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Stuttgarter unikurier Nr. 91 April 2003
Neue Strategien gegen den Krebs:
Vom Leben und Sterben der Zellen
„Panta rhei“, alles fließt, so Heraklit - vier Jahrhunderte vor Christus. Gerade biologische Systeme sind gekennzeichnet durch ein ständiges Werden und Vergehen. Dies gilt auch für die kleinste Systemeinheit des Lebens, die Zelle, sowohl für die Zelle als Gesam-tes als auch für ihre im Innern wirkenden Systemkomponenten. So wird die Aktivität der Proteine, der Funktionsträger der Zelle, nicht nur durch chemische Modifizierung geregelt – in einem reversiblen Prozess, der einem Schaltvorgang in der technischen Welt entspricht –, sondern insbesondere auch durch kontrollierte Neusynthese und gezielte Zerstörung. 
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Chemie des Lebens

Leben ist gekoppelt an chemische und physikalische Vorgänge in der Zelle, Chemie ist also ein Teil des Lebens. Das Verständnis der in der lebenden Natur ablaufenden Prozesse wird insbesondere durch biochemische und molekularbiologische Forschung vorangetrieben; die Nutzung der Erkenntnisse beispielsweise in der Medizin, der Landwirtschaft oder Biotechnologie und - was Funktions- und Bauprinzipien anbelangt - auch in der Materialwissenschaft hat nachhaltigen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung der Menschheit und deren Lebensbedingungen.
Chemikerinnen und Chemiker der Universität Stuttgart untersuchen auf naturwissenschaftlicher Ebene die fundamentale Frage, wie das Leben funktioniert (Institut für Biochemie), wie durch das Zusammenwirken von Metallen und organischen Molekülen lebenstragende chemische Prozesse ablaufen (Institut für Anorganische Chemie) und wie enzymatische Prozesse technologisch umgesetzt und genutzt werden können. Die Nutzung biologischer Makromoleküle in der Biokatalyse (siehe Kapitel „Nachhaltige Produktionsverfahren“) und die biochemische Analytik, insbesondere die Herstellung von Biosensoren, wird im Institut für Technische Biochemie erforscht.     Claus D. Eisenbach

Dabei ist die Zerstörung ausgesuchter Proteine (selektive Proteolyse) als ein die Lebensfunktionen der Zelle erhaltender und vor allem steuernder Prozess von größter Bedeutung. Das erscheint uns, gewohnt an die Abläufe der technischen Welt, auf den ersten Blick vielleicht paradox. Wer hält es schon für vernünftig, Maschinen abzuschalten, indem man sie in ihre Bestandteile zerlegt? Für die Zelle macht das aber durchaus Sinn. Verläuft doch die proteolytische Zerstörung eines Proteins schnell, vollständig und irreversibel, garantiert daher die termingerechte und gänzliche Abschaltung seiner biologischen Aktivität. Und, da alle Proteine aus einem Satz von nur zwanzig Bausteinen, den Aminosäuren, aufgebaut werden, können Abbauprodukte leicht für den Aufbau neuer Funktionseinheiten wiederverwertet werden. Der Gewinn für die Zelle ist hoch, der Preis erträglich. Dabei muss sichergestellt sein, dass die Proteinzerstörung hochspezifisch erfolgt und mit sozusagen mikrochirurgischer Präzision nur ausgesuchte Zielproteine erfasst. Um dies sicherzustellen, hat die Natur hochkomplexe Systeme hervorgebracht. 

Hefezellen als Versuchskaninchen

  Abb. 5:  Das Proteasom ist eine komplexe molekulare Maschine, quasi ein nanodimensionaler Fleischwolf, zur selektiven Zerstörung von Proteinen. Die Messerchen zum Zerkleinern der Proteinkette liegen in einem Hohlraum im Inneren des Proteasoms. Zielproteine werden durch Anhängen einer aus kleinen Proteineinheiten namens Ubiquitin zusammengesetzten Kette für den Abbau markiert. Ubiquitin wird im Verlauf des Abbauprozesses für weitere Markierungen recycelt. 
(Grafik: Institut) 

