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Stuttgarter unikurier Nr. 93 April 2004
Die letzten 25 Jahre:
Reformen haben ihren Preis

Als die Universität 1979 ihr hundertfünfzigjähriges Jubiläum feierte, hatte sie die ersten Reformen hinter sich. Beim nächsten Jubiläum, jetzt, 2004, stehen neue bevor. Die einschneidendste Reform brachte die am 29. März 1969 beschlossene Grundordnung. Fritz Leonhardt, der als Rektor die Versammlung geleitet hatte, war auf sie stolz, und die anderen Anhänger der Reformen waren es nicht minder. Was sich niemand damals klarmachte, wurde jedoch bald deutlich: Eine Reform mag Missstände beseitigen, sie hat jedoch meist auch Folgen, an die diejenigen, die "guten Willens" waren, nicht dachten. - Auf diese Folgen wurde im Lauf der letzten 25 Jahre erneut reagiert. Davon wird zu berichten sein.
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Die Wirkung von Gremien auf die Arbeiten der Bewerber: Die Reform 1969 ermöglichte, sich selbst um eine frei gewordene Professur, die nun ausgeschrieben werden musste, zu bewerben. (Zuvor hatten die Ordinarien bei angesehenen Kollegen gefragt, wer wohl für diese Disziplin in Frage käme und dann untereinander die so Genannten diskutiert.) Die Habilitierten und ihnen Gleichgestellten erhielten so "Rechte". Dazu Leonhardt in einem Brief an die Ordinarien: "Durch Übertragung von Rechten" werden junge Menschen "innerlich wachsen, Selbstvertrauen gewinnen und reifen". Dies liegt "alles im Interesse der Universität und Gesellschaft". - Und die Folgen?

Sie waren in den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich. Die ältere Auswahl durch Professoren hatte Abhängigkeiten gebracht, jedoch auch die Blicke junger Wissenschaftler auf einen möglichst ungewöhnlichen "Lehrer" gelenkt. Von dieser personenorientierten Vorgehensweise blieb nach dem neuen Gesetz bei den Ingenieuren noch etwas erhalten: Wer sich um ein Ordinariat bewarb, achtete auf die Werke des scheidenden Professors, etwa Frei Ottos, und wies seine Studenten auf diese hin - wie Werner Sobek in einem Wettbewerb "Dach für Troja" (Stuttgarter unikurier 92 2/2003). - Anders stand es bei den Geisteswissenschaftlern. Für diese brachte der Übergang von Personen, die einen förderten, zu Gremien, bei denen man sich bewarb, einen tief greifenden Wandel. Denn die Gremien mussten nach Mehrheiten entscheiden. Mehrheiten sind in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, deren Vertreter den unterschiedlichsten Methoden folgen, am leichtesten zu gewinnen, wenn sich die Bewerber in ihren Arbeiten - bedacht, allen gerecht zu werden - um harmonisierende Deutungen bemühen. - Gremien nehmen auch Rücksicht auf die öffentliche politische Meinung. Da verzichtete mancher darauf, die in der DDR entwickelten Dialogmodelle zu berücksichtigen. Dies war eine unerwartete Folge der Reform. - Und doch: Gerade Stuttgarter Studenten zeigten, dass sie sich von den Mehrheiten trennen konnten und nicht mehr in den herrschenden nationalen Kategorien dachten. - Sie lernten für die Geschichte Schlesiens "polnisch" und: "Viele Polen entdeckten die deutsche Geschichte Schlesiens neu" (Norbert Conrads, unikurier 92, 2/2003).

