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Stuttgarter unikurier Nr. 93 April 2004
Von der Gründung bis heute:
175 Jahre Universität Stuttgart

Am 26. Oktober 1829 begann in der gerade gegründeten "Königlichen Real- und Gewerbeschule" in Stuttgart der Unterricht. Das Gründungsjahr dieser Schule ist der Anlass, das 175jährige Bestehen der Universität Stuttgart im Jahr 2004 zu feiern. Denn diese Gewerbeschule entwickelte sich im Zuge der staatlichen Gewerbeförderung und der Industrialisierung Deutschlands zur Technischen Hochschule und zu unserer heutigen Universität Stuttgart.
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Lehrer und Schüler der Polytechnischen Schule Stuttgart nehmen 1841 anlässlich des Regierungsjubiläums König Wilhelms I. von Württemberg an einem Festzug teil.
Einweihung des Neuen Hauptgebäudes der Polytechnischen Schule 1864. In den Jahren zuvor war die Schule nur provisorisch in einem ehemaligen Offizierspavillon in der Königstraße untergebracht.
Das Gebäude Keplerstraße 10 war nach dem Zweiten Weltkrieg kaum zerstört. Hier mussten nun fast alle Institute der Technischen Hochschule Platz finden.
Ankunft auf der Hunnewellhütte 1948. Die Technische Hochschule unterhielt von 1930 bis 1978 auf der Schwäbischen Alb bei Degenfeld für Seminare, Exkursionen und sportliche Veranstaltungen eine Hütte, die nach ihrem Stifter, dem deutsch-amerikanischen Studenten Walter Hunnewell, benannt war. Die Ausflüge hierhin boten den Studierenden eine Abwechslung zu den kargen Lebensumständen der Nachkriegszeit. (Foto: Ruth Schuon)
Die Anfänge waren klein. Im ersten Jahr begannen 57 Schüler in zwei Klassen mit ihren Studien. Man mag auch darüber schmunzeln, dass noch wenige Jahre zuvor die romantisch-konservativen Verfechter eines württembergischen Agrarstaats die mit der Industrialisierung verbundene Massenarmut und den aus dieser resultierenden "Aufruhr" fürchteten und eine "Erziehung zur Industrie", wie sie später als Schlagwort in aller Munde war, für unnötig erachteten. Aber sie behielten letztlich Recht, waren es doch auch Industriearbeiter, die fast 90 Jahre später die Monarchen in Deutschland zur Abdankung zwangen. Naturwissenschaft und Technik hatten inzwischen die Welt verändert. Sie tun dies bis zum heutigen Tag. Grund genug, einen Blick zurückzuwerfen auf die Geschichte der Universität Stuttgart und ihre Bedeutung für die Entwicklung von Technik und Gesellschaft.

Noch waren es keine jungen Erwachsenen, sondern Schüler im Alter von 13 und 14 Jahren, die eine Ausbildung in den technischen Fächern Mechanik und Mathematik, Naturwissenschaften, Architektur, Handel und in einigen geisteswissenschaftlichen Fächern erlangten. Der Unterricht sollte - was neu war - die wissenschaftlichen Grundlagen der technischen Berufe vermitteln, ohne jedoch den Bezug zur technischen Praxis und zu konkreten Aufgaben von Ingenieuren und Fabrikanten aus dem Auge zu verlieren. Die Lehre in den technischen Disziplinen hatte sich nicht an den alten Universitäten etablieren können. Auf staatliche Initiative wurden daher neue Institutionen hierfür ins Leben gerufen: Nach der École Polytechnique in Paris, die, 1794 eröffnet, weithin als Leitbild der Technischen Hochschulen galt, gingen die Gründungen ähnlicher technischer Bildungseinrichtungen in Prag (1806), Wien (1815), Berlin (1821), Karlsruhe (1825), München (1827) und Dresden (1828) der Stuttgarter Gewerbeschule voraus. Es folgten im deutschsprachigen Raum Hannover (1831), Braunschweig (1835), Darmstadt (1836) und erst spät, als sich die Gewerbeschulen zu universitätsähnlichen technischen Hochschulen wandelten, die nahe gelegene ETH Zürich (1855) und die deutschen technischen Hochschulen in Aachen (1870), Danzig (1904) und Breslau (1910). In England und den USA erfolgte die Gründungswelle technischer Hochschulen zur selben Zeit, als sich die Gewerbeschulen in Deutschland zu Hochschulen entwickelten (zum Beispiel 1861 das Massachusetts Institute of Technology). Es mag überraschen, ist aber für die frühe Phase fast aller technischer Hochschulen nicht ungewöhnlich, dass die wenigsten Absolventen in den neuen Industriezweigen tätig wurden. Erst mit den Fächern Chemische Technologie und Maschinenbau wurden Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen, die vornehmlich für die Tätigkeitsfelder in den neuen Industrien qualifizierten.

