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Stuttgarter unikurier Nr. 92 Dezember 2003
Postcolonial Studies als neues Forschungsfeld:
Neue Horizonte für die Anglistik
Um "Postcolonial Representations of Technology, Modernization and Intercultural Conflict" ging es vom 18. bis 20. Juli bei einer internationalen Tagung der Abteilung Anglistik/Amerikanistik des Instituts für Literaturwissenschaft. Dass diese Abteilung die Tagung veranstaltete, kann nicht verwundern, geht es doch vornehmlich um Literaturen und Kulturen ehemaliger Kolonien - und die erfolgreichsten Kolonisatoren waren nun einmal die Engländer, wovon die bunte Bevölkerungsvielfalt Londons heute zeugt.
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Das Gebiet der postcolonial studies hat der Anglistik in den letzten Jahren völlig neue Horizonte eröffnet, und dies in mehrfacher Hinsicht. Zunächst hat sich ihr geographisches Forschungsgebiet von den britischen Inseln und Nordamerika zur so genannten Terranglia erweitert, also in Richtung der englischsprachigen überseeischen Kulturen und ihrer Literaturen. Diese machen auch in Großbritannien selbst einen zunehmenden Anteil des Buchmarktes aus; stellvertretend erwähnt seien nur Autoren wie Salman Rushdie, Nadine Gordimer, V.S. Naipaul oder Derek Walcott. Diese wenigen Namen zeigen auch, dass sich die postkoloniale Literatur, was ästhetische Komplexität und formale Innovation angeht, oft auf höchstem Niveau bewegt. Viele Anglisten haben sich in den letzten Jahren neben den traditionellen Forschungsgebieten auf eine der früheren Kolonien und ihre Literatur/Kultur spezialisiert (beispielsweise Südafrika, Nigeria, Indien, Kanada, Australien) und so zur Bereicherung des Anglistikstudiums beigetragen. Zugleich ist die Vielschichtigkeit der postkolonialen Kulturen sichtbar geworden, bei denen vor allem zwischen Siedlungs- und Eroberungskolonien zu unterscheiden ist und ethnische, kulturelle und ökonomische Differenzen Generalisierungen trotz aller Globalisierungstendenzen erschweren.

Großes Interesse am Kulturaustausch
Das Interesse der Studierenden an Fragen des Kulturaustauschs und/oder des Kulturkonflikts ist groß, der Bereich der postcolonial studies expandiert rasch und eine Gesellschaft für Neue Englische Literaturen und Kulturen (GNEL) führt seit einigen Jahren auch in Deutschland internationale Tagungen durch, Lehrstühle für postcolonial studies wurden an vielen Universitäten eingerichtet. Was macht die Attraktivität des neuen Forschungsgebiets aus? Neben der Faszination der mehr oder weniger exotischen Fremdkultur seien vor allem drei Bereiche hervorgehoben: (1) die Alteritäts- und Stereotypenforschung, die Fragen der Konstitution individueller und nationaler Identität umfasst, (2) die Problematisierung westlicher Normen durch Berücksichtigung periphärer Perspektiven und (3) die Interdisziplinarität, bedingt durch die Notwendigkeit der Erschließung fremdkultureller Horizonte.

Motor interkultureller Forschung
Die Anglistik kann so zum Motor für die Erprobung von Formen interdisziplinärer Zusammenarbeit im Bereich interkultureller Forschung werden, wie sie es im späten 20. Jahrhundert schon einmal auf dem Gebiet der urbanen Kultur war durch die in der Theoriebildung ausgeprägte Signalwirkung von Poststrukturalismus und Postmoderne-Forschungen für zahlreiche Nachbardisziplinen. Durch die Hinwendung zur "Terranglia" ist eine Förderung interkultureller Kompetenzen und eine vertiefte Kenntnis geopolitischer Problemhorizonte zu erwarten, die im Zeitalter der Globalisierung zu begrüßen ist. Schon jetzt haben die theoretischen postkolonialen Arbeiten Homi K. Bhabhas, des kürzlich verstorbenen Edward Saids (beide waren bereits in Stuttgart zu Gast beim Zentrum für Kultur- und Technikforschung) und Gayatri Spivacks in zahlreichen anderen Disziplinen (Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften) zu kontroversen Diskussionen über die Grenzen von Kultur und Nation und über Mechanismen interkulturellen Austauschs geführt. Was aus postkolonialer Sicht die Dezentrierung traditioneller Wahrnehmungs- und Interpretationsschemata bedeuten kann, mag ein Zitat aus Salman Rushdies "Satanic Verses" erhellen; es spricht der sprachbehinderte Mr. ‘Whisky’ Sisodia: "The trouble with the Engenglish is that their hiss hiss history happened overseas, so they dodo don’t know what it means."

Modernisierungserfahrungen in Indien und Südafrika
Die Stuttgarter Tagung stellte, gemäß der Besonderheiten des Standorts an einer ehemaligen Technischen Hochschule, die Frage nach der Bedeutung von Modernisierungsprozessen und technologischen Revolutionen für periphäre Kulturen. Die international renommierte postkoloniale Theoretikerin und Conrad-Forscherin Benita Parry (University of Warwick) präsentierte den Eröffnungsvortrag über Auswirkungen der Modernisierung auf die postkoloniale Identitätsproblematik, wobei sie auf Arbeiten des ursprünglich aus Martinique stammenden Psychoanalytikers Frantz Fanon aufbauen konnte. Unter den keynote speakers waren ferner Ian Baucom (Stanford), Elleke Boehmer (Nottingham Trent) und Laura Chrisman (York).

Im Mittelpunkt der Tagung standen Modernisierungserfahrungen in Südafrika und Indien mit den Auswirkungen des Internet und seiner Kommunikationsformen auf Definitionen des Selbst in der (indischen, südafrikanischen) Diaspora. Die innerhalb eines Forschungsprojekts des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung (IZKT) stattfindende Veranstaltung wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem IZKT und dem Byrnes Institut Stuttgart gefördert. Ein Tagungsband ist in Vorbereitung. Walter Göbel

KONTAKT
Institut für Literaturwissenschaft, Abteilung Amerikanistik und Neuere Englische Literatur,
Keplerstr. 17, 70174 Stuttgart,
Tel. 0711/121-3104, -3105,
Fax 0711/121-3237,
e-mail: Amerikanistik@po.uni-stuttgart.de

 


llast change: 17.12.03 / hj
Pressestelle der Universität Stuttgart

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