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Stuttgarter unikurier Nr. 94 Dezember 2004
Junge Leute bauten ihre „Stadt der Zukunft“:
Ingenieurkunst rund um’s Bauen beim nanoCAMP

In fünf Tagen die „Stadt der Zukunft“ bauen? Für sechzehn Jugendliche aus Deutschland, Österreich und der Schweiz wurde dieser Traum beim nanoCAMP 2004 vom 15. bis 20. August Wirklichkeit. Wissenschaft hautnah erfahren, Einblick in das vielfältige Berufsbild der Bauingenieure gewinnen und selbst mit Hand anlegen lautete dabei die Devise - und Stuttgarter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sorgten für die fachkundige Betreuung. Die von der Universität Stuttgart in Zusammenarbeit mit 3sat organisierte und von der Stadt Stuttgart, der Aktionsgemeinschaft Wissenschaft im Dialog und der Zeitschrift Bild der Wissenschaft unterstützte Veranstaltung fand zudem nicht nur in den abendlichen Sendungen des Zukunftsmagazins „nano“, sondern auch in Presse und Hörfunk überregional positive Resonanz.
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„Wenn einer eine Reise tut, dann kann er viel erleben“ - Wohnungs-aufbau inklusive. Egal wie lange die Anfahrt war, ob Frankfurt, Bremen, Wien oder Berneck, bei der Ankunft auf dem Brachgelände hinter dem Stuttgarter Hauptbahnhof hieß es nicht Zimmerbezug, sondern Container aufstellen. Zunächst virtuell im Computer, dann real unter fachkundiger Anleitung eines Kranführers.

 Versorgungs- und Sanitärcontainer stehen schon bereit und verbreiten mit den davor über Wasserpfützen verlaufenden Holzdielen venezian-isches Flair. Für die sechs Wohncontainer haben sich die sechzehn Jugendlichen im Alter zwischen 16 und 18 Jahren schnell auf einen Halbkreis geeinigt. Freie Wege, keine Containertür, die zur Gefahren-quelle werden kann: Balthasar Novák ist zufrieden. „Rechtwinklig angelegte Wege sind eine Todsünde“ hatte der Professor vom Institut für Leichtbau, Entwerfen und Konstruieren zuvor erklärt, wählen die Menschen doch immer den kürzesten Weg, wie Trampelpfade aller Orten zeigen. Auch die Ausrichtung der Container mit den Fenstern nach Osten hin hat geklappt. „Die Vorstellung, von der Sonne geweckt zu werden, hat nicht allen gefallen“, merkt Professorin Silke Wieprecht vom Institut für Wasserbau an, aber die Aussicht auf einen von der Sonne backofengleich aufgeheizten Container hat dann doch überzeugt.

 Während sich die Jugendlichen noch über die Wasser- und Stromversorgung des Camps und dessen Abwasser Gedanken machen, rückt die Begrüßung an: Oberbürgermeister Dr. Wolfgang Schuster und Uni Rektor Professor Dieter Fritsch. Wolfgang Schuster lädt die Jugendlichen ein, „Stuttgart zu genießen“. Viele Experimente verspricht Dieter Fritsch für die kommenden Tage und er hofft darauf, den einen oder anderen nanoCAMPer nach dem Abitur als Studentin oder Student an der Uni begrüßen zu dürfen. „Dank Professor Novák haben sie kein Hotelzimmer, sondern wohnen auf der Baustelle!“, erklärt Helmut Riedl, Planungskoordinator der Sendung nano, noch, dann ist vor dem Bettenbezug Sand schaufeln angesagt - nicht nur für die Fotografen, auch aus Eigeninteresse, immerhin sollen die 25 Kubikmeter zum Beachvolleyballfeld werden.

 

Vom Virtuellen zum Realen

 Im Höchstleistungsrechenzentrum der Uni Stuttgart fängt der Tag virtuell an. Die 3-D-Brillen verdecken so manchen Augenring und versetzen die Jugendlichen im Cave mitten hinein in virtuelle Bauwerke, in denen sie planend aktiv werden können. Kurz war die Nacht, die Begeisterung beim Einrichten der Wohncontainer am PC aber trotzdem groß. Wie wäre es beispielsweise mit einem Whirlpool? Der Kreativität sind keine Grenzen gesetzt.

