieser Zeit, als an der Uni Stuttgart die Grundlage für deren weltweite Spitzenposition im Bereich des Leichtbaus in Architektur und Bauingenieurwesen gelegt wurde.

Prof. Wolfram Ressel (rechts) gratuliert dem neuen Ehrendoktor Reint de Boer
 

natürliche Konstruktion

 
Prof. Wolfram Ressel (rechts) gratuliert dem neuen Ehrendoktor Reint de Boer

Schon früh beschäftigte man sich an der Uni Stuttgart mit natürlichen Konstruktionen …

Prof. Wolfram Ressel (rechts) gratuliert dem neuen Ehrendoktor Reint de Boer

Leicht, natürlich, interdisziplinär

1964 kam Frei Otto an die damalige Technische Hochschule Stuttgart. Für den „großen Pionier“ des Leichtbaus war eigens das Institut für Leichte Flächentragwerke eingerichtet worden, das er innerhalb weniger Jahre in aller Welt bekannt machen sollte. 1994 initiierte der interdisziplinäre Arbeitsmethoden propagierende Professor das damals thematisch am weitesten gespannte interdisziplinäre deutsche Forschungsprojekt, den Sonderforschungsbereich „Natürliche Konstruktionen“. Architekten und Bauingenieure, die das Wesen des Natürlichen begreifen wollten, Philosophen, die sich für die Selbstorganisation interessierten, Biologen, die mit dem Computer Tierskelette und die Trageigenschaften von Pflanzen analysierten, Physiker, die sich menschlichen Siedlungsstrukturen annahmen und Städteplaner, die sich mit Fraktalen in der unbelebten Natur beschäftigten: Die Gutachter der Deutschen Forschungsgemeinschaft hinterfragten kritisch, ob diese „weitgespannte“ Thematik erfolgreich bearbeitet werden könne, zeigten sich dann aber beeindruckt von der interdisziplinären Zusammenarbeit und dem Methodentransfer zwischen den Disziplinen.

   Spannende, äußerst fruchtbare Dialoge prägten die Arbeit rund um Leichtbau in Architektur und Natur, um Siedlungsstrukturen und Transportsysteme, Selbstorganisation und Evolution sowie um den Naturbegriff und die Wissenschaftstheorie, nachdem erste Sprachbarrieren überwunden waren. 1995 wird Frei Otto abschließend sagen: „Der Sonderforschungsbereich hat selbst hochgestecke Erwartungen erfüllt.“ Dem Konstruktionsverständnis in der Biologie näherten sich die Forscher beispielsweise, indem sie Libellenflügel mittels der Finite-Element-Methode „unter die Lupe nahmen“, Gräser im Windkanal testeten oder die Bruchmechanik von Holz erkundeten. Um das Tragverhalten sowie die Standsicherheit von Bäumen zerstörungsfrei zu erfassen, wurde am Institut für Modellstatik eine Messeinrichtung in Aktentaschenformat entwickelt. Zur Beschreibung der Wechselwirkungen von Form und Kraft bei Flächentragwerken standen Muschelschalen Pate und Seifenhautmodelle präsentierten schillernd die Idealform mechanisch vorgespannter Membranen. Membrandächer und Seilnetzkonstruktionen wurden berechnet, die Form von Betonschalen optimiert, und mittels Computersimulation zeigten die Wissenschafter die Ähnlichkeit zwischen ungeplanten Siedlungen und selbstorganisierenden Strukturen auf oder untersuchten die Fußgängerdynamik in Innenstädten. „Es war eine spannende Sache, wir haben sehr viel gelernt“, erinnert sich Prof. Ekkehard Ramm, bis zu seiner Emeritierung 2006 Direktor des Instituts für Baustatik. Dort wurde damals die Topologieoptimierung als neue Methode der Formfindung entwickelt, die es ermöglicht, grundsätzlich neue Formen und Strukturen zu generieren, die in keiner Weise durch einen Ausgangsentwurf vorgegeben sind.

Erdgebunden und himmelnah

 

natürliche Konstruktion

 
Prof. Wolfram Ressel (rechts) gratuliert dem neuen Ehrendoktor Reint de Boer

… der Sonderforschungsbereich „Natürliche Konstruktionen“ war auch thematisch weit gespannt.
                                                                             (Fotos: Ilek)

Heute ist der Leichtbau*) an der Uni Stuttgart so aktuell wie je zuvor, ob im Flugzeug- oder Automobilbau, ob in Archtiektur oder Bauingenieurwesen oder der Luft- und Raumfahrt – und am Institut für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren (ILEK) hat er sogar Eingang in den Institutsnamen gefunden. Besondere Bedeutung kommt dem „wissenschaftlichen Schwergewicht“ zu, wenn widersprüchliche Anforderungen zu erfüllen sind, wie etwa eine immer größere Nutzlast bei geringerem Fluglärm, immer mehr Fahrzeugsicherheit bei gleichzeitiger Reduzierung des Kraftstoffverbrauchs oder immer größere Brückenspannweiten bei zunehmender Tragfähigkeit.

   Neue Perspektiven im Leichtbau eröffnen so genannte „Smart Marterials“, adaptive Strukturen, die sich aufgrund ihrer sensorischen und aktuatorischen Eigenschaften variabel an die jeweiligen Umgebungsbedingungen anpassen können. Als „Fassaden von übermorgen“ könnten sie zum Beispiel zur Wärmedämmung oder Verschattung von Gebäuden beitragen, und bei großen Brücken oder Gebäuden als Tragwerke eingesetzt, könnten diese Stürmen und Erdbeben besser standhalten, wie am ILEK gezeigt. Und auch am Institut für Flugzeugbau schätzt man diese Materialien, um etwa Flugzeugflügel oder die Rotorblätter von Helikoptern zu optimieren. Im 2004 eingeweihten Faserverbundtechnikum der Uni werden Faserverbundwerkstoffe genäht, gestrickt, geflochten und gefaltet, die zum Beispiel Großflugzeuge wie den Airbus A 380 leichter, schneller, sicherer, ökologisch verträglicher und kostengünstiger werden lassen. Kohlenstofffaserverstärkte Kunststoffe beeindrucken als Automobobil- „Crashelemente“ aufgrund ihrer energieabsorbierenden Eigenschaft, und am Institut für Statik- und Dynamik der Luft- und Raumfahrtkonstruktionen nimmt man sich einer extremen Anforderung an den Leichtbau an: einer Höhenplattform für den Einsatz in der unteren Stratosphäre. Die Kombination aus Luftschiff und Höhenballon muss 25fach leichter sein als die leichtesten Fluggeräte für den bodennahen Einsatz.

Julia Alber

*) Einen guten Überblick gibt das Themenheft Forschung, das wir auf Seite 27 kurz vorstellen.

 

 

 

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Institut für Leichtbau, Entwurf und Konstruieren
Tel. 0711/685-66227
Fax 0711/685-66968
e-mail: ilse.guy@ilek.uni-stuttgart.de    
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