Die Anfänge waren klein. Im ersten Jahr begannen 57
Schüler in zwei Klassen mit ihren Studien. Man mag auch
darüber schmunzeln, dass noch wenige Jahre zuvor die
romantisch-konservativen Verfechter eines württembergischen
Agrarstaats die mit der Industrialisierung verbundene
Massenarmut und den aus dieser resultierenden "Aufruhr"
fürchteten und eine "Erziehung zur Industrie", wie sie
später als Schlagwort in aller Munde war, für unnötig
erachteten. Aber sie behielten letztlich Recht, waren es
doch auch Industriearbeiter, die fast 90 Jahre später die
Monarchen in Deutschland zur Abdankung zwangen.
Naturwissenschaft und Technik hatten inzwischen die Welt
verändert. Sie tun dies bis zum heutigen Tag. Grund genug,
einen Blick zurückzuwerfen auf die Geschichte der
Universität Stuttgart und ihre Bedeutung für die Entwicklung
von Technik und Gesellschaft.Noch waren es keine jungen Erwachsenen, sondern Schüler
im Alter von 13 und 14 Jahren, die eine Ausbildung in den
technischen Fächern Mechanik und Mathematik,
Naturwissenschaften, Architektur, Handel und in einigen
geisteswissenschaftlichen Fächern erlangten. Der Unterricht
sollte - was neu war - die wissenschaftlichen Grundlagen der
technischen Berufe vermitteln, ohne jedoch den Bezug zur
technischen Praxis und zu konkreten Aufgaben von Ingenieuren
und Fabrikanten aus dem Auge zu verlieren. Die Lehre in den
technischen Disziplinen hatte sich nicht an den alten
Universitäten etablieren können. Auf staatliche Initiative
wurden daher neue Institutionen hierfür ins Leben gerufen:
Nach der École Polytechnique in Paris, die, 1794 eröffnet,
weithin als Leitbild der Technischen Hochschulen galt,
gingen die Gründungen ähnlicher technischer
Bildungseinrichtungen in Prag (1806), Wien (1815), Berlin
(1821), Karlsruhe (1825), München (1827) und Dresden (1828)
der Stuttgarter Gewerbeschule voraus. Es folgten im
deutschsprachigen Raum Hannover (1831), Braunschweig (1835),
Darmstadt (1836) und erst spät, als sich die Gewerbeschulen
zu universitätsähnlichen technischen Hochschulen wandelten,
die nahe gelegene ETH Zürich (1855) und die deutschen
technischen Hochschulen in Aachen (1870), Danzig (1904) und
Breslau (1910). In England und den USA erfolgte die Gründungswelle technischer Hochschulen zur selben
Zeit, als sich die Gewerbeschulen in Deutschland zu
Hochschulen entwickelten (zum Beispiel 1861 das
Massachusetts Institute of Technology). Es mag überraschen,
ist aber für die frühe Phase fast aller technischer
Hochschulen nicht ungewöhnlich, dass die wenigsten
Absolventen in den neuen Industriezweigen tätig wurden. Erst
mit den Fächern Chemische Technologie und Maschinenbau
wurden Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen, die vornehmlich
für die Tätigkeitsfelder in den neuen Industrien
qualifizierten.
Ausbau zur Hochschule
In den 1860er Jahren begann eine Blütezeit mit einem
deutlichen Ausbau der Schule. Sie wurde 1876 als "technische
Hochschule" definiert und demonstrierte diesen Status auch
nach außen für jedermann sichtbar in der neuen Bezeichnung
"Polytechnikum". Zwischen 1862 und 1876 stieg die Zahl der
"Hauptlehrer", wie die Professoren damals noch genannt
wurden, von 11 auf 25. Im Jahr 1864 wurde das neue
Hochschulgebäude im selbstbewussten Stil der italienischen
Renaissance in der Alleenstraße (an der Stelle des heutigen
Kollegiengebäudes I) eingeweiht. Die Schule wurde 1862 wie
eine Universität dem Kultministerium unmittelbar unterstellt
und erhielt wie diese eine Selbstverwaltung mit bis heute
fortbestehenden Organen und Ämtern (Senat, Fakultäten,
Rektor, Dekane). Ab 1870 wurden die Diplomprüfungen
eingeführt, die vor allem in den Fächern, für die es keine
Staatsprüfungen gab wie Chemie oder Maschinenbau, nun den
Studierenden eine Abschlussprüfung ermöglichten. Schon seit
der Mitte der 1850er Jahre verdreifachte sich die Zahl der
Studenten von etwa 150 auf 477 im Wintersemester 1877/78.
Der Wandel zur Hochschule wird auch deutlich in der neuen,
internationalen Zusammensetzung der Studentenschaft: Schon
1879 kamen 24 Prozent der Studierenden aus dem Ausland. Seit
1876 waren alle Studenten Erwachsene. Das Studium dauerte
nun in der Regel drei bis dreieinhalb Jahre.
