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Stuttgarter unikurier Nr. 94 Dezember 2004
Taschkent - Transformationen einer zentralasiatischen Stadt:
Alte Muster kehren wieder
 

Als „grüne Oase in der Steppe“ lockt heute - zumindest in den Katalogen - die größte Stadt Zentralasiens wieder Reisende auf einer klimatisierten Bahnfahrt entlang der westlichen Seidenstraße. Taschkent, seit 1991 Hauptstadt des wieder unabhängigen Staates Usbekistan, hat heute fast 2,3 Millionen Einwohner. Die jahrhundertealte Geschichte der Stadt ist geprägt von Machtwechseln und Modernisierungsschüben, die von den orientalischen und islamischen Anfängen über die russischen und sozialistischen Einflussnahmen bis zur heutigen privatwirtschaftlichen Orientierung reichen. Wie in Sedimenten abgelagert, finden sich die historischen Muster in den Strukturen der Stadtentwicklung. In einem gemeinsamen, von der VW-Stiftung geförderten, Projekt haben Wissenschaftler des Städtebau-Instituts der Universität Stuttgart, des Lehrstuhls für Städtebau und Entwerfen der Universität Cottbus und der Akademie der Künste in Taschkent die Transformationen der Stadt erforscht und nach-gezeichnet. Wie wurde die traditionelle Stadtkultur des islamischen Orients bei dem Aufeinandertreffen mit den westlich geprägten Vorstellungen von einer modernen Stadt verändert? Ist diese Kultur verschwunden oder überdauerte ihre Eigenständigkeit und Substanz die zahlreichen Änderungen der geschichtlichen Vorzeichen?

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Die orientalisch islamische Altstadt

Das antike Reich Sogdien mit den Siedlungen Taschkent, Samarkant und Buchara galt schon bei griechischen und römischen Autoren als „das Land der Tausend Städte“. Buddhismus, Christentum und Manichäismus gelangten von hier nach Osten, und sogdische Kaufleute kontrollierten für viele Jahrhunderte die „Seidenstraße“ und damit den Handel zwischen China, dem Vorderen Orient und Europa. Hier entwickelte sich eine vielfältige ethnisch und religiös gemischte sowie ökonomisch und intellektuell geschichtete Gesellschaft, die früh eine städtische Kultur hervorbrachte.

 Taschkent zählte neben Buchara zu Beginn des 19. Jahrhundert mit 40.000 Einwohnern zu den größten Städten der Region. Bei der russischen Eroberung, 1866, waren es bereits 100.000 Einwohner. Bis dahin war die Stadt von einer Mauer umgeben, die 1400 Hektar Fläche Schutz bot. Innerhalb der Stadtmauer befand sich die verhältnismäßig dicht bebaute Kernstadt sowie landwirtschaftliche Flächen.

Als grüne Oase in der Steppe lockt die größte Stadt Zentralasiens. Hier der Eingang zu einem Restaurant im heutigen Taschkent.
(Alle Abbildungen: Städtebau-Institut)
Die russischen Einflüsse
Taschkent wurde nach 1866 mit dem Übergang in das russische Reich zu einer russischen Kolonialstadt umgebaut. Im Osten und Südosten wurde die einstige Burganlage (Urda) und die Stadtmauer abgerissen und mit zunächst militärisch veranlassten Neubauten der Keim für ein koloniales Doppelstadtgefüge gelegt. Nicht die Zerstörung der alten Stadt und ihrer kulturellen Eigenart war das Ziel, sondern die Übernahme der hoheitlichen und administrativen Verantwortung durch die russischen Kolonialherren.

