Die Wirkung von Gremien auf die Arbeiten
der Bewerber: Die Reform 1969 ermöglichte, sich selbst um
eine frei gewordene Professur, die nun ausgeschrieben werden
musste, zu bewerben. (Zuvor hatten die Ordinarien bei
angesehenen Kollegen gefragt, wer wohl für diese Disziplin
in Frage käme und dann untereinander die so Genannten
diskutiert.) Die Habilitierten und ihnen Gleichgestellten
erhielten so "Rechte". Dazu Leonhardt in einem Brief an die
Ordinarien: "Durch Übertragung von Rechten" werden junge
Menschen "innerlich wachsen, Selbstvertrauen gewinnen und
reifen". Dies liegt "alles im Interesse der Universität und
Gesellschaft". - Und die Folgen?Sie waren in den
verschiedenen Disziplinen unterschiedlich. Die ältere
Auswahl durch Professoren hatte Abhängigkeiten gebracht,
jedoch auch die Blicke junger Wissenschaftler auf einen
möglichst ungewöhnlichen "Lehrer" gelenkt. Von dieser
personenorientierten Vorgehensweise blieb nach dem neuen
Gesetz bei den Ingenieuren noch etwas erhalten: Wer sich um
ein Ordinariat bewarb, achtete auf die Werke des scheidenden
Professors, etwa Frei Ottos, und wies seine Studenten auf
diese hin - wie Werner Sobek in einem Wettbewerb "Dach für
Troja" (Stuttgarter unikurier 92 2/2003). - Anders stand es
bei den Geisteswissenschaftlern. Für diese brachte der
Übergang von Personen, die einen förderten, zu Gremien, bei
denen man sich bewarb, einen tief greifenden Wandel. Denn
die Gremien mussten nach Mehrheiten entscheiden. Mehrheiten
sind in geisteswissenschaftlichen Disziplinen, deren
Vertreter den unterschiedlichsten Methoden folgen, am
leichtesten zu gewinnen, wenn sich die Bewerber in ihren
Arbeiten - bedacht, allen gerecht zu werden - um
harmonisierende Deutungen bemühen. - Gremien nehmen auch
Rücksicht auf die öffentliche politische Meinung. Da
verzichtete mancher darauf, die in der DDR entwickelten
Dialogmodelle zu berücksichtigen. Dies war eine unerwartete
Folge der Reform. - Und doch: Gerade Stuttgarter Studenten
zeigten, dass sie sich von den Mehrheiten trennen konnten
und nicht mehr in den herrschenden nationalen Kategorien
dachten. - Sie lernten für die Geschichte Schlesiens
"polnisch" und: "Viele Polen entdeckten die deutsche
Geschichte Schlesiens neu" (Norbert Conrads, unikurier 92,
2/2003).
Der Verzicht auf zusätzliche Ausbildung und auf Lehrer im
Wettkampf der Bewerbungen: Vor wenigen Jahren noch folgten,
personenorientiert, junge Wissenschaftler der Tendenz, sich nach der Promotion - mit dem Doktorhut
- einen Professor zu suchen, der ihnen eine weitere Methode
des Faches beibrachte. Ein Biologe, der auch als Biophysiker
arbeiten wollte, ging - bei ungewisser Zukunft - ins
Ausland, etwa zu Max Delbrück nach Pasadena. Ein Mediziner
schlug eine angebotene Position aus, um unbezahlt bei einem
Psychosomatiker zu lernen, - ein Historiker verzichtete auf
eine beamtete Assistentenstelle, um sich in einem ihm
unbekannten Land von einem fremden Professor das Edieren
einer lateinischen Chronik des 13. Jahrhunderts beibringen
zu lassen. - Die Professoren ihrerseits bereiteten sich auf
solche - zusätzliche - Aufgaben vor, um jungen Mitarbeitern
zum Beispiel zu zeigen, wie "naturwissenschaftliche" Texte
des Mittelalters zu interpretieren oder wie das
"Bewegungsverhalten" früherer Gesellschaften beim Kampf, in
der Gymnastik und im Tanz zu rekonstruieren ist. (Auch so
kam es zu - sechs - Habilitationen in Stuttgart.) - Die nach
der Reform möglichen Selbstbewerbungen schufen eine
Wettkampfsituation: Wie kann ich vor Konkurrenten schnell
eine Arbeit schreiben, um mich bei vielen Fakultäten zu
bewerben? Anders formuliert: Es werden fremde "Lehrer" kaum
noch aufgesucht, bei denen ein Promovierter neue Methoden
lernen könnte. - Und doch: Ein "Eliteförderprogramm für
Postdocs" reagierte inzwischen darauf. Und dies führte auch
wieder zu Bindungen an Lehrer, etwa bei dem Projekt eines
Photonenzählers an "Professor Atac Imamoglu, der längere
Zeit am Physikalischen Institut der Universität Stuttgart
gearbeitet hat" (unikurier 92, 2/2003).
