Obwohl bestimmte Flüssigkristalle überwiegend aus Wasser bestehen, kann es in ihnen zur
spontanen Ausrichtung von elektrischen Dipolen und somit makroskopisch zu einer spontanen
elektrischen Polarisation kommen, dies konnten Chemiker des Instituts für Physikalische Chemie der
Universität Stuttgart (IPC) zeigen und berichten in der führenden Fachzeitschrift „Angewandte
Chemie“ darüber *). Bei diesen sogenannten lyotropen Flüssigkristallen handelt es sich um geordnete
Lösungen organischer Moleküle, zum Beispiel in Wasser. In dem untersuchten Flüssigkristall ordnen
sich chirale organische Moleküle mit spezifischem Neigungswinkel in Schichten an. Zwischen diesen
Schichten befindet sich das Lösungsmittel. Das Überraschende: Obwohl die Wasserlagen zwischen den
Molekülschichten vergleichsweise dick sind (ca. 2 Nanometer) besitzen die organischen Moleküle in
jeder Schicht die gleiche Neigungsrichtung.
Legt man ein elektrisches Feld an, kann man durch den Wechsel der Feldrichtung zwischen
entgegengesetzten Neigungsrichtungen hin und her schalten (siehe Abbildung). Damit gelang erstmals
der Nachweis von Ferroelektrizität in einer flüssigkristallinen Lösung.
Materialien, die auch ohne elektrisches Feld eine spontane elektrische Polarisation
aufweisen, werden als Ferroelektrika bezeichnet. Ferroelektrizität wurde erst zu Beginn des 20.
Jahrhunderts von Joseph Valasek entdeckt und war lange Zeit nur in festen Kristallen bekannt.
Bislang galt es als äußerst unwahrscheinlich, dass Ferroelektrizität auch in lyotropen
Flüssigkristallen auftreten kann, da diese zu einem großen Anteil aus kleinen, ungeordneten
Lösungsmittelmolekülen bestehen.
Diese Frage weckte schon vor einigen Jahren den wissenschaftlichen Ehrgeiz der
Forschungsgruppe um Prof. Dr. Frank Gießelmann am Institut für Physikalische Chemie der Universität
Stuttgart. Nach einigen Fehlschlägen und den daraus gewonnenen Erfahrungen gelang es dem Team
jetzt, ein neues organisches „Zwittermolekül“ maßzuschneidern, das eine wasserlösliche chirale
Kopfgruppe und einen wasserunlöslichen, starren Rest vereint. Die neue Substanz wird von Johanna
Bruckner im Rahmen ihrer Promotion, für die sie ein Stipendium der Landesgraduiertenförderung
erhält, untersucht. Die junge Forscherin experimentierte mit verschiedenen Lösungsmitteln,
Konzentrationen und Temperaturbereichen. Schließlich fand sie die passenden Bedingungen, unter
denen der lyotrope Flüssigkristall mit einem Wasseranteil von bis zu 60 Prozent tatsächlich eine
spontane elektrische Polarisation und damit ferroelektrische Eigenschaften zeigt. Dies konnte
Bruckner mit elektrooptischen Messungen im Polarisationsmikroskop nachweisen.
Voraussetzung für diesen Effekt ist aber, dass die Neigungsrichtung in allen Molekülschichten
gleich ist. Die spannende Frage, die die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nun umtreibt ist:
Woher „wissen“ die Molekülschichten, wie ihre Nachbarschichten ausgerichtet sind, obwohl sie durch
die vergleichsweise ungeordneten Wassermoleküle voneinander getrennt sind und somit eigentlich
keine Verbindung zwischen ihnen besteht. Wie können sie trotzdem miteinander „kommunizieren“?
Anwendungen in der Sensorik denkbar
Prof. Frank Gießelmann erklärt: „Jetzt möchten wir natürlich gerne klären, wie dieses
Phänomen möglich ist. Es handelt sich hier zunächst um reine Grundlagenforschung, doch auch
zukünftige Anwendungen wären denkbar.“ Möglich wären Anwendungen in der Sensorik chiraler Moleküle,
wie man sie z. B. häufig in pharmazeutischen Wirkstoffen findet. Sind sie in den Wasserschichten
des neuen Flüssigkristalls gelöst, induzieren sie – je nach Reinheit und Konzentration der Moleküle
– messbare Änderungen seiner spontanen elektrischen Polarisation.
Die Geschichte der Flüssigkristalle, die genau vor 125 Jahren entdeckt wurden, macht
deutlich, dass Grundlagenforschung, die lange Zeit nur von akademischem Interesse war, plötzlich
große wirtschaftliche Bedeutung erlangen kann, die weit in die Lebensbereiche der Menschen
hineinreicht, wie die rasante Verbreitung von Flüssigkristall-Displays (LCD) z. B. für Notebooks,
Fernseher und Handys zeigt.
*) Johanna R. Bruckner, Jan H. Porada, Clarissa F. Dietrich, Ingo Dierking und
Frank Giesselmannn: "A Lyotropic Chiral Smectic C Liquid Crystal with Polar Electrooptic
Switching", Angewandte Chemie International Edition 2013, 52, 8934 –8937. Online-Version: DOI:
10.1002/anie.201303344
Weitere Informationen:
Prof. Dr. Frank Gießelmann, Institut für Physikalische Chemie der Universität Stuttgart, Tel.
0711-685-64460, E-Mail: f.giesselmann(at)ipc.uni-stuttgart.de.