Stuttgarter unikurier Nr. 93 April 2004 |
Mit 75 Jahren der
älteste Doktorand:
Günther Widmer
promovierte in Geschichte |
Da waren gute Nerven
gefragt: Mit einer vollen Stunde Verspätung startete am 22.
Dezember 2003 Günther Widmer in seine mündliche
Doktorprüfung - der erste Schneefall hatte den
Zweitkorrektor im Zug festgehalten. Doch der 75-Jährige ließ
sich nicht aus der Ruhe bringen, und so konnte er später dem
wartenden großen Familien- und Freundeskreis erleichtert
mitteilen: "Mit gut bestanden". Der Doktorvater des
Prüflings, Prof. Dr. Franz Quarthal von der Abteilung
Landesgeschichte des Historischen Instituts, betonte beim
anschließenden Sektumtrunk, dass Günther Widmer - übrigens
der älteste Doktorand der Uni Stuttgart - noch zu der
Generation zählt, die nach dem Kriegsende den Schutt mit
wegräumten, um studieren zu können: "Wahrscheinlich hat er
sich als Schwabe damals gesagt, dafür studiere ich zweimal."
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Mit seinen jüngeren Kommilitonen hat sich Günther Widmer
gut verstanden.
(Foto: Eppler) |
Vor
zwölf Jahren wechselte Günther Widmer aus seinem
Arbeitsleben nicht wie viele seiner Altersgenossen in den
Ruhestand, er wurde Student. "Für Geschichte habe ich mich
immer schon interessiert", erzählt er, doch unmittelbar nach
Kriegsende erwarb er an der damaligen Technischen Hochschule
Stuttgart zunächst ein Diplom im Fach Volkswirtschaft. "Das
Verhältnis zu den Professoren war ganz anders", kann Günther
Widmer nun den Vergleich ziehen, "da hat einmal sogar ein
Professor einen Anfall bekommen, weil ihn ein Student etwas
gefragt hat". Jetzt dagegen saß er mit den Professoren an
einem Tisch und mit seinen Kommilitonen kam er sehr gut aus.
"Es war eine tolle Zusammenarbeit, ich wurde nie
ausgegrenzt", erzählt der Seniorstudent begeistert, der 1998
seinen Magisterabschluss mit einer Arbeit über "Das
evangelische Pfarrhaus in Württemberg im 19. Jahrhundert in
der Literatur" erwarb und sich in der anschließenden
Dissertation mit der "Entwicklung der württembergischen
evangelischen Landeskirche im Spiegel der Pfarrberichte bis
zum Beginn des 20. Jahrhunderts" beschäftigte.Beitrag zur
Kirchen- und Sozialgeschichte
"Eine herausragende Leistung zur Kirchen-, Geistes- und
Sozialgeschichte Württembergs", merkt Prof. Franz Quarthal
lobend an. Auf rund 600 Seiten geht Günther Widmer auf den
Wandel des religiösen Verhaltens in Württemberg ein, auf die
Schwierigkeiten der evangelischen Landeskirche, angemessen
auf die Industrialisierung und die Herausbildung eines
Arbeiterstandes zu reagieren, und beschäftigt sich mit den
Wandlungen der evangelischen Landeskirche und der
württembergischen Gesellschaft insgesamt.
Neben der geistigen Anregung hat das Zweitstudium auch
einen Beitrag zum Familienfrieden geleistet, schmunzelt
Günther Widmer. Wollte er doch nie in die Gefahr geraten,
seiner Frau einmal zu erzählen, wie "man Kartoffeln richtig
schält oder den Teppich saugt" - ein Phänomen, das er im
Bekanntenkreis bei einigen Pensionären bemerkt hat. Diese
Gefahr ist gebannt - seine Frau wurde ihm zur wichtigen
Korrekturleserin - und nach der Zukunft gefragt, hofft der
"Herr Doktor", "dass die an der Uni schon noch eine Arbeit
für mich finden". Immerhin, fit in Sachen PC und Internet
ist Günther Widmer. Julia Alber
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