Ausbau zur Hochschule

In den 1860er Jahren begann eine Blütezeit mit einem deutlichen Ausbau der Schule. Sie wurde 1876 als "technische Hochschule" definiert und demonstrierte diesen Status auch nach außen für jedermann sichtbar in der neuen Bezeichnung "Polytechnikum". Zwischen 1862 und 1876 stieg die Zahl der "Hauptlehrer", wie die Professoren damals noch genannt wurden, von 11 auf 25. Im Jahr 1864 wurde das neue Hochschulgebäude im selbstbewussten Stil der italienischen Renaissance in der Alleenstraße (an der Stelle des heutigen Kollegiengebäudes I) eingeweiht. Die Schule wurde 1862 wie eine Universität dem Kultministerium unmittelbar unterstellt und erhielt wie diese eine Selbstverwaltung mit bis heute fortbestehenden Organen und Ämtern (Senat, Fakultäten, Rektor, Dekane). Ab 1870 wurden die Diplomprüfungen eingeführt, die vor allem in den Fächern, für die es keine Staatsprüfungen gab wie Chemie oder Maschinenbau, nun den Studierenden eine Abschlussprüfung ermöglichten. Schon seit der Mitte der 1850er Jahre verdreifachte sich die Zahl der Studenten von etwa 150 auf 477 im Wintersemester 1877/78. Der Wandel zur Hochschule wird auch deutlich in der neuen, internationalen Zusammensetzung der Studentenschaft: Schon 1879 kamen 24 Prozent der Studierenden aus dem Ausland. Seit 1876 waren alle Studenten Erwachsene. Das Studium dauerte nun in der Regel drei bis dreieinhalb Jahre.

Im Zuge der Entwicklung neuer Forschungs- und Lehrgebiete und der zunehmenden Spezialisierung innerhalb der bestehenden Disziplinen entstanden neue Lehrstühle und Institute, so für Kunstgeschichte 1865, Elektrotechnik 1883 oder Luftschiffahrt, Flugtechnik und Kraftfahrzeuge 1911, die alle zu den ersten ihrer Disziplin in Deutschland gehörten. Mit Carl Bach (1847 - 1931) wurde einer der bedeutendsten Maschinenbauingenieure seiner Zeit an die Hochschule berufen. Bachs ingenieurwissenschaftliche Methodik verbindet Theorie und Versuch zur Lösung technischer Aufgaben, wie sie nun in den Ingenieurwissenschaften in Deutschland richtungsweisend wurde.

Technische Hochschule

Einen auch in der Außenwirkung deutlichen Abschluss erhielt die Entwicklung des Polytechnikums durch die Verleihung des Namens "Technische Hochschule" im Jahr 1890. Höhepunkt und vorläufiger Abschluss aller Bestrebungen der so genannten "Technikerbewegung" zur gesellschaftlichen Gleichstellung und Anerkennung der technischen Wissenschaften als akademische Disziplinen und der Ingenieure als Akademiker war jedoch die Verleihung des Promotionsrechts an die TH Stuttgart im Jahr 1900. Die ersten Frauen wurden im Wintersemester 1905/06 zum Studium zugelassen, eine größere Zahl von Studentinnen verzeichnete die Technische Hochschule Stuttgart aber erst nach dem Ersten Weltkrieg.

Mit Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Sommer 1914 leerten sich die Hörsäale schlagartig. Drei Viertel der Studenten wurden zum Militärdienst eingezogen. Mehr als ein Fünftel ihrer Studenten kam auf den Schlachtfeldern ums Leben.