Der Verzicht auf zusätzliche Ausbildung und auf Lehrer im Wettkampf der Bewerbungen: Vor wenigen Jahren noch folgten, personenorientiert, junge Wissenschaftler der Tendenz, sich nach der Promotion - mit dem Doktorhut - einen Professor zu suchen, der ihnen eine weitere Methode des Faches beibrachte. Ein Biologe, der auch als Biophysiker arbeiten wollte, ging - bei ungewisser Zukunft - ins Ausland, etwa zu Max Delbrück nach Pasadena. Ein Mediziner schlug eine angebotene Position aus, um unbezahlt bei einem Psychosomatiker zu lernen, - ein Historiker verzichtete auf eine beamtete Assistentenstelle, um sich in einem ihm unbekannten Land von einem fremden Professor das Edieren einer lateinischen Chronik des 13. Jahrhunderts beibringen zu lassen. - Die Professoren ihrerseits bereiteten sich auf solche - zusätzliche - Aufgaben vor, um jungen Mitarbeitern zum Beispiel zu zeigen, wie "naturwissenschaftliche" Texte des Mittelalters zu interpretieren oder wie das "Bewegungsverhalten" früherer Gesellschaften beim Kampf, in der Gymnastik und im Tanz zu rekonstruieren ist. (Auch so kam es zu - sechs - Habilitationen in Stuttgart.) - Die nach der Reform möglichen Selbstbewerbungen schufen eine Wettkampfsituation: Wie kann ich vor Konkurrenten schnell eine Arbeit schreiben, um mich bei vielen Fakultäten zu bewerben? Anders formuliert: Es werden fremde "Lehrer" kaum noch aufgesucht, bei denen ein Promovierter neue Methoden lernen könnte. - Und doch: Ein "Eliteförderprogramm für Postdocs" reagierte inzwischen darauf. Und dies führte auch wieder zu Bindungen an Lehrer, etwa bei dem Projekt eines Photonenzählers an "Professor Atac Imamoglu, der längere Zeit am Physikalischen Institut der Universität Stuttgart gearbeitet hat" (unikurier 92, 2/2003).

Die verloren gegangenen Alternativen: Die Grundordnung löste die drei Fakultäten in 18 Fachbereiche auf. Diese wurden durch die Gesetze später reduziert, aber die "drei", in denen Maschinenbauer und Elektrotechniker, Bauingenieure und Architekten sowie Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler saßen, entstanden nicht mehr. Auch diese Reform wurde begrüßt: Konnten doch jetzt Mathematiker nur mit Mathematikern und Chemiker nur mit Chemikern alle zu behandelnden Fachfragen besprechen. - Und die Folgen?

Am weitreichendsten waren sie in der Fakultät für Natur- und Geisteswissenschaften. Gewiss, in der alten Fakultät konnte ein Historiker als Dekan bei dem Habilitationsvortrag eines Physikers meist bereits den zweiten Satz nicht mehr verstehen. Hörte er jedoch den folgenden Diskussionen zu - und dies über ein paar Jahre -, lernte er die Sprache der Naturwissenschaftler so weit, dass er deren Erklärungsmodelle begriff und sah: Wenn der Physiker Hermann Haken entstehende und sich auflösende Ordnungen analysierte, nutzte er Modelle, die sich auf Gesellschaften übertragen ließen und nach denen der Wandel dieser Gesellschaften anders als bisher zu deuten war. - Im Gespräch erkannten alle: Auch ein Lehrender muss sich noch in fremde Methoden einüben, sonst bleibt er nicht einmal auf seinem bisherigen Stand: Er verliert an Differenziertheit. (Ich vermisste die Diskussionen in der "alten Fakultät" bald sehr.) - Und doch: Bei allen Verworrenheiten der Reformen - dieser Fehler wurde da und dort beseitigt. Wenn sich jetzt Elektrotechnik und Informatik in Fakultät 5 verbinden, finden sich erneut "zwei unterschiedliche Fachstrukturen zusammen, die Natur- und Ingenieurwissenschaften" (Paul J. Kühn, unikurier 92, 2/2003). Welche Chance!