 Windumtost und etwas regnerisch präsentiert sich später die Realität: der Killesbergturm - 40,4 Meter hoch, die Aussichtsplattform auf 31 Metern. Rundum 48 Spiralseile mit nur 18 Millimetern Durchmesser geben ihm halt. Doch wenn sechzehn Jugendliche heftig auf der obersten Plattform rütteln, dann kommt er in Schwung ... und mit ihm sein Erbauer, Professor Jörg Schlaich, der viele Jahre am früheren Institut für Massivbau der Universität Stuttgart lehrte und forschte. Für die IGA 1993 als leichter Turm mit großzügiger Plattform geplant, wurde der Bau erst 2001 realisiert, erzählt der Bauingenieur. Dank der Vorspannung der Seile, die Zug in Druck umwandeln können, steht der Killesberg-turm auch schwankend fest - eine transparente, tragende Röhre sozusagen. Die separaten Auf- und Abgänge gehen auf eine Kindheitserinnerung Schlaichs zurück, der mit seinen Eltern oft einen Turm bestieg, in dessen Innerem man auf engen Treppen mit Gegenverkehr konfrontiert war. „Konstruierender Ingenieurbau, das ist ein kreativer Beruf“, legt Jörg Schlaich den nanoCAMPern ans Herz. „Hier kann man noch als Einzelner etwas bewirken und arbeitet nicht die längste Zeit seines Arbeitslebens zum Beispiel nur an der Tragfläche eines Flugzeuges.“ Und er führt die Jugendlichen auch in die Geheimnisse des von ihm entwickelten Aufwindkraftwerks ein - errichtet in den „sonnigen“ Wüsten der Welt, so zum Beispiel in der Sahara, könnten die Entwicklungsländer mit dessen Hilfe sogar Energie exportieren.

 23.00 Uhr, Großbaustelle B10 am Pragsattel - der Tag war lang. „Wenn die weiter so mitmachen, dann sind sie am Donnerstag alle platt“, hatte Balthasar Novák vor vier Stunden noch angesichts der aktiven jungen „Brückenbauer“ gesagt. Vier Gruppen, jeweils ausgestattet mit Holzlatten, Nägeln, Seilen und Draht, waren in der Tiefe der Tunnelbau-stelle gegeneinander angetreten. Es galt, eine stabile vier Meter lange Brücke zu konstruieren. Sägen, Bohren, Überlegen, Nägel einschlagen ... während sich eine reine Herrengruppe für eine Fachwerkkonstruktion Marke Jägerzaun entschied, favorisierte die Damengruppe eine Seilkonstruktion. Bei der abschließenden Belastungsprobe mit einem 1000-Liter-Wassertank trägt diese tatsächlich 185 Kilogramm und kommt damit auf Platz drei, Vanessa kann es kaum fassen. Mit 400 Kilogramm belegen die Herren Platz zwei und erst bei rund 700 Kilogramm bricht die Nummer eins, ein etwas eigenwilliges Bauwerk. Hier hat sich der harte Sägeeinsatz von Karoline gelohnt und Maxim sieht seine Devise bestätigt: „Auch ein gewisser Schuss Kreativität darf sein.“

 

 

Bauen in vielfältiger Hinsicht war angesagt und die jungen Leute waren mit Begeisterung dabei - ob es ums Sandschaufeln fürs Beachvolleyballfeld ging, um das Verlegen der Abwasserrohre für das Camp oder um den Bau einer Brücke, deren Belastungsfähigkeit anschließend getestet wurde.                                                      (Fotos: Eppler)

 

Wasser marsch

Ob sie wohl etwas weiß um die Nase sind? Vor knapp 15 Minuten sind sie in den Tiefen der Stuttgarter Kanalisation verschwunden. Gut gerüstet mit weißem Vollkörperanzug, Handschuhen, Gummistiefeln, einem gelben Helm mit Lampe auf dem Kopf und um die Brust einen Trapezgurt - der Sicherheit wegen. Die andere Gruppe hat sich derweil am Morgen des dritten Tages zuerst einen Film im Infozentrum der Stadtentwässerung Stuttgart am Neckartor angesehen, sich über die Arbeit der Wasserwerker im und am 1.735 Kilometer langen Kanalnetz informiert und erfahren - hier sind sogar Goldgräber am Werk, finden sich doch Geld und Eheringe in der Kanalisation.

