Was interessiert junge Chinesen an
Europas Mittelalter?
Historische Untersuchungen beobachten
zunehmend häufiger in der Vergangenheit Wahrnehmungsweisen,
die sich nicht aus der „Mentalität“ einer Gesellschaft
ableiten lassen. Jüngste, an biologischen Forschungen
orientierte Untersuchungen ließen erkennen:
Gesellschaftstypische Wahrnehmungsweisen gehen auf
„Zeiterfahrungen“ zurück. Diese prägen die
Zukunftsvorstellungen der Menschen. In diesen Erfahrungen
werden Männer und Frauen mit Zeitmustern vertraut, die sich
von Epoche zu Epoche - und in jeder Kultur anders - nach
eigenen Gesetzen wandeln.
Der emeritierte Stuttgarter Historiker
Prof. August Nitschke überprüfte, eingeladen für zwei Monate
nach Changchun in die Mandschurei (siehe dazu auch
www.uni-stuttgart.de/wechselwirkungen/ww2002/nitschke.pdf),
auf Bitten junger chinesischer Historiker mit diesen anhand
von Texten, Kunstwerken und Bewegungsrekonstruktionen diese
Ergebnisse im Mittelalter und im 20. Jahrhunderts. Dabei
beobachtete er: Die Studenten kannten ihre eigenen
Traditionen nicht mehr. Sie haben vom Marxismus nur die
Forderung übernommen, dass jedes Ereignis und jede Struktur
der Vergangenheit kausal begründet werden muss. So
argumentierten sie unterschiedlich, doch immer
leidenschaftlich gegen jede nur beschreibende
Geschichtswissenschaft. Die oft sehr kritischen, meist
jedoch heiteren Dialoge werden aufgrund schriftlicher
Aufzeichnungen wiedergegeben.
Die Argumente der Studenten, die Kinder
von Bauern und von Akademikern sind, wurden erst
verständlich bei genauerer Kenntnis der Lebensformen einer
chinesischen Großstadt. Die überreichlichen Warenangebote,
der überraschend rücksichtslose Verkehr, die zahllosen
kleinen Restaurants, der tägliche abendliche Tanz auf einer
Hauptstraße und die Beharrlichkeit der in der Arbeitswelt
lenkend tätigen Frauen schaffen trotz bürokratischer
Einengungen eine Atmosphäre der Neugier und eine
Aufbruchstimmung, die die Fragestellungen der Studenten
nachhaltig beeinflusst. Dies bezeugt der Alltag, von dem
neben den wissenschaftlichen Diskussionen bei den
„Gesprächen in Changchun“ in recht unbekümmerten und sehr
persönlichen Erzählungen anschaulich berichtet wird.
August Nitschke:
Zeitmuster in der Geschichte -
Was interessiert junge Chinesen an Europas Mittelalter?
Rüdiger Köppe Verlag (Köln), 2004, 432 Seiten
Hardcover; 39, 80 Euro (ISBN 3 - 89645 - 404 - 8)