Zwischen Erstem und Zweitem Weltkrieg

Nach dem Ersten Weltkrieg strebten mehr als doppelt so viele Studierende an die Hochschule wie in den besten Semestern während des Kaiserreichs (969 Studenten im Wintersemester 1903/04). Im Wintersemester 1921/22 wurde mit 2093 Studierenden zum ersten Mal die Zweitausendermarke überschritten.

In den Zwanzigerjahren entstanden Institutionen, die bis in die Gegenwart für die Universität von großer Bedeutung sind und wichtige Funktionen wahrnehmen, so beispielsweise das Studentenwerk (1921), der AStA und die Fachschaften (1921) und die Vereinigung von Freunden (1923).

Nachdem schon 1932 nationalsozialistische Studenten den Vorsitz im AStA übernommen hatten, wurden nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Reich und in den Ländern die demokratischen Strukturen der Technischen Hochschule zerschlagen und für alle Wahlämter das Führerprinzip eingeführt. Anfang 1933 trat der Physiker Paul Peter Ewald (1888 - 1985) von seinem Amt als Rektor zurück, weil er von den Plänen der neuen Machthaber erfahren hatte, die jüdischen Professorenkollegen von den Hochschulen zu entfernen. Zahlreiche Professoren, Assistenten und Dozenten wurden in den nächsten Jahren aus rassistischen oder politischen Gründen entlassen. Zusammen mit dem Ausschluss jüdischer oder politisch links eingestellter Studierender begann auch in Stuttgart ein unheilvoller Prozess, bei dem durch die Vertreibung und Ermordung von Fachgelehrten auf vielen, gerade auch technischen Gebieten die deutsche Wissenschaft ihre Spitzenposition mit Nachwirkungen bis zum heutigen Tag einbüßte. Ein Höhepunkt der Drangsalierungen bildete die Initiative einer nationalsozialistischen Studentengruppe, die noch, bevor die jüdischen Studierenden am 11. November 1938 grundsätzlich in Deutschland vom Studium ausgeschlossen wurden, in einer pogromartigen Aktion ihre jüdischen Kommilitonen von der Technischen Hochschule vertrieb.

Bereits zum Rüstungsprogramm der nationalsozialistischen Reichsregierung gehörte der Ausbau des Kraftfahrzeug- und Motorenwesens und der Luftfahrttechnik. Fast alle Institute arbeiteten an rüstungstechnischen Projekten. Die Stuttgarter Architekten und Bauingenieure hatten schon vor dem Zweiten Weltkrieg maßgeblichen Anteil am Bau der Reichsautobahn in Südwestdeutschland.

Ende Juli 1944 stand die Hochschule vor einer weiteren Zäsur ihrer Geschichte: Das Hauptgebäude wurde bei Bombenangriffen fast vollständig zerstört. Zahlreiche Institute und die wenigen noch stattfindenden Lehrveranstaltungen wurden aus Stuttgart auf verschiedene Orte in der Umgebung verteilt. Mit Kriegsende kamen schließlich Forschungsprojekte und Lehrbetrieb zum Erliegen.

Von der Nachkriegszeit bis zur Gegenwart

Der Neubeginn von Forschung und Lehre nach dem Zweiten Weltkrieg fiel schwer. Mehr als 75 Prozent der Institutsgebäude waren zerstört, fast alle Lehrsammlungen, Labore sowie 42 Prozent der Bibliotheksbestände vernichtet. Trotzdem gelang es, am 12. Februar 1946 den Lehrbetrieb wieder aufzunehmen. Im Sommersemester 1947 waren bereits 4.132 Studierende immatrikuliert.

Eine wirkliche Auseinandersetzung und ein deutlicher personeller Bruch mit der nationalsozialistischen Vergangenheit fand auch an der TH Stuttgart nicht statt. Ein personeller und inhaltlicher Neubeginn vollzog sich am deutlichsten in der Architekturabteilung,

wo man an die Traditionen des Neuen Bauens und die aktuelle Moderne anknüpfte, sowie in der Physik und in den Geisteswissenschaften, wo auch in der NS-Zeit entlassene Professoren an die TH zurückkehrten.

