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Stuttgarter unikurier Nr. 91 April 2003
Das Dilemma mit der verlorenen Perle oder:
Der Katalysator an der Leine

Die Suche nach einer verlorenen Perle ist mühsam, ihr Verlust nicht leicht zu verschmerzen. Ähnlich ist es bei vielen molekularen Systemen, die als Katalysatoren bei der Herstellung eines Produkts eingesetzt werden. Wird ein Katalysator in einem Medium gelöst, um eine Reaktion durchzuführen, so stellt sich anschließend die Frage, ob man den Katalysator wieder isolieren soll oder nicht - also die Perle suchen oder ihren Verlust in Kauf nehmen. Die Isolierung eines Katalysators oder die Herstellung eines neuen Katalysators kann aufwendig und teuer sein. Ein Ausweg aus diesem Dilemma ist, den Katalysator so zu fixieren, dass er nicht verloren gehen kann. Dabei soll er aber wie in der Lösung leicht zugänglich und in seiner Bewegungsfreiheit nicht behindert sein. Er soll sich frei „fühlen“, aber dennoch angeleint sein und sich durch einfache Methoden von der Reaktionslösung abtrennen lassen. (Abb 15). 
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  Abb. 15: Im Idealfall einer Katalysereaktion lässt sich der Katalysator anschließend von der Reaktionslösung abtrennen und erneut verwenden. (Grafik: Institut) 
Chemiker sind Baumeister in der atomaren Welt: es gelingt ihnen tatsächlich, Katalysatoren an die Leine zu nehmen. Der Katalysator, genauer sein aktives Zentrum, wird über eine längere, sehr bewegliche Kette, meistens über eine längere Kohlenwasserstoffkette (Spacer), an einem Netzwerk, das sehr porös ist und gut von einem Lösungsmittel (Solvens) und den Ausgangsverbindungen (Substrat) durchspült werden kann, verankert. Diese Situation veranschaulicht die Grafik zum Prinzip des Interphasenkonzeptes (Abb. 16). Im allgemeinen besteht dieses Netzwerk aus stark verzweigten, gut quellbaren, organischen oder anorganischen Polymeren. Dank dieser Konstruktion kann sich das katalytisch aktive Zentrum in Lösung wie der Tentakel eines Tintenfisches bewegen. Derartige Gebilde bezeichnet man als Interphasen.

Übersteht der Katalysator das Anleinen?
Katalysatoren können sehr komplexe und fragile Gebilde sein, und natürlich stellt sich sofort die Frage, ob diese molekularen Strukturen die Prozedur des Anleinens unbeschadet überstehen. Dies nachzuprüfen ist gar nicht so einfach; sind doch die katalytisch aktiven Zentren in ein ungeordnetes System eingebettet und häufig sehr spärlich verteilt. Aber es gibt Möglichkeiten. Eine davon ist die Röntgenabsorptionsspektroskopie. Ihr Prinzip lässt sich an einem einfachen Beispiel verdeutlichen. Man stelle sich vor, man säße in völliger Dunkelheit und Stille in einem Boot auf einem See. Man weiß nicht, ob sich in der Nähe andere Boote oder das Ufer befinden. Aber wie soll man dies feststellen? Man wirft einen Stein ins Wasser. Es entsteht eine Wasserwelle, die sich vom Boot aus ausbreitet und ausläuft. Ist aber eine Hafenmauer oder sind andere Boote in der Nähe, so wird die auslaufende Wasserwelle reflektiert und klatscht an die Bordwand des Bootes, von dem die Welle ausging.
Das Prinzip der Röntgenabsorptionsspektroskopie ist völlig analog. Das Boot entspricht einer bestimmten Elementsorte. Durch Wahl der Energie der einfallenden Röntgenstrahlung ist es möglich, eine bestimmte Elementsorte auszuwählen. Der Röntgenstrahl erzeugt eine Elektronenwelle, die vom Atom aus ausläuft.
Die Welle wird von den benachbarten Atomen zurückgestreut und vom aussendenden Atom registriert.
Da die Absorption von Röntgenstrahlung messbar ist, kann auf diese Weise die nächste Umgebung um ein Atom ermittelt werden. 

Röntgenabsorptionsspektroskopie in Interphasen
  Abb. 16: Die Abbildung zeigt das Prinzip des Interphasen-Konzepts für metallkatalysierte Reaktionen: Der Katalysator, genauer sein aktives Zentrum, wird über eine längere, sehr bewegliche Kette, meistens über eine Kohlenwasserstoffkette (Spacer), an einem Netzwerk, das sehr porös ist und gut von einem Lösungsmittel (Solvens) und den Ausgangsverbindungen (Substrat) durchspült werden kann, verankert.
Mit der Röntgenabsorptionsspektroskopie ist es also möglich, für eine bestimmte Atomsorte die Art und Zahl der nächsten Nachbarn und ihren Abstand zum Zentralatom zu bestimmen. Die Methode kann in festen und flüssigen Phasen eingesetzt werden, ist sehr empfindlich und die lokale Umgebung um nahezu jede Atomsorte kann abgetastet werden. Allerdings handelt es sich dabei um keine Routinemethode: diese Messungen können nur mit Synchrotronstrahlung, die nur an wenigen Plätzen zur Verfügung steht, durchgeführt werden. Da die Methode aber auch anwendbar ist, wenn die interessierende Atomsorte in Konzentrationen von knapp einem Atomprozent vorliegt, kann sie auch zur Charakterisierung der katalytisch aktiven Zentren in Interphasen eingesetzt werden. 
Interphasen werden im Rahmen des Graduiertenkollegs „Interphasen“ an der Universität Tübingen hergestellt und am Institut für Physikalische Chemie der Universität Stuttgart mit Hilfe der Röntgenabsorptionsspektroskopie untersucht. Natürlich kann die Röntgenabsorptionsspektroskopie nicht nur auf Interphasen angewandt werden. In Zusammenarbeit mit der TU Wien untersuchen die Stuttgarter Forscher mit dieser Methode beispielsweise die Strukturen neuartiger Kunststoffe, anorganisch-organischer Hybridpolymere. Aber auch in der klassischen Metallkatalyse der organischen Chemie kann die Röntgenabsorptionsspektroskopie wichtige Informationen über strukturelle Veränderungen am Katalysator während der Reaktion liefern.


KONTAKT 
Prof. Dr. Helmut Bertagnolli, 
Tel. 0711/685-4450,
e-mail: h.bertagnolli@ipc.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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