 Die neue russische Stadtanlage in Osten von Taschkent, mit ihren bis zu 25 Meter breiten Stadtboulevards, mit Gräben zur Wasserversorgung und Baumstreifen, entsprach völlig europäischen Städtebaukonzeptionen, die hier erstmals in Zentralasien verwirklicht wurden. Nach den Plänen des Militäringenieurs Makaroff folgte nach 1870 eine zweite Erweiterungsphase, die sternförmig auf die Mitte der Anlage bezogene Radialen festlegte. Diese einprägsame Halbkreisform, die bis heute den Stadtplan von Taschkent dominiert, zeigt den Willen zur Zentralisierung und vermittelt in seiner immensen Ausdehnung einen Eindruck vom Selbstbewusstsein der russischen Kolonialmacht. Ein Nebeneinander von alter islamischer Stadt und neuer Stadt findet man auch in europäischen Kolonialstädten, wie der Ville Nouvelle der Franzosen in Nordafrika oder in Marrakech, Fez und Algier.

 

Taschkent 1890: Nach der russischen Eroberung wurde im Osten eine neue radial angelegte Stadtanlage mit bis zu 25 Meter breiten Boulevards angebaut, die den europäischen Städtebau-konzeptionen entsprach. Links ist das gewachsene Straßenmuster der Altstadt zu sehen.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erzeugten Industrialisierung und Landflucht einen immensen Bevölkerungsdruck. Die Einwohnerzahl Taschkents explodierte von 104.000 im Jahre 1877, davon 4.000 Russen, auf 234.000 im Jahre 1911. Die russischen Stadtanlagen wurden umgebaut, verdichtet und modernisiert.

 Die wuchernde Urbanisierung folgte keinem Grundriss mehr, sondern „ungeplante“ Siedlungen entstanden auch außerhalb der Baugebiete. Um das ungehemmte Wachstum zu kontrollieren, wurde als Gegenmodell die eigentlich aus England stammende Idee der Gartenstadt adaptiert. Erste aufgelockerte Siedlungsformen mit genossenschaftlich organisierten Besitzverhältnissen und Arbeitsformen wurden in Russland seit 1912 proklamiert.


 

Nach der Revolution prägten breite Boulevards mit Wohnhäusern im typischen neoklassizistischen Stil der Stalinära die neue Stadt.
Nach Plan: die sowjetischen Stadtmodelle

Mit der Machtübernahme der Sowjets in Russland wurden nach 1917 allseits Pläne für eine neue sozialistische Gesellschaft, einen „neuen Menschen“ mit neuen Lebens- und Wohnformen aufgestellt. Nach 1930 wurden auch für Taschkent Stadtplanungen entwickelt, um die sowjetische Dominanz zu stärken. Gleich der erste - von einem Moskauer Architekten aufgestellte - Plan forderte die vollständige Aufhebung der historischen Stadt zu Gunsten einer radialkonzentrischen Stadtstruktur. Nur allmählich stellte man sich dem konkreten Problem einer Verschmelzung der alten und der neuen Stadt. Doch erst der Bau der Strasse Navoi nach 1943 verknüpfte die halbkreisförmige russische Stadt mit dem Bereich des Bazars im Zentrum der Altstadt und hob damit den bipolaren Charakter von Taschkent erstmalig auf.

 Weitere breite Boulevards mit Wohnhäusern im typischen neoklassizistischen Stil der Stalinära folgten. Rechtwinklige Baublöcke und auf zentrale Plätze bezogene Straßen, die Entwicklung eines umfassenden Grünsystems mit drei großen Parkanlagen entlang der Flüsse sowie die Schaffung öffentlicher Plätze bestimmten die Umgestaltung der Stadt in den nächsten Jahrzehnten. Es wurde versucht, die gewachsene historische Stadt durch eine rational geplante, europäische Stadtstruktur zu ersetzen.