Die verloren gegangenen Alternativen: Die Grundordnung
löste die drei Fakultäten in 18 Fachbereiche auf. Diese
wurden durch die Gesetze später reduziert, aber die "drei",
in denen Maschinenbauer und Elektrotechniker, Bauingenieure
und Architekten sowie Naturwissenschaftler und
Geisteswissenschaftler saßen, entstanden nicht mehr. Auch
diese Reform wurde begrüßt: Konnten doch jetzt Mathematiker
nur mit Mathematikern und Chemiker nur mit Chemikern alle zu
behandelnden Fachfragen besprechen. - Und die Folgen?
Am weitreichendsten waren sie in der Fakultät für Natur-
und Geisteswissenschaften. Gewiss, in der alten Fakultät
konnte ein Historiker als Dekan bei dem Habilitationsvortrag
eines Physikers meist bereits den zweiten Satz nicht mehr
verstehen. Hörte er jedoch den folgenden Diskussionen zu -
und dies über ein paar Jahre -, lernte er die Sprache der
Naturwissenschaftler so weit, dass er deren
Erklärungsmodelle begriff und sah: Wenn der Physiker Hermann
Haken entstehende und sich auflösende Ordnungen analysierte,
nutzte er Modelle, die sich auf Gesellschaften übertragen
ließen und nach denen der Wandel dieser Gesellschaften
anders als bisher zu deuten war. - Im Gespräch erkannten
alle: Auch ein Lehrender muss sich noch in fremde Methoden
einüben, sonst bleibt er nicht einmal auf seinem bisherigen
Stand: Er verliert an Differenziertheit. (Ich vermisste die
Diskussionen in der "alten Fakultät" bald sehr.) - Und doch:
Bei allen Verworrenheiten der Reformen - dieser Fehler wurde
da und dort beseitigt. Wenn sich jetzt Elektrotechnik und
Informatik in Fakultät 5 verbinden, finden sich erneut "zwei
unterschiedliche Fachstrukturen zusammen, die Natur- und
Ingenieurwissenschaften" (Paul J. Kühn, unikurier 92,
2/2003). Welche Chance!
Die im Reformeifer vergessenen Studenten: Für Reformen zu
sein, wirkt jugendlich. Und eine gewisse Jugendlichkeit ist
jedem Wissenschaftler zu wünschen. Hat dieses Verhalten etwa
auch bedenkliche Folgen? - Viele der begeisterten Reformer
sind heute so auf die kommenden Ereignisse konzentriert,
dass sie die früheren Reformbeschlüsse ihrer Universität
vergessen. Ein Beispiel: Fritz Leonhardt beobachtete auf den
Baustellen der verschiedenen Kontinente, wie unbeholfen
seine ehemaligen Studenten mit ihren dortigen Mitarbeitern
umgingen. So brachte er eine Reform in Gang, die die
Studenten der Ingenieurwissenschaften durch ein
"begleitendes Studium" und durch ein "Aufbaustudium" in die
Länder einführen sollte, in denen sie später einmal tätig
sein würden, und damit auch in das Arbeitsverhalten der
Japaner, Chinesen, Araber, der Afrikaner und der Indios.
