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Stuttgarter unikurier Nr. 95 Mai 2005
Humboldt-Preisträger aus Frankreich zu Gast:
Kein einfacher Weg nach Deutschland

Zu Gast am Lehrstuhl für Angewandte Mathematik der Universität Stuttgart war im Frühjahr 2005 der französische Mathematiker Prof. Henri Berestycki. Anlass für den mehrwöchigen Forschungsaufenthalt in Stuttgart war der Alexander von Humboldt-Preis, der ihm vor kurzem zuerkannt worden war. Wie es guter Brauch ist, wollte Henri Berestycki, der in der Fachwelt hohes Ansehen genießt, seine Gastgeber bei einem Vortrag über seine aktuellen Arbeiten informieren. Doch die einleitenden Worte des Gastes zu seinem Vortrag am 7. Februar in einem Hörsaal in Vaihingen lenkten den Focus auf Deutschlands Vergangenheit.
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„Es war für mich nicht immer selbstverständlich, nach Deutschland zu fahren. In meiner Jugend genügte schon das Wort „Deutschland”, um Schmerz - einen schwer sagbaren Schmerz - , aber auch Trauer und Wut auszu-lösen... Ich bin der Sohn von Juden, die die Shoah überlebt haben; von den wenigen polnischen Juden, die dem Massaker entkommen sind. Meine gesamte sonstige Verwandtschaft wurde vernichtet“, sagte Professor Beres-tycki. „Meine Großeltern sind im zweiten Weltkrieg umgekommen, einer in einem Vernichtungslager und drei im Ghetto von Lodz. Zehn Brüder und Schwestern meiner Eltern sind von den Nazis ermordet worden, und mit ihnen zahlreiche Kinder und sogar Babys. Alle - Großeltern, Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen - ohne Grabstätte. Meine Mutter war in Auschwitz (in der „Nazitodesmaschine”, wie es kürzlich hier in einer Zeitung hieß), und sie hat überlebt. Mein Vater hat überlebt, indem er vierzehn Monate lang in den Abwasserkanälen von Lemberg, dem heutigen Lvov, zubrachte. Mit Ausnahme einer von meinem Vater organisierten Gruppe und ein paar in einem Kloster außerhalb der Stadt versteckten Personen hat niemand aus dem Lemberger Ghetto überlebt. Wie Sie wissen, wurde in eben dieser Stadt unter vielen anderen Juden auch der berühmte Mathematiker Julius Schauder ermordet.“

 

Es war das erste Mal, dass Henri Berestycki, den zuvor schon Forschungskontakte nach Deutschland geführt hatten, über dieses Thema sprach. In einem Gespräch mit dem unikurier erzählte er die Geschichte seiner Familie. Seine Eltern, die beide ihre früheren Ehepartner durch das Naziregime verloren hatten, gelangten 1948 über Umwege nach Paris. Dort wurde Henri Berestycki 1951 gebo-ren und wuchs in eher armen Verhältnis-sen auf. Sein Vater, ur-sprünglich Schlosser von Beruf, sicherte das Überleben der Fami-lie mit einer Schneiderwerkstatt. Seine Mutter war es, die den kleinen Henri, dessen Begabung bald erkennbar wurde, zum Lern-en ermutigte. Und sie ermöglichte ihm eine entsprechende Aus-bildung: nach dem Tod ihres Mannes im Jahr 1968 nahm sie im Alter von mehr als 50 Jahren erstmals eine Berufstätigkeit außer-halb des Hauses auf und sorgte mit ihrer Arbeit in einem Schnei-deratelier für den notwendigen finanziellen Rückhalt.

 Die Schrecknisse der Vergangenheit standen nicht im Vorder-grund. „Meine Eltern sprachen wenig über diese Zeit“, erinnert sich Prof. Berestycki, „ich lernte allmählich, kannte aber keine Details“. Und es war für ihn keine belastete Jugend, erzählt er. Seine Eltern, die sehr stolz auf ihre jüdische Herkunft waren - so lehnten sie beispielsweise bei der Einbürgerung in Frankreich eine Namensänderung ab -, wurden ihm „zum Vorbild für Mut, Großherzigkeit und Integrität“. Und sie vermittelten ihm „Freude am Dasein“.

