Der Brite George Orwell, einer der wohl größten Autoren des 20. Jahrhunderts, war im April 1945, direkt nachdem die Stadt von französischen und amerikanischen Truppen übernommen wurde, als Kriegsreporter in Stuttgart. Seit vielen Jahrzehnten war das Wissen über diesen Besuch, versteckt an verschiedenen Stellen in seinen eher unbekannten Texten, von niemandem wahrgenommen worden. Geoff Rodoreda, Lektor am Institut für Literaturwissenschaft der Universität Stuttgart, hat nun Orwells Aufenthalt in Stuttgart, 60 Jahre nach dem Tod des Autors, erstmals recherchiert und damit wichtige Erkenntnisse für die Kulturgeschichte Stuttgarts gewonnen.
Orwell wohnte zwei bis drei Tage bei „middle-class Germans in the suburbs“ (gutbürgerlichen
Leuten in einem Stadtteil Stuttgarts). Dies und weitere Informationen über seinen kurzen Besuch in
Stuttgart sind in zwei Texten Orwells zu finden: In einem Essay, der erstmals im November 1945 in
Großbritannien veröffentlicht wurde und später auf Deutsch übersetzt wurde („Rache ist sauer“,
Diogenes Verlag, 2003); und in einem zweiten eher unbekannten Text, der in einer Veröffentlichung
seines Gesamtwerks von 1998 zu finden ist. Rodoreda hat diesen zweiten Essay gefunden und seine
Bedeutung für die Stadt Stuttgart herausgearbeitet. Aus diesen Hinweisen, zusammen mit weiteren
Recherchen unter anderem im Stadtarchiv der Stadt Stuttgart, hat er neue Erkenntnisse über Orwells
Aufenthalt in der Stadt gewonnen.
Orwell traf am Sonntag, den 22. April 1945 mit amerikanischen Truppen in Bad Cannstatt ein.
Am Vormittag des folgenden Tages besichtigte er mit dem amerikanischen Kommandanten die Stadt.
Wahrscheinlich blieb Orwell bis zum 25. April 1945 in Stuttgart. Er schrieb: „I had entered the
town to the sound of rifle shots, and stray shots were still reverberating when I left two days
later.” (Ich traf in der Stadt unter dem Lärm von Gewährschüssen ein und als ich sie zwei Tage
später verließ, gab es immer noch verirrte Schüsse.) Orwell hat das Chaos der ersten Stunden nach
der Naziherrschaft dokumentiert. Er beobachtete wie französische und amerikanische Kommandanten um
die Herrschaft der Stadt stritten, wie befreite politische Gefangene in die Stadt strömten und
berichtet über Plünderungen. Seine Einsichten, bisher nur teilweise auf Deutsch übersetzt, könnten
jetzt neue Erkenntnisse über die „erste Stunde“ nach der Naziherrschaft bringen.
1945 wurde George Orwell weltbekannt durch die Veröffentlichung seines Romans Animal Farm
(Farm der Tiere). 1949 erschien sein Meisterwerk, Nineteen Eighty-Four (1984). Im Februar 1945
wurde George Orwell von der renommierten englischen Zeitschrift „The Observer“ als
Kriegskorrespondent beauftragt, über die Lage im wieder befreiten Paris und in den zerstörten und
noch umkämpften Regionen Deutschlands zu berichten. Im März 1945 traf er in Köln ein. Später brach
er mit den amerikanischen Truppen nach Nürnberg auf. Die nächste Station seiner Reise war
Stuttgart. Auf den Aufenthalt George Orwells in Stuttgart wurde Rodoreda im Sommer 2009 durch die
Vorbereitung eines Literaturseminars über „Orwell’s Essays“ aufmerksam. Geoff Rodoreda, gebürtiger
Australier, lebt seit 1996 in Stuttgart. Er studierte Politik, Medientheorie und Journalismus in
Sydney, Australien, und unterrichtet in der Abteilung Neuerer Englische Literatur an der
Universität Stuttgart als Lektor.
Kontakt:
Geoff Rodoreda
Tel.: 0711 / 685-83101
e-mail:
geoff.rodoreda@ilw.uni-stuttgart.de