Home           Inhalt           Suchen

Stuttgarter unikurier Nr. 92 Dezember 2003
Interdisziplinäres Kolloquium:
Kunst und Medialität - Die Filme der Avantgarde

Die Filme der Avantgarde standen im Mittelpunkt eines Kolloquiums vom 1. bis 3. Juni in der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart. Veranstalter waren das Internationale Zentrum für Kultur- und Technikforschung in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Romanische Literaturwissenschaften der Universität Bremen und der Akademie Schloss Solitude.
kleinbal.gif (902 Byte)

Die sich drehende Spirale setzte Marcel Duchamp in seinen Filmen häufig ein. (Foto: IZKT)
Die Veranstaltung im Rahmen des Forschungsprojekts "Prozess der Moderne" setzte die mit dem Kolloquium "Medialität und Modell" im Januar 2002 begonnene Diskussion über die Frage der Medialität fort. Da diese Frage eng mit der Kunst verknüpft ist, sollte die Problematik der Medialität nun anhand der Analyse von Filmen der Avantgarde konkret und vom Verhältnis Kunst - Medien aus behandelt werden.

Den Auftakt bildete ein Filmabend in Kooperation mit dem Kommunalen Kino Stuttgart mit Klassikern des experimentellen Films von Marcel Duchamp, Man Ray und Fernand Léger. Erstmals bekam das Stuttgarter Kinopublikum auch Gelegenheit, die noch erhaltenen Teile des italienischen Films "L’uomo meccanico" von André Deed ("Der mechanische Mensch", 1921/22) zu sehen, eine frühe filmische Verarbeitung des Roboterthemas. Ein Film, in dem, so Friedrich Kittler (Berlin) in seinem Kolloquiumsbeitrag, der "lange Weg" von den alten Medien wie Roman und Theater zu den neuen Medien Film, Fernsehen und sogar Video angezeigt wird. Im Steue-rungsmechanismus des Roboters per Bildschirm und Kamera sieht Kittler die Geburt des - im Film noch namenlosen - Geräts ‚Fernseher’. Bereits veraltet ist das Fernsehen in dem Film "Strange Days" (1995), den Jay David Bolter (Atlanta) zur Illustration seines Beitrags zu "Remediation in early and late cinema" gewählt hat. Der Bildschirm im Bildschirm oder der Film im Film und das Sehen mit dem (fremden) Kameraauge allerdings bleibt bei der Verarbeitung, der Remediation anderer Medien im Film, stets präsent. Auch die neue Technologie von "the wire", die der Dealer Larry in "Strange Days" seinen Kunden anpreist, ist ein bildlich-filmisches Medium "like TV, only better".

Das Wirkliche als Geschwindigkeit des Möglichen
Keines komplizierten Übertra-gungs- und Projektionsmechanismus’ hingegen bedarf die Arbeit der Züricher Künstlerin Sandra Boeschenstein, die Jean-Baptiste Joly, der Direktor der Akademie Schloss Solitude, dem Kolloquium als Motto voranstellte: Die Installation in der Cafeteria der Akademie besteht aus einer transparenten Glasplatte mit dem eingeritzten Satz "Das Wirkliche ist die Geschwindigkeit des Möglichen", der als Schattenprojektion auf der Wand sichtbar wird. Die einleitenden Überlegungen von Gerhart Schröder (Stuttgart) nahmen gleichsam den Ball auf, den die Installation zugespielt hatte. Nicht etwa die Philosophie, sondern die Kunst sei der "Ort, an dem die Frage der Medialität zur Diskussion steht", in der konstanten Reflexion ihrer technisch und medial bedingten Möglichkeiten, in der Transparenz der Verfahren, welche den Akt der Gestaltung als solchen sichtbar werden lässt.

Der Künstler und - wie ihn Gisela Febel (Bremen) bezeichnete - Diskursbegründer Marcel Duchamp ging in seiner Kritik am "retinalen Bild" und in seiner Reflexion über die medialen Bedingungen des Bildes und des Kunstwerks allgemein auch Experimenten mit optischen Geräten und Versuchsanordnungen sowie kinematographischen Experimenten nach. Die sich drehende Spirale steht hierbei oft im Mittelpunkt seines Interesses, so auch in dem Film "AnémicCinéma" von 1926, bei dem abwechselnd sich drehende gezeichnete Spiralen und Textspiralen mit französischen Wortspielereien gezeigt werden. Der durch die Spirale ausgelösten medialen "Vertigoerfahrung" spürte Friederike Wappler (Konstanz) im Vergleich von "AnémicCinéma" mit den Arbei-ten von Bruce Nauman nach.

Abkehr vom narrativen Film
Joachim Paech (Konstanz) zeigte, wie im experimentellen Film der Avantgarden in der Abkehr vom kommerziellen narrativen Spielfilm europäischer oder amerikanischer Prägung die Neigung des Mediums zur Entropie aufgesucht wird. Die Avantgarde zielte, so Paech, auf eine Wiedereinsetzung der Bewegungsdimension mittels im konventionellen Film als störend betrachteter Elemente wie Flicker, Bildflimmern sowie Rattern und Rauschen der Apparatur. Das der Bewegungsdimension komplementäre Moment des Innehaltens, des Anhaltens und Fixierens der Bewegung im gleichsam ‚unfilmischen’ Stillstand thematisierte hingegen Cornelia Lund (Stuttgart) am Beispiel der Filme Man Rays als Moment der Reflexion medialer Verfahren.

Nachdem Corinne Diserens (Marseille) die Gelegenheit geboten hatte, Marcel Broodthaers Arbeiten in Äußerungen des Künstlers in Radio-Interviews oder dokumentarischen Filmen näherzukommen, spürte Michael Glasmeier (Braunschweig) dem Geheimnis der Pfeife bei René Magritte, Michel Foucault und Marcel Broodthaers nach. Am Beispiel dieser drei nicht nur bei der Pfeife, sondern auch bei Begriffen wie dem "Archiv" so themenverwandten "Denker-Künstler", welche "die Postulate der Wissenschaft durch eine spezifisch subversive Komplexität aushebeln", verfolgt er sein polemisches Postulat für mehr Poesie und Praxis in der Kunstbetrachtung und fordert dazu auf, wieder auf Spurensuche in den Bildern zu gehen und Kunst weniger als Illustration bereits bestehender Diskurse zu betrachten. Cornelia Lund

KONTAKT
Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung,
Keplerstr. 11, 70174 Stuttgart,
Tel. 0711/121-2589,
Fax 0711/121-2813,
e-mail: info@izkt.uni-stuttgart.de,
www.uni-stuttgart.de/izkt

 


llast change: 17.12.03 / hj
Pressestelle der Universität Stuttgart

Home           Inhalt           Suchen