Lebendiges Bauwerk ist kräftig gewachsen

22. Juli 2010, Nr. 78

Baubotanischer Turm als Ort im Land der Ideen ausgezeichnet

Vor gut einem Jahr stellten Mitglieder der Forschungsgruppe Baubotanik des Instituts Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen (IGMA) der Universität Stuttgart einen Turm aus lebenden Bäumen fertig. Seitdem ist das Bauwerk nicht nur kräftig gewachsen, sondern hat auch weitere Projekte angestoßen. Am 28. Juli um 14.00 Uhr wird der Turm im Rahmen des Wettbewerbs „365 Orte im Land der Ideen“ für die Verbindung von Architektur und nachhaltigen Bauen als „Ausgewählter Ort 2010“ ausgezeichnet. Die Preisverleihung findet am Standort des Turmes, auf dem Gelände des Projekts „Neue Kunst am Ried“ in Wald-Ruhestetten statt (Anfahrtsbeschreibung am Textende). Medienvertreter sind dazu herzlich eingeladen; um Anmeldung bei Ferdinand Ludwig, e-mail: ferdinand.ludwig@igma.uni-stuttgart.de, wird gebeten. Vor Ort kann ist auch ein bereits 2005 realisierter baubotanischer Steg zu besichtigen. Pressetermine im Vorfeld können am IGMA in Stuttgart vereinbart werden.

Unmittelbar nach der Fertigstellung des Turms war die Absicht der Forscher, ein lebendes Bauwerk aus Bäumen zu schaffen, kaum sichtbar und nur ein in den Raum gestelltes Versprechen. Mittlerweile hat sich dies grundlegend geändert. Durch den vitalen Austrieb der verwendeten Weiden verwandelte sich die anfangs eher technisch wirkende Struktur in ein Pflanzengebilde, das in der Landschaft auf den ersten Blick kaum zu erkennen ist. Die sich im Wind bewegenden Zweige und Blätter bilden grüne Wände, die im Inneren ein angenehm kühles Mikroklima entstehen lassen. Das anfangs visuell dominierende Stahlgerüst und die darauf angeordneten Pflanzcontainer sind inzwischen erst auf den zweiten Blick erkennbar.
Das Wachstum der Pflanzen ist nicht nur in der Gesamterscheinung des Bauwerks, sondern auch an der Entwicklung der Detailpunkte ablesbar. Die über 300 Einzelpflanzen, aus denen der Turm besteht, wurden durch Edelstahlschrauben so verbunden, dass sie miteinander verwachsen. Dieses Verfahren, das botanische Laien oftmals irritiert, hat sich in zahlreichen Test als geeignet und praxistauglich erwiesen. Am Turm ist mittlerweile gut erkennbar, dass die Pflanzen verwachsen sind und wie an den Verbindungsstellen die Rinden- und Holzgewebe fusionieren. Damit ist die aus einzelnen Pflanzen gebildete Struktur auf dem besten Weg, zu einem einzigen Organismus zu verschmelzen.

Präzise planen oder auch nur im Detail vorhersehen lässt sich das Wachstum freilich nicht. So lässt sich beispielsweise nicht genau vorhersagen, wie lange die Pflanzen brauchen werden, bis sie stabil genug sind, um die Bauwerkslasten ohne das temporäre Gerüst tragen zu können. In dem von zufälligen Ereignissen wie dem Wetter geprägten Entstehungsprozess sehen die Architekten aber auch große gestalterische Potentiale: „Jedes baubotanische Bauwerk passt sich wie ein natürlich wachsender Baum an die Bedingungen seines Standorts an. Dadurch gewinnt es eine unverwechselbare Gestalt, die sich im Wechsel der Jahreszeiten immer wieder verändert“, erklärt Projektleiter Ferdinand Ludwig.

Bald Blickpunkt auf der Gartenschau in Nagold
Vor allem diese gestalterischen Möglichkeiten und innovativen Potentiale überzeugten jüngst die Landesgartenschau Nagold 2012 GmbH, die Planung eines baubotanischen Projekts in Auftrag zu geben. Bereits im kommenden Jahr soll ein zehn Meter hoher „Platanenkubus“ realisiert werden, der über eine Grundfläche von rund 100 Quadratmetern und drei öffentlich begehbare Galerien verfügen wird. Ebenfalls auf einen vom Turm ausgehenden Impuls geht die Patententwicklung „Baumwand“ zurück, die die Forschungsgruppe Baubotanik im Auftrag der Firma Helix Pflanzensysteme ebenfalls im Jahr 2009 durchführte. Bei dieser Entwicklung steht die technische Innovation der Pflanzenaddition im Vordergrund, die dazu genutzt werden soll, Bauwerke wie Lärmschutzwände als grüne Bauwerke mit einer im Laufe der Zeit immer größer werdenden Baumkrone zu realisieren.

Der baubotanische Turm entstand im Rahmen der Promotion von Ferdinand Ludwig bei Prof. Gerd de Bruyn (IGMA, Universität Stuttgart) und Prof. Dr. Thomas Speck (Plant Biomechanics Group Freiburg, Universität Freiburg) in Zusammenarbeit mit dem Bildhauer Cornelius Hackenbracht (Neue Kunst am Ried, Wald-Ruhestetten). Das Projekt wurde von der Bundesstiftung Umwelt, zahlreichen Fachbetrieben, Ingenieurbüros und weiteren Sponsoren unterstützt.

Weitere Informationen bei Ferdinand Ludwig, Institut Grundlagen Moderner Architektur und Entwerfen der Universität Stuttgart, Forschungsgruppe Baubotanik, Tel.: 0176/23338496, e-mail: ferdinand.ludwig@igma.uni-stuttgart.de,
www.uni-stuttgart.de/igma sowie www.baubotanik.ferdinandludwig.de .

Standort des Turms: Neue Kunst am Ried, Riedstraße 26, 88639 Wald-Ruhestetten, Tel: 07578/1336. Wegbeschreibung in der Anlage oder unter http://neue-kunst-am-ried.de/kontakt/wegbes.htm

Entwicklung des baubotanischen Turms. Links: Zustand unmittelbar nach Fertigstellung im Juli 2009. Mitte: Zustand im Juli 2010. Rechts: Möglicher, selbstragender Zustand nach mehrmaligem Rückschnitt. (Fotos links und rechts: Ferdinand Ludwig/Universität Stuttgart, Mitte: Cornelius Hackenbracht).
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