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Stuttgarter unikurier Nr. 95 Mai 2005
 
Menschen an der Universität

 

Eine Universität wird lebendig und nimmt Gestalt an durch die Menschen, die dort tätig sind. Menschen forschen in den unterschiedlichsten Disziplinen, bilden als akademische Lehrer-innen und Lehrer den Nachwuchs aus, sorgen für reibungslose Abläufe in der Verwaltung, studieren Fächer ihrer Wahl und engagieren sich vielleicht in den Selbstverwaltungsgremien der Hochschule.

  Was bewegt diese Menschen? Woran arbeiten sie? Für welche Ideen, für welche Projekte sind sie aktiv? Wie definieren sie ihre Erfolge? Ist es die Anerkennung der Fachkollegen, die Bewilligung eines Forschungsantrags? Sind es Auszeichnungen im Studium oder im Forsch-ungsgebiet? Oder vielleicht Fortschritte auf dem Weg zu einem Ziel, das man sich gesetzt hat?

  Dabei muss es keineswegs um Spektakuläres gehen - mitunter ist das Besondere auch im Alltäglichen zu finden. Und zu entdecken gibt es genug.

  Der unikurier wird künftig in loser Folge Menschen aus der Universität Stuttgart vorstellen, die an den unterschiedlichsten Stellen zum Funktionieren des Wissenschaftsbetriebs bei-tragen.

  Wir beginnen unsere Serie mit einem Porträt über eine Wissenschaftlerin, die an einem Projekt arbeitet, das vielen Menschen helfen kann. Die Mathematikerin Waltraud Schweik-hardt hat im Rahmen eines europäischen Forschungsprojekts ein Softwarepaket entwickelt, das Mathematik und ihre Formelsprache Blinden und stark sehbehinderten Menschen zu-gänglich macht. Und damit passt ihr Projekt ganz wunderbar zu einer wesentlichen Leitidee der Universität Stuttgart: Technologien für Menschen zu entwickeln. zi
 
Waltraud Schweikhardt:
Ein Leben für Blinde und die Mathematik

Mathematik für Blinde fasziniert Dr. Waltraud Schweikhardt, seit sie in den 70-er Jahren an ihrer Diplomarbeit im Hauptfach Mathematik schrieb und sich nebenher bei der Akademikergesellschaft für Erwachsenenbildung in Stuttgart ein paar Mark hinzuverdiente. Dort entstand die Idee, Fernkurs-material für Blinde aufzubereiten. Was für Texte dank der von Louis Braille entwickelten Punktschrift damals schon möglich war, schien für die höhere Mathematik jedoch utopisch.
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Vor allem geometrische Zusammenhänge waren mit den damaligen Methoden nicht darstellbar. Winkel und Dreiecke mussten deshalb in Worten beschrieben werden - was der jungen Frau einige Phantasie abverlangte. „Um zu erklären, wie eine Tangentialebene eine Kugel berührt, verglich ich die Figur mit einer Orange und die Gerade mit Stricknadeln, die sie durchstoßen und schließlich wie Vektoren eine Ebene aufspannen“, erinnert sich Schweikhardt amüsiert.

 

(Foto: Eppler)

Informatik als Ausweg

Einen Ausweg versprach sich die gebürtige Stuttgart-erin von dem neuen Fach Informatik, in dem Schweik-hardt 1981 mit einer Dissertation zum Thema „Eine rechnergestützte Lern- und Arbeitsumgebung für Blinde“ promovierte. Doch nicht jeder erkannte das Potential der neuen Technologie: Doktorvater Prof. Rul Gunzenhäuser, selbst Pionier auf dem Feld rechner-gestützten Lernens, konnte sich nicht vorstellen, wie sie ihr Vorhaben verwirklichen wollte. Und auch die Lehrer an den Blindenschulen waren skeptisch.

 Waltraud Schweikhardt kämpfte mit Begeisterung und Beharrlichkeit - und hatte schließlich Erfolg. 1980 konnten Blinde erstmals am Computer mit geomet-rischen Figuren arbeiten. Die Software Kotexa (Konstruktionsauswerter) erlaubte es, Anweisungen, die in natür-licher Sprache eingetippt wurden, in gedruckte geometrische Zeichnungen umzusetzen. „Es war erstaunlich, wie Blinde im Dialog mit dem Programm eine Figur begreifen konnten“, sagt Schweikhardt. Der verwendete Mikro-rechner bildete erstmals eine Braille-Zeile ab, auf der die textlichen Ein- und Ausgaben der blinden Benutzer in Punktschrift wiedergegeben wurden.

 Ein weiterer Meilenstein war die „Stuttgarter Mathematikschrift für Blinde“ (SMSB), eine Acht-Punkt-Schrift, mittels derer die Darstellung mathematischer Ausdrücke an einem Rechner nutzbar wurde. 

Beim Lambda-Day in der Stuttgarter Nikolauspflege kamen blinde Schüler und ihre Lehrer mit dem Editor schnell zurecht.                             (Foto: Eppler)

 

Figuren übertasten

Plastisch fühlen konnten Blinde Grafiken und Bilder aber erst 1984. Dies ermöglichte eine eigens entwickelte Stiftplatte, ein graphisch-es Ausgabegerät, an dessen erhabenen Punkten Blinde beispiels-weise einen Kurvenverlauf ertasten können. Damit hatten Blinde 1987 einen Zugang zu einem öffentlichen elektronischen Kommuni-kationsmittel. Mit dem Aufkommen der ersten Scanner konnte Blinden auch hoch auflösende gedruckte Dokumente zugänglich gemacht werden, wozu spezielle Algorithmen entwickelt wurden.

 Auch an der Uni engagierte sich Schweikhardt, zu deren engsten Mitarbeitern am Institut der blinde Programmierer Alfred Werner gehört, immer wieder für neue Methoden des Lehren und Lernens und bezieht Sehgeschädigte ein. So bereitete sie im Rahmen des Uni-weiten Projekts „100-Online“ ihre Vorlesung „Rechnergestütz-tes Lehren und Lernen“ für Blinde auf und hält eine Vorlesung mit dem Titel „Interaktive Systeme für sensorisch Behinderte“.

Amg

 

 

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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