 

Der Bevölkerungsdruck wächst

Die Folgen des Zweiten Weltkriegs lösten einen weiteren Schub in der Stadtentwicklung Taschkents aus. Industrielle Anlagen aus dem Westen der Sowjetunion und wissenschaftliche Einrichtungen wurden nach Usbekistan verlagert. 1959 erreichte die Bevölkerung mit 912.000 fast die Millionengrenze und die „funktionale Stadt“ wurde zum einheitlichen sowjetischen Städtebaumodell erhoben. Entlang großer Magistralen, mit denen die Industriekomplexe verbunden sind, liegen die Wohnquartiere mit einer Vielzahl öffentlicher Einrichtungen, die neue soziale, administrative und kulturelle Aufgaben erfüllen sollen.

 In architektonischer Gestaltung, Grundrissorganisation und städtebaulicher Struktur wurde jetzt kein Bezug auf lokale oder nationale Traditionen mehr genommen. Die ersten Siedlungen in Taschkent kopierten die neuen Wohnquartiere in Moskau. Steigende Ressourcenknappheit und Industrialisierung des Bauens führten zusammen mit der Intensivierung der Bodennutzung zur Konzentration der Bautätigkeit in den Zentren und vor allem zum Bau höherer Gebäude. Diese Tendenz bestimmte besonders den russisch dominierten östlichen Teil der Stadt; die alte Stadt konnte sich diesem „Fortschritt“ weitgehend noch entziehen.

 

Nach dem Erdbeben von 1966 konnten Reißbrettplanungen großflächig umgesetzt werden. Das Luftbild zeigt die heute bereits baufällige Plattenbausiedlung Sebzor, die wie ein Computerchip in die Altstadt gestanzt wurde.
Erdbeben schafft neue Voraussetzungen

Erst das Erdbeben vom 26. April 1966 führte in der Folge zum vollständigen Umbau Taschkents zu einer modernen Großstadt sowjetischer Prägung. Die Erdbebenschäden zogen sich über eine Fläche von zehn Quadratkilometern hin; 300.000 Menschen wurden obdachlos. Doch die Not zum Wiederaufbau bot den Planern auch die einmalige Gelegenheit, das Gesicht der Altstadt vollständig zu verändern. Realisiert werden konnte nun der alte Plan aus den 30er Jahren für eine einheitliche, zusammen-hängende Struktur der beiden Stadtteile.

 Der alte Basar und der zentrale Platz der Neustadt wurden durch drei Achsen miteinander verbunden. Ziel des Wiederaufbaus waren mehrere hierarchisch wirkende Zentren mit schnellen und kreuzungsfreien Straßen. Die ganze Stadt wurde über ein System von zehn Plätzen, dem goldenen Ring, miteinander in Beziehung gesetzt. 1977 wurde die Metro eröffnet und seit dem verfügt Taschkent als erste Stadt Zentralasiens über eine U-Bahn. Taschkent sollte zu einer zentralasiatischen Metropole ausgebaut werden, in der die Ideen einer modernen sozialistische Gesellschaft verwirklicht sind.

 

Wiederaufbau oder „Eroberung“

Die weitere „Eroberung“ der alten Stadt in den letzten 30 Jahren erfolgte von Osten nach Westen. Heute sind nur noch Rudimente der historischen Altstadt erhalten. Nach einem so genannten „Wiederaufbauplan“ von 1975, der eigentlich in keiner Beziehung zu den Folgen des Erdbebens mehr stand, wurden in der historischen Altstadt neungeschossige Wohnhochhäuser hochgezogen. Vor allem die ärmeren Bewohner der Altstadt mussten als Ersatz für ihr Altstadthaus nun eine Wohnung in den Apartmentblöcken beziehen. Nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion werden seit Mitte der neunziger Jahre diese Wohnkomplexe in der Folge der vollkommenen Privatisierung umgebaut und die ehemals öffentlichen Freiflächen werden in privates Bauland umgewandelt. Im Erdgeschoss der umgebauten Wohnblöcke siedeln sich kleine Läden und private Dienstleistungen an.