Deswegen - und nicht wegen einer Lehrerausbildung - wollte
er Anglisten und Romanisten und Dozenten anderer Sprachen an
die Technische Hochschule Stuttgart holen. Für dies geplante
Aufbaustudium genehmigte der Große Senat einen Studienplan,
schuf er - zum Studium des fremden Verhaltens und der
Staaten in Übersee - eigene "Abteilungen". Auf diesen wurden
neue Methoden ausgearbeitet, publiziert und in Ländern
Ostasiens erprobt. - Doch bald verschoben neue Reformpläne
das Interesse: Das Aufbaustudium wurde vergessen, und die
"Abteilungen" blieben unbesetzt oder wurden - jüngst -
gestrichen. Dies führt auf eine interessante Frage, die sich
auch an die heutigen Reformer richtet: Für wen reformieren
wir eigentlich die Universität? Für die Wissenschaft? Für
die Volkswirtschaft? Für die globale Verflechtung mit
ausländischen Studenten? Für die Schulbehörden, dass sie
mehr Lehrer, die sie dann oft gar nicht einstellen,
erhalten? Gegen keines dieser Ziele ist etwas einzuwenden.
Doch frage ich mich manchmal: Wollten wir nicht ursprünglich
- zumindest: auch - für unsere Studenten reformieren? Ihnen
gelten doch die verbesserten Studienpläne. Und wollten wir
sie nicht auch auf die Umgebung vorbereiten, in die sie in
ihrem Beruf geraten werden? Dafür sollten sie lernen, mit
Menschen umzugehen. Und zu diesen gehören in unseren Tagen
auch die Männer und Frauen außerhalb Europas, denen unsere
ehemaligen Studenten später bei ihrer Arbeit begegnen
werden: nicht nur auf den Baustellen des Flughafens in
Bangkok, nicht nur im Werk von VW-Shanghai, sondern auch -
bereits auf den Schulen - als Lehrer in der Bundesrepublik.
Bereiten wir die Studenten darauf vor?
Leonhardts Reformversuche - sind diese vergessen?
Inzwischen hat an der Universität bereits wieder ein Wandel
eingesetzt: "Das Gebiet der postcolonial studies hat der
Anglistik völlig neue Horizonte eröffnet" (Walter Göbel,
unikurier 92, 2/ 2003). Dieses veränderte
Forschungsinteresse an nicht von Europäern geschriebener
Literatur ermöglicht unserer Universität, Leonhardts
Anliegen wieder - mit den gegebenen Stellen - aufzunehmen.
Es müssten sich nur wie die Anglisten auch die Romanisten
und Zeithistoriker, Soziologen und
Wirtschaftswissenschaftler in neue Gebiete einarbeiten - in
die Literatur der frankophonen Völker in Afrika und Asien, -
in die Geschichte und Wirtschaft Chinas oder Indiens - und
dies für die Studenten der Ingenieurwissenschaften. Die
Beschlüsse des einstigen Großen Senats wären wieder zu
bestätigen, noch vorhandene Abteilungen zu besetzen und
gelegentlich neu auszurichten: für die
wirtschaftswissenschaftlichen Lehrstühle wären in Zukunft
Wissenschaftler zu gewinnen, die mit chinesischer,
japanischer oder arabischer Wirtschaft vertraut sind und,
wenigstens, eine der dort selbstverständlichen -
nichtindogermanischen - Sprachen beherrschen. - Könnte dies
die Universität - den Studenten zuliebe - nicht tun?
25 Jahre: Was die Reformen brachten, wurde erst
allmählich erkannt, dann, wegen einiger Folgen, modifiziert.
Warum sollten wir das Erreichte nicht noch verbessern, gerade jetzt, wo sich eine Chance bietet?
August
Nitschke, Historisches Institut