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Stuttgarter unikurier Nr. 95 Mai 2005
Symposion „Apparaturen bewegter Bilder“:
Wenn das Sehen unter Beobachtung gerät

Als im 19. Jahrhundert die ersten Filme gezeigt wurden, glaubte das verschreckte Publikum erst nach einem Blick hinter die Leinwand, dass die gezeigten Abenteuer eine Illusion sind. Wie die „Apparaturen bewegter Bilder“ das Sehen veränderten und dieses dabei selbst zum Gegenstand der Forschung wurde, untersuchte ein Symposium des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung (IZKT) im Januar.
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Der elektrische Schnellseher von Ottomar Anschütz aus dem Jahre 1887. Jedes Glas-bild auf der kreisförmigen Scheibe wird bei seiner Rotation mittels einer Handkurbel durch ein Blitzlicht aus einer Geißler'schen Röhre erleuchtet und löst so beim Betrachter den Effekt bewegter Bilder aus.
(Quelle: Scientific American 1889)

„Die frühen Daumenkinos, Thaumatrope und Projektionsapparate stürzten die klassischen Erkenntnisse des Sehens in eine tiefe Krise“, erläuterte der geschäftsführende Direktor des IZKT, Prof. Georg Maag, bei der Er-öffnung im Theaterhaus Stuttgart. Sie fand ihren Niederschlag in der naturwissenschaftlichen Forschung, insbesondere in technologischen Laboratorien der Optik. „Wir verhandeln jedoch heute ein Thema, das interdisziplinäres Herangehen erfordert. Es ist damit ein klassisches Feld für das IZKT“, betonte Maag. Und Prorektor Wolfgang Ehlers ergänzte in einem Grußwort der Uni: „Bewegte Bilder haben die Welt verändert. Dabei wurden sie an der Schnittstelle von Kultur und Technik selbst zum Objekt der Geschichte.“

 

Vielfältige Fragestellungen

Ein Objekt, das vielfältige Fragestellungen aufwirft, wie Daniel Gethmann vom Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften der Technischen Univer-sität Graz darlegte. Zunächst stand die Funktionsweise der erstaunlichen Apparaturen im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Spätere Studien analysierten, wie das Auge Bewegung als Dehnung oder Verdichtung zeitlicher Abläufe wahrnimmt und wie die Apparate aus dieser „Sinnes-täuschung“ Bewegungsillusionen produzieren. „Durch die Erstellung be-wegter Bilder geriet das Sehen selbst unter Beobachtung“, resümierte Gethmann.

 

 

 

Internationale Besetzung

Das international besetzte Symposion folgte dieser Aufgabenstellung: Statt bewegte Bilder alleine in der Perspektive einer Vorgeschichte des Films wahrzunehmen, sollten die wechselvollen Verflechtungen von apparativen Gegebenheiten, phy-siologischen Untersuchungen, experimentellen Anordnungen, technischen Erfindungen und ästhetischen Effekten zur Sprache kommen. Die Beiträge skizzierten die Entwicklung vom Daumenkino zum Kino (Prof. Mary Ann Doane, Rhode Island, USA), hinterfragten, wie sich die Apparaturen bewegter Bilder zu den heutigen autovisuellen Medien verhalten (Prof. Frank Kessler, Utrecht) oder schlugen einen philosophischen Bogen von der Auseinandersetzung mit der optischen Täuschung bei Kant zu der transzendenten Perspektive eines Johann Heinrich Lambert.

 

Radikaler Bruch

Dabei zeigten die Tagungsbeiträge, dass die „Apparaturen bewegter Bilder“ nicht von ihrer Bestimmung als „Appareil du sens“ zu trennen sind. Technische Apparaturen, erläuterte Christoph Hoffmann (Max-Planck-Institut, Berlin) am Beispiel der stroboskopischen Experimente Joseph Plateaus, stellen stets auch sinnesphysiologische Kulturmerkmale einer bestimmten historischen Zeit dar. Die frühen visuellen Medientechniken und ihre sequentiellen Bilder initiierten einen radikalen Bruch mit den überkommenen Vorstellungen des Sehens - und zwar vor der Erfindung der Photographie oder gar des Films.

 Eine amüsante Annäherung an die Materie erwartete die Besucher des Kommunalen Kinos, das als Kooperationspartner des IZKT eingebunden war. Dort zeigte Christian Lebrat (Paris) museales Filmmaterial, in dem das avantgardistische Potential der so genannten „trous noirs“ (schwarze Löcher, gemeint sind die Schnittstellen zwischen den einzelnen Auf-nahmen) ausgelotet wurde. „Künstler wie Fernand Leger oder Stan Brakhage zogen beispielsweise Pflanzen über das Zelluloid und bearbeiteten es wie eine Skulptur von Hand“, schilderte Lebrat den experimentellen Entstehungsprozess der Filme.

 Ein weiteres Highlight war der Festvortrag über die Chronophotographien Etienne-Jules Mareys von Prof. Michel Frizot (Paris). Der von der DVA-Stiftung im Rahmen des 42. Jahrestages der Unterzeichnung des Vertrags über die deutsch-französische Freundschaft geförderte Vortrag fand im voll besetzten Max Bense-Saal der Stadtbücherei statt.

Andrea Mayer-Grenu

 

Chronophotographie des Fluges einer Möwe von Etienne Jules Marey, zehn Bilder pro Sekunde (1886).
                                                        (Quelle: Marey, Etienne Jules: LE MOUVEMENT. PARIS: MASSON 1894)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

KONTAKT

Prof. Georg Maag
Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung
Tel. 0711/121-3113
Fax. 0711/121-2819
e-mail: info@izkt.uni-stuttgart.de

 

 

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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