 „Hat nicht mal so schlimm gerochen wie befürchtet“, stellt Christina erleichtert fest. Dinka wundert sich: „Hier oben riecht es ja fast schlimmer als unten!“, und dann erzählt sie von der Ratte, die ihnen über den Weg gelaufen ist. Der nächsten Gruppe reicht es gerade noch zur Entnahme einer Luftprobe, denn die Warnung „Regen“ heißt, den Kanal schnellstens zu verlassen. Nächste Station ist Büsnau. Dr. Martin Reiser vom Institut für Siedlungswasserbau, Wassergüte- und Abfallwirtschaft zeigt den nanoCAMPern dort das Forschungsklärwerk einschließlich der wichtig-sten Techniken der Abwasserbehandlung und weist sie in die Bedienung eines Olfaktometers ein. Nun sind die „feinen Näschen“ der Jugendlichen gefragt. Wer den Geruchsstoffen nicht mit der eigenen Nase auf die Spur kommen möchte, für den gibt es jedoch auch die technische Version. 250 Substanzen macht das Massenspektrometer in der Kanalluftprobe aus, einschließlich der stinkenden Amine- und Schwefelverbindungen.

 Deutschland, Institut für Wasserbau, Multilab, 15.50 Uhr: Léon schläft. Ob er wohl im Unterbewusstsein den Worten von Bernd Zweschper vom Institut für Geotechnik folgt? Der erklärt nämlich gerade, wie man Dämme baut und was denen alles passieren kann: Überströmt können sie werden, das Wasser kann sie verschieben, ihre Böschung brechen und Material ausschwemmen. In der Versuchsanlage sollen die nanoCAMPer später nämlich einen wasserdichten und standsicheren Hochwasserschutz erstellen.

 Sämtliche Dammbaumaterialien stehen bereit, Ton, Schluff, Sand, Kies, Spaten und - „Ein Bagger?“, nein, den benötigt man für die Dämme en miniature nicht, da ist Léons Traum wohl etwas zu groß geraten. „Zusehen wie der Damm bricht, das macht am meisten Spaß“, findet Thorsten. Im Moment teilt diese Meinung nur noch Silke Wieprecht. Sie wirbt für´s instabile Bauen, sollen die Jugendlichen doch einmal sehen, wie sich eine Sickerlinie durch den Damm zieht. Vanessa und Karoline bauen unbeirrt für die Ewigkeit, Léon liefert dazu eine spezielle „ägyptische Mischung“. Ein Bauingenieur würde doch auch nicht absichtlich einen Einsturzkandidaten bauen, ist ihr unschlagbares Argument. Dann doch lieber später den Supergau provozieren und den Damm überschwemmen ...

 

  Die Konstruktion des Killesbergturms (links) erläuterte dessen Erbauer Jörg Schlaich (Foto oben rechts) den jungen Leuten, die auch lernten, ihr Camp zu vermessen und Dämme zu bauen.                                                      (Fotos: Eppler)

 

Vermessen und sich wohl fühlen

Das Container-Camp vermessen - wer hätte gedacht, dass diese Aktion so in die Muskeln gehen kann. Tobias und Léon kämpfen mit dem propellerbetriebenen Heliumballon. Ausgerüstet mit Präzisionskameras soll er Bilder vom Camp liefern, doch dazu muss er über den richtigen Stellen schweben, und das ist an diesem windigen Vormittag alles andere als einfach. Zusammen mit den Vermessungsdaten und Bildern des „Bodentrupps“ sollen die Luftbilder später in den Computer eingegeben werden, und wenn die GPS-Daten richtig erfasst wurden, müsste sich das nanoCAMP in den vorliegenden virtuellen Stadtplan von Stuttgart richtig einpassen lassen. Doch nicht nur an Stadtplänen arbeiten die Wissenschaftler des Instituts für Photogrammetrie, erfahren die jungen Vermesser, auch zum Beispiel für die Echtzeitnavigation von Fahrzeugen ist deren Arbeit gefragt.

 Bei blauem Himmel und strahlender Sonne denken die nanoCAMPer nicht an den Winter. Professor Fritz Brenner vom Institut für Baubetriebslehre dagegen schon. „Im Winter, da wäre das Camp schwieriger zu bauen gewesen“, erzählt er, denn Wasser- und Abwasserleitungen müssen vor Kälte geschützt werden - und das kostet Zeit. Zeit, die gerade bei Großbauten sehr genau kalkuliert werden muss. Wie sorgt man für den richtigen Wärmehaushalt in Gebäuden und wie wird eine gute Schalldämmung erreicht? Für diese Fragen stand Professor Klaus Sedlbauer vom Uni-Lehrstuhl und dem Fraunhofer-Institut für Bauphysik den nanoCAMPern zur Verfügung und für die Erfassung der optimalen Wohlfühl-temperatur und -feuchtigkeit ein Dummy. Allerdings: Einen Raum für gleich gekleidete Menschen angenehm machen, das geht fast nicht, denn jeder empfindet die Temperatur anders, erklärte der Professor.

