Also Irkutsk: Aus einem meiner liebsten
Kinderbücher wusste ich, dort fließt die schöne Angara und
Väterchen Baikal ist nicht weit. Außerdem war es sowohl auf
dem Luft- als auch dem Landweg mit nur zweimaligem Umsteigen
zu erreichen. Was liegt für einen werdenden Verkehrsplaner
näher, als einfach mal zum Fahrkartenschalter auf dem Campus
zu gehen und dumm zu fragen... Nach zwanzig Minuten hatte
ich alle Fahrkarten und dazu sogar eine
Reisegepäckversicherung, denn Warnungen russischer und
ukrainischer Bekannter, wie etwa "Du wirst die Ukraine ohne
Deine Schuhe verlassen", haben mich doch etwas bewegt.
Aber alles unbegründet! Nach fünf entspannenden Tagen
im Schlafwagen erreichte ich am 5. März 2002 Irkutsk,
nicht nur auf die Minute pünktlich, sondern auch um
einige wichtige Erfahrungen reicher, denn sowohl die
ersten Trinkerfahrungen als auch die ersten Versuche mit
der russischen Sprache und das gerade erlernte
Kartenspiel erwiesen sich noch als sehr nützlich. In
Irkutsk war Winter, richtig Winter: Mit Schnee, Eis und
Kälte bis minus 30 Grad Celsius. Mein Wohnheim war etwas
"einfach", aber ich hatte ein Einzelzimmer, Dusche,
Kühlschrank, zum Leben also mehr als genug.
Die Diplomarbeit ging etwas langsamer voran als geplant:
Von der Irkutsker Uni war ich zwar mit einem gutem Computer
in einem modernen Büro bestens ausgestattet, aber schon die
Installation meiner speziellen Software und vor allem die
Beschaffung der unbedingt notwendigen Daten führten mir
gelegentlich deutlich vor Augen, dass die Uhren in Russland
etwas anders ticken
doch für eben diese anders gehenden
Uhren haben die Russen das Lebensmotto "wso budet harascho"
("alles wird gut"), mit dessen Hilfe auch ich bis Ende
August genug Material sammeln konnte, um die Heimreise nach
Stuttgart antreten zu können.
Eine neue Brücke über die Angara
Zur Diplomarbeit: In der russischen Großstadt Irkutsk,
mit über 640.000 Einwohnern das wirtschaftliche und
kulturelle Zentrum Ostsibiriens, wird seit dem Jahr 2000
eine zweite innenstadtnahe Straßenbrücke über die Angara
gebaut. Diese Brücke wird das Stadtzentrum mit den
Stadtteilen auf der anderen Seite der Angara verbinden, auch
mit dem Campus der Technischen Universität Irkutsk (ISTU).
Die neue Brücke entlastet eine bestehende Brücke und
verbessert die Verkehrssituation im Stadtzentrum insgesamt.
Die Aufgabe lautete, den Bereich des auf dem linken Ufer
liegenden Brückenkopfes zu gestalten. Auf der etwa einen
Quadratkilometer großen Fläche war für den motorisierten
Individualverkehr eine Reihe von planfreien oder
lichtsignalgesteuerten Knoten zu entwerfen. Im öffentlichen
Verkehr entsteht auf dieser Fläche eine Verknüpfung zwischen
einem Haltepunkt einer Vorortbahn ("Elektritschka") und dem
städtischen Busnetz. Teilflächen des Areals sind für ein
Sport- und Einkaufszentrum vorgesehen. Verknüpfungen und
Erschließung sollen besonders fußgängerfreundlich erfolgen.
Dazu wurden neben der bisher in Irkutsk zur Ausführung
vorgesehenen Basislösung drei Varianten entwickelt. Die Ergebnisse
wurden Vetretern der Stadtverwaltung präsentiert.
Zu Hause in Stuttgart war die Diplomarbeit recht schnell
beendet. Aber es blieb das Verlangen, nach Irkutsk
zurückzukehren. Dieser Wunsch sollte sich im Frühjahr 2003
erfüllen. Ich wurde von meinen Irkutsker Betreuern zur
"Internationalen Baikal Winter Städtebauuniversität" als
Assistent/Experte eingeladen. Doch dieses Mal fuhr ich nicht
alleine, mit mir fuhren fünf Studenten des Verkehrswesens
aus Stuttgart, die an der "Städtebauuniversität" teilnahmen.
Internationale Baikal-Winteruniversität
Die Internationale Baikal-Winteruniversität wurde vor
fünf Jahren von der "Architektur-/Städtebauschule" in
Cergy-Pontoise bei Paris gemeinsam mit der
Architekturfakultät der Staatlichen Technischen Universität
Irkutsk initiiert. Ihr Hauptanliegen ist die Förderung von
Absolventen durch internationale Ausbildungsprogramme und
"einer hohen Berufskultur" im öffentlichen Städtebau zur
Lösung aktueller städtebaulicher Probleme. Das Konzept der
Winteruniversität besteht in einem dreiwöchigen Wettbewerb
interdisziplinärer Projektgruppen von Absolventen
verschiedener Länder und Ausbildungsstufen. Seit 2003 sind
auch die Verkehrsvertiefer der Universität Stuttgart zur
Winteruniversität eingeladen und 2003 wie 2004 mit je fünf
Studierenden vertreten. Das Thema 2003 befasste sich mit der
"Universität in der Stadt"; 2004 ging es unter dem Thema
"Neue Städte - Probleme, Perspektiven und Möglichkeiten"
darum, städtebauliche und verkehrliche Lösungen für die erst
50 Jahre alte Stadt Angarsk zu entwickeln, die mit ca.
270.000 Einwohnern etwa 30 Kilometer von Irkutsk an der
Angara liegt. Vor einer interessierten Öffentlichkeit,
Vertretern der lokalen Administration und vor den Objektiven
des Lokalfernsehens haben die Absolventen die Gelegenheit,
ihre Pläne zu präsentieren. Eine international besetzte
Expertenjury bewertet die Arbeiten. Die besten Teams
erhalten eine Auszeichnung. Ein attraktives Begleitprogramm
sorgt dafür, dass abends und am Wochenende die privaten
Kontakte nicht zu kurz kommen. Höhepunkte bilden die
Ausflüge zum Baikalsee, dem größten Süßwasserreservoir der
Erde.
Niels Jäger, Walter Vogt
KONTAKT
Dr.-Ing. Walter Vogt, Institut für Straßen- und
Verkehrswesen, Lehrstuhl für Straßenplanung und Straßenbau,
Pfaffenwaldring 7, 70569 Stuttgart
Tel. 0711/685-6440
Fax 0711/685-6966
e-mail: vogt@isvs.uni-stuttgart.de