 Erst als Berestycki, inzwischen längst ein bekannter Mathematik-er, für den Humboldt-Forschungspreis nominiert wurde und zunäch-st unschlüssig war, ob er diesen annehmen könne, begann er in ausführlichen Gesprächen mit seiner heute 89-jährigen Mutter, die Geschichte seiner Familie genauer zu erforschen. Und er entschlo-ss sich, darüber zu sprechen - seine Mutter, seine Frau und auch seine erwachsenen Kinder ermutigten ihn dazu. „Es war nicht leicht, den Preis anzunehmen“, sagt er. Die Rede, die er in Stutt-gart auch zur Überraschung mancher Freunde hielt, „war das Er-gebnis langer, harter Arbeit“.

 „Die Welt der Mathematik hilft einem, so manche Schwierigkeit zu überwinden“, sagt er. So begegnete er in Deutschland Kollegen, die er im Lauf der Jahre regelmäßig und gern wiedersah. Die An-nahme des Preises erleichtert hat dem Gast letztlich die hier ge-leistete „beachtliche Gedächntisarbeit“. Als „überzeugende Bei-spiele“ nennt er die Reden von Bundeskanzler Schröder anlässlich der sechzigsten Wiederkehr der Befreiung von Auschwitz sowie die Rede von Bundespräsidenten Köhler in Israel.

 

„Ich konnte in dieses Land kommen und darin nach und nach wiederentdecken, was ich an diesem Land liebe, seine Kultur, die ich bewundere, die erstaunliche Vertrautheit mit der Sprache und mit gewissen Bräuchen, die ich von meiner Familie her kenne und hier wiederfinde. Eigentlich eine recht seltsame Vertrautheit“, sagt Henri Berestycki.

 Gewidmet hat Berestycki den Alexander von Humboldt-Preis sein-em verstorbenen Vater Jakob Berestycki und seiner Mutter Gitla Friede-Berestycki. Humboldt wusste - wie Berestycki hervor-hebt - schon in seiner Jugend den Vorurteilen seiner Zeit zu widerstehen - er verkehrte in den jüdischen Salons in Berlin, „wo der Geist der Aufklärung wehte. Seine visionäre Begabung, sein abenteuerlicher, unternehmungsfreudiger Geist, seine multidisziplinäre Vorgehens-weise, seine Fähigkeit, politische, geographische und wissen-schaftliche Grenzen zu ignorieren, alles im Dienste der Erkenntnis, aber auch einer nie versagenden Humanität: diese Tugenden müssen uns als Lehre dienen, die man sich nicht oft genug vor Augen führen kann“.                                                      Zi
 

 


Zur Person

Henri Berestycki (54) ist Vizepräsident der in Frankreich hoch angesehenen Ecole des Hautes Etudes an Sciences Sociales und Direktor des zu diesem interdiszplinären Forschungsinstitut gehörenden Centre d'Analyse et de Mathématique Sociale (Paris). Er gilt als einer der führenden Mathematiker auf dem Ge-biet der nichtlinearen Analysis und der nichtlinearen partiellen Differentialgleichungen. Seine Resultate über sich ausbreitende Fronten bei reaktiven Prozessen erlauben erstmalig, das Ausbreitungsverhalten von Explosionswellen sowie gekrümmten Wellenfronten in heterogenen Medien mathematisch zu ver-stehen. Zudem hat er mathematische Modelle der chemischen Verbrennung, der Supraleitung, der mathematischen Biologie sowie für die Finanzmathematik entwickelt. Im Rahmen seines Alexander von Humboldt-Forschungspreises arbeitete Henri Berestycki mit seinen Stuttgarter Gastgebern, Professor Wolfgang Wendland und Dr. Messoud Efendiev, vor allem über Fronten bei nichtlinearen Reaktions-Diffusionsgleichungen. Zur Zeit arbeitet er auch an modernen Theorien in den Sozialwissenschaften zur Beschreibung kollektiven Verhaltens. Er schätzt an der Mathematik besonders die Erkennung von Gesetzmäßigkeiten und die Vielseitigkeit der Anwendungen. Im Rahmen des mit 50.000 Euro dotierten Preises besucht Henri Berestycki in diesem Jahr weitere Forschungsinstitutionen in Deutschland, darunter Köln, Berlin, Leipzig und erneut Stuttgart.                                                         zi
 

 

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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