 

Ein moderner Hofhaustyp, der traditionelle Muster aufgriff, entwickelte sich nach dem Fall der Sowjetunion. Das Bild zeigt das Hofhaus eines reichen Städters; die meisten können sich jedoch nur eingeschossige Häuser leisten.
Ein neuer alter Haustypus

Reichere Bewohner konnten in den Westen der Stadt umsiedeln, um hier in einer Art Selbstbauweise ein neues Haus zu errichten. Dabei bildete sich ein neuer Haustypus heraus, der das traditionelle Hofhaus mit den Ideen der russischen Gartenstadt verschmolz. Diese individuelle und großzügige Bauweise führte jedoch zu einem immensen flächenfressenden Siedlungswachstum auf den ehemaligen Agrarflächen rund um die Stadt.

 Der neue Typus des Hofhauses weist traditionelle Muster wie eine Durchfahrt und einen Innenhof mit Loggia auf. Der Vorteil des Hofhauses besteht in seiner Flexibilität je nach den sozialen und ökonomischen Bedingungen der Familie und erlaubt zudem eine landwirtschaftliche Nutzung. Wer reicher ist, erweitert den Komplex zu villenartigen Wohngebäuden. Dieser Haustyp bestimmt allmählich auch die Reste der historischen Altstadt. Eingeschossige Gebäude aus der Zeit der russischen Kolonialisierung werden durch große Stadtvillen ersetzt, die immer von einer hohen Mauer umgeben sind.

 Da der Bevölkerungsdruck in den letzten Jahren spürbar abnimmt, wenden sich die Stadtplaner heute den Stadtumlandbeziehungen zu und versuchen, Maßnahmen gegen den Flächenverbrauch durchzusetzen. Nur 60 Prozent der notwendigen neuen Wohnungen dürfen noch auf freien Flächen entstehen, der Rest muss auf wieder genutzten Flächen realisiert werden.

 

Der Umriss der heutigen Altstadt mit der aktuellen Bebauung. In den hellen Flächen im Norden dominiert das traditionelle Hofhaus. Die dunklen Bereiche markieren die Erweiterungen der 60er Jahre und die mittelgrauen Zonen vor allem im Süden zeigen das Hofhaus neuen Typs.
Grüne Oase in der Steppe

 Taschkents Zentrum ist heute geprägt von offenen und weiten grünen Räumen, die von großzügigen Verkehrsachsen durchzogen sind. Die großen städtebaulichen Ambitionen der Sowjetzeit treten in den Hintergrund; viele der neuen Wohngebiete orientieren sich wieder am Grundmuster der orientalischen Stadt, das sich aus privaten, nach außen geschlossenen Parzellen zusammensetzte. Keine determinierenden Planungen, sondern informelle Selbst-bildungsprozesse scheinen zum Credo für die zukünftige Entwicklung zu werden.

 Die Ergebnisse der Forschergruppe werfen für Annette Gangler vom Stuttgarter Städtebau-Institut die Frage auf, ob nicht Stadtstrukturen mit einer größeren Flexibilität und Umbaufähigkeit auch eine stärkere Permanenz und Widerstandskraft gegenüber koloniali-sierenden Eingriffen besitzen. Die traditionelle Stadt mit ihren kleinräumigen Gliederungen und individuellen Einheiten hat, davon sind die Wissenschaftler überzeugt, zumindest in dieser Hinsicht einen Vorteil gegenüber den einheitlichen Projektentwürfen für Großsiedlungen und könnte aus diesem Grund vielleicht zu einem neuen städtebaulichen Leitbild werden.
 

Gangler/eng

 

 

KONTAKT

Dr. Anette Gangler
Arbeitsgruppe „Städte in Usbekistan“ Städtebau-Institut
Fachgebiet SIAAL-Städtebau in Asien, Afrika, Lateinamerika
(Prof. Dr. Erich Ribbeck)
Tel. 0711-121-3373
e-mail: anette.gangler@si.uni-stuttgart.de

 


last change: 22.12.04 / yj
Pressestelle der Universität Stuttgart

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