Das Gebiet der postcolonial studies hat
der Anglistik in den letzten Jahren völlig neue Horizonte
eröffnet, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst hat sich
ihr geographisches Forschungsgebiet von den britischen
Inseln und Nordamerika zur so genannten Terranglia
erweitert, also in Richtung der englischsprachigen
überseeischen Kulturen und ihrer Literaturen. Diese machen
auch in Großbritannien selbst einen zunehmenden Anteil des
Buchmarktes aus; stellvertretend erwähnt seien nur Autoren
wie Salman Rushdie, Nadine Gordimer, V.S. Naipaul oder Derek
Walcott. Diese wenigen Namen zeigen auch, dass sich die
postkoloniale Literatur, was ästhetische Komplexität und
formale Innovation angeht, oft auf höchstem Niveau bewegt.
Viele Anglisten haben sich in den letzten Jahren neben den
traditionellen Forschungsgebieten auf eine der früheren
Kolonien und ihre Literatur/Kultur spezialisiert
(beispielsweise Südafrika, Nigeria, Indien, Kanada,
Australien) und so zur Bereicherung des Anglistikstudiums
beigetragen. Zugleich ist die Vielschichtigkeit der
postkolonialen Kulturen sichtbar geworden, bei denen vor
allem zwischen Siedlungs- und Eroberungskolonien zu
unterscheiden ist und ethnische, kulturelle und ökonomische
Differenzen Generalisierungen trotz aller
Globalisierungstendenzen erschweren.
Großes Interesse am Kulturaustausch
Das Interesse der Studierenden an Fragen des
Kulturaustauschs und/oder des Kulturkonflikts ist groß, der
Bereich der postcolonial studies expandiert rasch und eine
Gesellschaft für Neue Englische Literaturen und Kulturen (GNEL)
führt seit einigen Jahren auch in Deutschland internationale
Tagungen durch, Lehrstühle für postcolonial studies wurden
an vielen Universitäten eingerichtet. Was macht die
Attraktivität des neuen Forschungsgebiets aus? Neben der
Faszination der mehr oder weniger exotischen Fremdkultur
seien vor allem drei Bereiche hervorgehoben: (1) die
Alteritäts- und Stereotypenforschung, die Fragen der
Konstitution individueller und nationaler Identität umfasst,
(2) die Problematisierung westlicher Normen durch
Berücksichtigung periphärer Perspektiven und (3) die
Interdisziplinarität, bedingt durch die Notwendigkeit der
Erschließung fremdkultureller Horizonte.
Motor interkultureller Forschung
Die Anglistik kann so zum Motor für die Erprobung von
Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit im Bereich
interkultureller Forschung werden, wie sie es im späten 20.
Jahrhundert schon einmal auf dem Gebiet der urbanen Kultur
war durch die in der Theoriebildung ausgeprägte
Signalwirkung von Poststrukturalismus und
Postmoderne-Forschungen für zahlreiche Nachbardisziplinen.
Durch die Hinwendung zur "Terranglia" ist eine Förderung
interkultureller Kompetenzen und eine vertiefte Kenntnis
geopolitischer Problemhorizonte zu erwarten, die im
Zeitalter der Globalisierung zu begrüßen ist. Schon jetzt
haben die theoretischen postkolonialen Arbeiten Homi K.
Bhabhas, des kürzlich verstorbenen Edward Saids (beide waren
bereits in Stuttgart zu Gast beim Zentrum für Kultur- und
Technikforschung) und Gayatri Spivacks in zahlreichen
anderen Disziplinen (Geschichts-, Sozial- und
Kulturwissenschaften) zu kontroversen Diskussionen über die
Grenzen von Kultur und Nation und über Mechanismen
interkulturellen Austauschs geführt. Was aus postkolonialer
Sicht die Dezentrierung traditioneller Wahrnehmungs- und
Interpretationsschemata bedeuten kann, mag ein Zitat aus
Salman Rushdies "Satanic Verses" erhellen; es spricht der
sprachbehinderte Mr. Whisky Sisodia: "The trouble with the
Engenglish is that their hiss hiss history happened overseas,
so they dodo dont know what it means."
Modernisierungserfahrungen in Indien und Südafrika
Die Stuttgarter Tagung stellte, gemäß der Besonderheiten
des Standorts an einer ehemaligen Technischen Hochschule,
die Frage nach der Bedeutung von Modernisierungsprozessen
und technologischen Revolutionen für periphäre Kulturen. Die
international renommierte postkoloniale Theoretikerin und
Conrad-Forscherin Benita Parry (University of Warwick)
präsentierte den Eröffnungsvortrag über Auswirkungen der
Modernisierung auf die postkoloniale Identitätsproblematik,
wobei sie auf Arbeiten des ursprünglich aus Martinique
stammenden Psychoanalytikers Frantz Fanon aufbauen konnte.
Unter den keynote speakers waren ferner Ian Baucom (Stanford), Elleke Boehmer (Nottingham Trent) und Laura
Chrisman (York).
Im Mittelpunkt der Tagung standen
Modernisierungserfahrungen in Südafrika und Indien mit den
Auswirkungen des Internet und seiner Kommunikationsformen
auf Definitionen des Selbst in der (indischen,
südafrikanischen) Diaspora. Die innerhalb eines
Forschungsprojekts des Internationalen Zentrums für Kultur-
und Technikforschung (IZKT) stattfindende Veranstaltung
wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem IZKT und
dem Byrnes Institut Stuttgart gefördert. Ein Tagungsband ist
in Vorbereitung. Walter Göbel
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Amerikanistik und Neuere Englische Literatur,
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