Die im Reformeifer vergessenen Studenten: Für Reformen zu sein, wirkt jugendlich. Und eine gewisse Jugendlichkeit ist jedem Wissenschaftler zu wünschen. Hat dieses Verhalten etwa auch bedenkliche Folgen? - Viele der begeisterten Reformer sind heute so auf die kommenden Ereignisse konzentriert, dass sie die früheren Reformbeschlüsse ihrer Universität vergessen. Ein Beispiel: Fritz Leonhardt beobachtete auf den Baustellen der verschiedenen Kontinente, wie unbeholfen seine ehemaligen Studenten mit ihren dortigen Mitarbeitern umgingen. So brachte er eine Reform in Gang, die die Studenten der Ingenieurwissenschaften durch ein "begleitendes Studium" und durch ein "Aufbaustudium" in die Länder einführen sollte, in denen sie später einmal tätig sein würden, und damit auch in das Arbeitsverhalten der Japaner, Chinesen, Araber, der Afrikaner und der Indios. Deswegen - und nicht wegen einer Lehrerausbildung - wollte er Anglisten und Romanisten und Dozenten anderer Sprachen an die Technische Hochschule Stuttgart holen. Für dies geplante Aufbaustudium genehmigte der Große Senat einen Studienplan, schuf er - zum Studium des fremden Verhaltens und der Staaten in Übersee - eigene "Abteilungen". Auf diesen wurden neue Methoden ausgearbeitet, publiziert und in Ländern Ostasiens erprobt. - Doch bald verschoben neue Reformpläne das Interesse: Das Aufbaustudium wurde vergessen, und die "Abteilungen" blieben unbesetzt oder wurden - jüngst - gestrichen. Dies führt auf eine interessante Frage, die sich auch an die heutigen Reformer richtet: Für wen reformieren wir eigentlich die Universität? Für die Wissenschaft? Für die Volkswirtschaft? Für die globale Verflechtung mit ausländischen Studenten? Für die Schulbehörden, dass sie mehr Lehrer, die sie dann oft gar nicht einstellen, erhalten? Gegen keines dieser Ziele ist etwas einzuwenden. Doch frage ich mich manchmal: Wollten wir nicht ursprünglich - zumindest: auch - für unsere Studenten reformieren? Ihnen gelten doch die verbesserten Studienpläne. Und wollten wir sie nicht auch auf die Umgebung vorbereiten, in die sie in ihrem Beruf geraten werden? Dafür sollten sie lernen, mit Menschen umzugehen. Und zu diesen gehören in unseren Tagen auch die Männer und Frauen außerhalb Europas, denen unsere ehemaligen Studenten später bei ihrer Arbeit begegnen werden: nicht nur auf den Baustellen des Flughafens in Bangkok, nicht nur im Werk von VW-Shanghai, sondern auch - bereits auf den Schulen - als Lehrer in der Bundesrepublik. Bereiten wir die Studenten darauf vor?

Leonhardts Reformversuche - sind diese vergessen? Inzwischen hat an der Universität bereits wieder ein Wandel eingesetzt: "Das Gebiet der postcolonial studies hat der Anglistik völlig neue Horizonte eröffnet" (Walter Göbel, unikurier 92, 2/ 2003). Dieses veränderte Forschungsinteresse an nicht von Europäern geschriebener Literatur ermöglicht unserer Universität, Leonhardts Anliegen wieder - mit den gegebenen Stellen - aufzunehmen. Es müssten sich nur wie die Anglisten auch die Romanisten und Zeithistoriker, Soziologen und Wirtschaftswissenschaftler in neue Gebiete einarbeiten - in die Literatur der frankophonen Völker in Afrika und Asien, - in die Geschichte und Wirtschaft Chinas oder Indiens - und dies für die Studenten der Ingenieurwissenschaften. Die Beschlüsse des einstigen Großen Senats wären wieder zu bestätigen, noch vorhandene Abteilungen zu besetzen und gelegentlich neu auszurichten: für die wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle wären in Zukunft Wissenschaftler zu gewinnen, die mit chinesischer, japanischer oder arabischer Wirtschaft vertraut sind und, wenigstens, eine der dort selbstverständlichen - nichtindogermanischen - Sprachen beherrschen. - Könnte dies die Universität - den Studenten zuliebe - nicht tun?

25 Jahre: Was die Reformen brachten, wurde erst allmählich erkannt, dann, wegen einiger Folgen, modifiziert. Warum sollten wir das Erreichte nicht noch verbessern, gerade jetzt, wo sich eine Chance bietet?
August Nitschke, Historisches Institut

 

 


last change: 12.05.04 / hj
Pressestelle der Universität Stuttgart

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