Anfang der 1950er Jahre waren die materiellen Schwierigkeiten überwunden. Durch großzügige Spenden des Deutsch-Amerikaners Max Kade (1882 - 1967) konnten die Neubauten eines Studentenwohnheims, einer Mensa und der Bibliothek in Angriff genommen werden. Um den Stuttgarter Stadtgarten und am Standort Azenberg- und Seestraße wurden für verschiedene Institute weitere neue Gebäude errichtet, darunter die Kollegiengebäude I und II, Manifestationen einer erneuerten Stuttgarter Architekturlehre. Im Pfaffenwald in Stuttgart-Vaihingen entstand seit 1957 ein zweiter Campus; dort sind heute zwei Drittel aller Institute angesiedelt. Hier wurden zahlreiche moderne Institutsbauten errichtet, zuletzt das Zentrum für Bioverfahrenstechnik (1993), die Elektrotechnischen Institute II (1998), das Gastdozentenhaus (1998), die Fertigungstechnischen Institute (2000) und das Informatikgebäude (2003).

Als in der Mitte der 1960er Jahre das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland stark ausgebaut wurde, erhielten nicht nur die ingenieurwissenschaftlichen Disziplinen an der TH Stuttgart neue Institute und Professuren. Auch die Geistes-, Natur-, Sozial- und Wirtschaftswissenschaften sowie die Informatik (seit 1969) erfuhren einen deutlichen Aufschwung. Erneut erhöhte sich der Zustrom von Studierenden. Im Wintersemester 1973/74 wurde zum ersten Mal die Zahl von 10.000 Studierenden, im Wintersemester 1988/89 die Zahl 20.000 erreicht. Im Jahr 1967 erhielt die Technische Hochschule ihren heutigen Namen "Universität Stuttgart" und 1969 verabschiedete der Senat die neue Grundordnung, durch die allen Gruppen von Universitätsangehörigen (Studierende, wissenschaftlicher Mittelbau, Mitarbeiter in Technik und Verwaltung und Professoren) Mitsprache in den Entscheidungsgremien zukam. Als langfristiges Ergebnis der Auseinandersetzungen kann eine zunehmende Demokratisierung der Hochschule festgehalten werden, durch die sie auch in internen Formen der Entscheidungsfindung mit der gleichzeitigen gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland Schritt hielt und für die nunmehr entstehende "Massenuniversität" angemessene Organisationsformen bereitstellte.

Im selben Zeitraum wandelten sich Form und Organisation der Wissenschaft hin zu größeren Forschungsgruppen, Spezialisierung und Verstärkung der internationalen und interdisziplinären Zusammenarbeit. Die zunehmende Interdisziplinarität dokumentiert sich nicht nur durch die Einrichtung zahlreicher Sonderforschungsbereiche, sondern wurde auch durch die Entstehung des Wissenschaftsstandortes in Stuttgart-Vaihingen ebenfalls seit den 1960er Jahren begünstigt, wo sich Institute der Max-Planck-Gesellschaft, der Fraunhofer-Gesellschaft und des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt in enger Nachbarschaft und mit vielfachen Kooperationen mit den Universitätsinstituten ansiedelten. Betrug die Zahl der Mitarbeiter um 1960 noch rund 2.000 bei etwa 6.000 Studierenden, so sind es heute 4.800 bei mehr als 20.000 Studierenden (Wintersemester 2003/04).

Was 1829 mit zwei Lehrern und 57 Schülern als Gewerbeschule begann, ist heute, 175 Jahre später, zu einer Großuniversität mit zahlreichen Forschungsverbünden, innovativen Studiengängen und interdisziplinären Forschergruppen mit internationalen wissenschaftlichen Kontakten, stets vorderen Plätzen in Hochschul-Rankings und Ausstrahlung in alle Welt geworden.

Wer sich über die Geschichte der Universität Stuttgart informieren will, greift am besten zu dem Buch von Johannes H. Voigt: Universität Stuttgart, Phasen ihrer Geschichte, Stuttgart 1981. Norbert Becker

 


last change: 12.05.04 / hj
Pressestelle der Universität Stuttgart

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