Im Zuge der Entwicklung neuer Forschungs- und Lehrgebiete
und der zunehmenden Spezialisierung innerhalb der
bestehenden Disziplinen entstanden neue Lehrstühle und
Institute, so für Kunstgeschichte 1865, Elektrotechnik 1883
oder Luftschiffahrt, Flugtechnik und Kraftfahrzeuge 1911,
die alle zu den ersten ihrer Disziplin in Deutschland
gehörten. Mit Carl Bach (1847 - 1931) wurde einer der
bedeutendsten Maschinenbauingenieure seiner Zeit an die
Hochschule berufen. Bachs ingenieurwissenschaftliche
Methodik verbindet Theorie und Versuch zur Lösung
technischer Aufgaben, wie sie nun in den
Ingenieurwissenschaften in Deutschland richtungsweisend
wurde.
Technische Hochschule
Einen auch in der Außenwirkung deutlichen Abschluss
erhielt die Entwicklung des Polytechnikums durch die
Verleihung des Namens "Technische Hochschule" im Jahr 1890.
Höhepunkt und vorläufiger Abschluss aller Bestrebungen der
so genannten "Technikerbewegung" zur gesellschaftlichen
Gleichstellung und Anerkennung der technischen
Wissenschaften als akademische Disziplinen und der
Ingenieure als Akademiker war jedoch die Verleihung des
Promotionsrechts an die TH Stuttgart im Jahr 1900. Die
ersten Frauen wurden im Wintersemester 1905/06 zum Studium
zugelassen, eine größere Zahl von Studentinnen verzeichnete
die Technische Hochschule Stuttgart aber erst nach dem
Ersten Weltkrieg.
Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 leerten
sich die Hörsäale schlagartig. Drei Viertel der Studenten
wurden zum Militärdienst eingezogen. Mehr als ein Fünftel
ihrer Studenten kam auf den Schlachtfeldern ums Leben.
Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg
Nach dem Ersten Weltkrieg strebten mehr als doppelt so
viele Studierende an die Hochschule wie in den besten
Semestern während des Kaiserreichs (969 Studenten im
Wintersemester 1903/04). Im Wintersemester 1921/22 wurde mit
2093 Studierenden zum ersten Mal die Zweitausendermarke
überschritten.
In den Zwanzigerjahren entstanden Institutionen, die bis
in die Gegenwart für die Universität von großer Bedeutung
sind und wichtige Funktionen wahrnehmen, so beispielsweise
das Studentenwerk (1921), der AStA und die Fachschaften
(1921) und die Vereinigung von Freunden (1923).
Nachdem schon 1932 nationalsozialistische Studenten den
Vorsitz im AStA übernommen hatten, wurden nach der
Machtübernahme der Nationalsozialisten im Reich und in den
Ländern die demokratischen Strukturen der Technischen
Hochschule zerschlagen und für alle Wahlämter das Führerprinzip eingeführt. Anfang 1933
trat der Physiker Paul Peter Ewald (1888 - 1985) von seinem
Amt als Rektor zurück, weil er von den Plänen der neuen
Machthaber erfahren hatte, die jüdischen Professorenkollegen
von den Hochschulen zu entfernen. Zahlreiche Professoren,
Assistenten und Dozenten wurden in den nächsten Jahren aus
rassistischen oder politischen Gründen entlassen. Zusammen
mit dem Ausschluss jüdischer oder politisch links
eingestellter Studierender begann auch in Stuttgart ein
unheilvoller Prozess, bei dem durch die Vertreibung und
Ermordung von Fachgelehrten auf vielen, gerade auch
technischen Gebieten die deutsche Wissenschaft ihre
Spitzenposition mit Nachwirkungen bis zum heutigen Tag
einbüßte. Ein Höhepunkt der Drangsalierungen bildete die
Initiative einer nationalsozialistischen Studentengruppe,
die noch, bevor die jüdischen Studierenden am 11. November
1938 grundsätzlich in Deutschland vom Studium ausgeschlossen
wurden, in einer pogromartigen Aktion ihre jüdischen
Kommilitonen von der Technischen Hochschule vertrieb.
Bereits zum Rüstungsprogramm der nationalsozialistischen
Reichsregierung gehörte der Ausbau des Kraftfahrzeug- und
Motorenwesens und der Luftfahrttechnik. Fast alle Institute
arbeiteten an rüstungstechnischen Projekten. Die Stuttgarter
Architekten und Bauingenieure hatten schon vor dem Zweiten
Weltkrieg maßgeblichen Anteil am Bau der Reichsautobahn in
Südwestdeutschland.
Ende Juli 1944 stand die Hochschule vor einer weiteren
Zäsur ihrer Geschichte: Das Hauptgebäude wurde bei
Bombenangriffen fast vollständig zerstört. Zahlreiche
Institute und die wenigen noch stattfindenden
Lehrveranstaltungen wurden aus Stuttgart auf verschiedene
Orte in der Umgebung verteilt. Mit Kriegsende kamen
schließlich Forschungsprojekte und Lehrbetrieb zum Erliegen.
Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart
Der Neubeginn von Forschung und Lehre nach dem Zweiten
Weltkrieg fiel schwer. Mehr als 75 Prozent der
Institutsgebäude waren zerstört, fast alle Lehrsammlungen,
Labore sowie 42 Prozent der Bibliotheksbestände vernichtet.