 

Nur Fliegen ist schöner ...

Der letzte Tag des nanoCAMPs beginnt früh. Schon um sieben Uhr zählen die Jugendlichen an der Heilbronner Straße /Türlenstraße die Autos. Später werden sie die Daten in den Computer eingeben und nachsehen, ob und wie man den Verkehrsfluss optimieren kann. Das Unglaubliche dabei: 400 Autos sind von einem Knotenpunkt zum anderen verschwunden, ohne dass es dazwischen einen Abzweig gab. War wohl doch etwas früh?

 Als es später im Ausbildungszentrum der SSB in Stuttgart Möhringen darum geht, selbst eine U-Bahn zu lenken, sind fast alle wieder hellwach. Zunächst im Simulator geübt, geht es im Hauruckverfahren auf die Schienen - Heumaden hin und zurück. Der Fahrschulbahn folgt an den Haltestellen so mancher verwunderte Blick. „Die Fahrer werden auch immer jünger“, scheint der eine oder andere wartende Fahrgast zu denken. Brrrrrrr.... Tobias klingelt, was das Zeug hält - Sicherheit geht vor - und dann darf er mit der U-Bahn eine Vollbremsung machen. Lange dauert es, bis die 56 Tonnen zum Stehen kommen. „Einen dreimal so langen Halteweg wie ein Auto haben wir“, hat Fahrlehrer Willi zuvor erklärt, und er hat die nanoCAMPer in die Bedienung des Gashebels eingeweiht und in die Funktion des Totmannschalters, eines Pedals für den linken Fuß. Wird es zu stark oder schwach gedrückt, bringt eine Automatik den vermeintlich führerlos gewordenen Zug zum Stehen.

 Zum Abschluss des Tages und des nanoCAMPs heißt es: Nur Fliegen ist schöner ... Mit einer Cessna über Stuttgart und das Camp, Schwerelosigkeit inklusive - die Begeisterung ist grenzenlos. Das von Professor Jörg Brüdern, Prorektor für Forschung der Uni Stuttgart, überreichte Diplom in der Tasche, die Wohncontainer wieder abgebaut, heißt es Abschied nehmen.

Julia Alber


 
 


Von der Künstlerin zur Ingenieurin?

Mit der Ingenieurkunst ist Karoline Orboi noch nie in Kontakt gekommen. „Das war für mich fremdes Territorium“, erzählt die 17-Jährige, die in Grünkraut das Gymnasium besucht und aufgrund ihrer Hobbys - Malen und Zeichnen - über ein Design-Studium nachdenkt. Oder nachdachte?
Fünf Tage nanoCAMP, eine „bereichernde Zeit“, in der sie auf Leute traf, „mit denen man sich unterhalten, mit denen man diskutieren konnte“, haben ihr die Augen für bislang ganz unbekannte Dinge geöffnet. „Ich schaue mir jetzt jede Brücke an“, wundert sich Karoline selbst, die mit ihrer Gruppe beim Brückenbauwettbewerb das stabilste Exemplar gebaut hat. Und, eigentlich ganz der Kunst zugetan, könnte sie sich jetzt vielleicht sogar ein Bauingenieurstudium vorstellen, „wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten man damit hat, den Menschen zu helfen.“ Voraussetzung dafür allerdings, sie freundet sich mehr mit der Mathematik an, denn um dieses Fach kommt man als Ingenieur nicht herum.
Ein nanoCAMP mit anderem Thema? Karoline würde sich immer wieder bewerben. „Überhaupt“, merkt sie angesichts der Tatsache an, dass nur sechzehn Jugendliche die Chance bekommen haben, dieses CAMP mitzumachen: „So etwas müsste viel öfter angeboten werden, denn woher soll man denn wissen, was man machen kann und was einem liegt? Die Praktika von der Schule aus bringen keinen solchen Einblick.“
 

 

 

 


last change: 15.12.04 / yj
Pressestelle der Universität Stuttgart

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