Trotzdem gelang es, am 12. Februar 1946 den Lehrbetrieb
wieder aufzunehmen. Im Sommersemester 1947 waren bereits
4.132 Studierende immatrikuliert.
Eine wirkliche Auseinandersetzung und ein deutlicher
personeller Bruch mit der nationalsozialistischen
Vergangenheit fand auch an der TH Stuttgart nicht statt. Ein
personeller und inhaltlicher Neubeginn vollzog sich am
deutlichsten in der Architekturabteilung,
wo man an die Traditionen des Neuen Bauens und die
aktuelle Moderne anknüpfte, sowie in der Physik und in den
Geisteswissenschaften, wo auch in der NS-Zeit entlassene
Professoren an die TH zurückkehrten.
Anfang der 1950er Jahre waren die materiellen
Schwierigkeiten überwunden. Durch großzügige Spenden des
Deutsch-Amerikaners Max Kade (1882 - 1967) konnten die
Neubauten eines Studentenwohnheims, einer Mensa und der
Bibliothek in Angriff genommen werden. Um den Stuttgarter
Stadtgarten und am Standort Azenberg- und Seestraße wurden
für verschiedene Institute weitere neue Gebäude errichtet,
darunter die Kollegiengebäude I und II, Manifestationen
einer erneuerten Stuttgarter Architekturlehre. Im
Pfaffenwald in Stuttgart-Vaihingen entstand seit 1957 ein
zweiter Campus; dort sind heute zwei Drittel aller Institute
angesiedelt. Hier wurden zahlreiche moderne Institutsbauten
errichtet, zuletzt das Zentrum für Bioverfahrenstechnik
(1993), die Elektrotechnischen Institute II (1998), das
Gastdozentenhaus (1998), die Fertigungstechnischen Institute
(2000) und das Informatikgebäude (2003).
Als in der Mitte der 1960er Jahre das Bildungswesen in
der Bundesrepublik Deutschland stark ausgebaut wurde,
erhielten nicht nur die ingenieurwissenschaftlichen
Disziplinen an der TH Stuttgart neue Institute und
Professuren. Auch die Geistes-, Natur-, Sozial- und
Wirtschaftswissenschaften sowie die Informatik (seit 1969)
erfuhren einen deutlichen Aufschwung. Erneut erhöhte sich
der Zustrom von Studierenden. Im Wintersemester 1973/74
wurde zum ersten Mal die Zahl von 10.000 Studierenden, im
Wintersemester 1988/89 die Zahl 20.000 erreicht. Im Jahr
1967 erhielt die Technische Hochschule ihren heutigen Namen
"Universität Stuttgart" und 1969 verabschiedete der Senat
die neue Grundordnung, durch die allen Gruppen von
Universitätsangehörigen (Studierende, wissenschaftlicher
Mittelbau, Mitarbeiter in Technik und Verwaltung und
Professoren) Mitsprache in den Entscheidungsgremien zukam.
Als langfristiges Ergebnis der Auseinandersetzungen kann
eine zunehmende Demokratisierung der Hochschule festgehalten
werden, durch die sie auch in internen Formen der
Entscheidungsfindung mit der gleichzeitigen
gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland Schritt hielt und für die nunmehr entstehende
"Massenuniversität" angemessene Organisationsformen
bereitstellte.
Im selben Zeitraum wandelten sich Form und Organisation
der Wissenschaft hin zu größeren Forschungsgruppen,
Spezialisierung und Verstärkung der internationalen und
interdisziplinären Zusammenarbeit. Die zunehmende
Interdisziplinarität dokumentiert sich nicht nur durch die
Einrichtung zahlreicher Sonderforschungsbereiche, sondern
wurde auch durch die Entstehung des Wissenschaftsstandortes
in Stuttgart-Vaihingen ebenfalls seit den 1960er Jahren
begünstigt, wo sich Institute der Max-Planck-Gesellschaft,
der Fraunhofer-Gesellschaft und des Deutschen Zentrums für
Luft- und Raumfahrt in enger Nachbarschaft und mit
vielfachen Kooperationen mit den Universitätsinstituten
ansiedelten. Betrug die Zahl der Mitarbeiter um 1960 noch
rund 2.000 bei etwa 6.000 Studierenden, so sind es heute
4.800 bei mehr als 20.000 Studierenden (Wintersemester
2003/04).
Was 1829 mit zwei Lehrern und 57 Schülern als
Gewerbeschule begann, ist heute, 175 Jahre später, zu einer
Großuniversität mit zahlreichen Forschungsverbünden,
innovativen Studiengängen und interdisziplinären
Forschergruppen mit internationalen wissenschaftlichen
Kontakten, stets vorderen Plätzen in Hochschul-Rankings und
Ausstrahlung in alle Welt geworden.
Wer sich über die Geschichte der Universität Stuttgart
informieren will, greift am besten zu dem Buch von Johannes
H. Voigt: Universität Stuttgart, Phasen ihrer Geschichte,
Stuttgart 1981. Norbert Becker