Wissenschaftler am Institut für Biochemie entschlüsselten die für selektive Proteolyse zentralen molekularen Maschinen, die Proteasomen (Abb. 5), und studieren nun die Bedeutung intrazellulärer Abbauprozesse für die Funktion der Zelle. Sie benutzen dazu, quasi als Versuchskaninchen, Hefezellen. Warum gerade Hefe? Hefen entsprechen in ihrem Grundaufbau unseren menschlichen Zellen. Hefezellen sind – wie aus der Jahrtausende langen biotechnologischen Nutzung in der Wein- und Brotherstellung bekannt – besonders gut kultivierbar, besser und schneller als Säugetierzellen. Zudem sind sie für moderne Methoden der Biochemie und molekularen Genetik experimentell leicht zugänglich. Und ihr genetischer Bauplan ist seit 1996 vollständig bekannt. So bieten sich Hefezellen besonders an, um rasch die Basisfunktionen höherer Zellen zu erkunden und im Detail zu analysieren. Hier erschlossene Wege sind richtungsweisend gerade auch für die Erforschung der Funktionen menschlicher Zellen. So hat Hefe-Biochemie und Molekularbiologie eine allgemeine Schrittmacherfunktion in der Aufklärung zellbiologischer Prozesse. Dokumentiert wird dies unter anderem durch die Vergabe des Medizin-Nobelpreises 2001 für die grundlegende Erforschung des Zellteilungszyklus und seiner Bedeutung für die Krebsentstehung. Zwei der drei ausgezeichneten Wissenschaftler hatten durch Arbeiten an Hefezellen den Grundstein dafür gelegt.

Wie bauen Zellen geschädigte Proteine ab?
Welche Aspekte gezielter intrazellulärer Proteolyse interessieren die Forscher am Institut für Biochemie nun besonders? Da ist einerseits der Abbau geschädigter oder abnormaler Eiweißmoleküle. Diese entstehen durch äußere Stresseinflüsse wie Hitze, Strahlung oder toxische Chemikalien, können aber auch zellintern infolge ererbter oder erworbener genetischer Fehler oder im Verlauf der Zellalterung gebildet werden. Solchermaßen entstandener „Proteinmüll“ kann essenzielle Prozesse stören oder zelluläre Wege verstopfen und die Ursache schwerster Erkrankungen sein. Die Zelle versucht, dies durch Proteolyse der geschädigten Proteine zu vermeiden. In der Aufklärung der zugrunde liegenden Abbauprozesse liegt ein Schlüssel zum Verständnis von Krankheiten wie der Mucoviscidose, BSE, der Creutzfeld-Jakob-, Alzheimer- und auch Parkinson-Erkrankung. Ein anderes wichtiges Thema am Institut für Biochemie ist die Beteiligung zielgerichteter Proteolyseschritte an der Steuerung grundlegender zellulärer Prozesse wie des Zellteilungszyklus oder der Induktion des programmierten Zelltods. Eine zentrale Herausforderung der Zellteilung ist die exakte Verteilung der Kopien des genetischen Bauplans auf Mutter- und Tochterzelle. Dies muss mit höchster Präzision geschehen. Einmal entstandene Fehler können nicht repariert werden; die Zellen beziehungsweise der gesamte Organismus muss mit den Folgen - oftmals der Entstehung entarteter Zellen - leben. Um die exakte Reproduktion der Zelle zu erreichen, verlaufen die Zellteilungsprogramme hochkoordiniert. Zusätzlich sind Kontrollinstanzen (so genannte Checkpoints) integriert, die eventuell auftretende Fehler erkennen und den Zellteilungszyklus bis zur Reparatur der Fehler anhalten. Ist die Reparatur unmöglich, wird ein programmierter Selbstmord der Zelle, die Apoptose, induziert. Die Natur nimmt den Tod einzelner Zellen in Kauf, um die Qualität der überlebenden Zellen zu sichern. Forschungsarbeiten der letzten zehn Jahre haben gezeigt, dass die termingerechte, gezielte proteolytische Zerstörung bestimmter Regulatorproteine eine bedeutsame Rolle in der Steuerung des Zellzyklusprogramms und der Induktion der Apoptose ausübt. Fehler in diesen Funktionen sind eine Ursache für die Entstehung bösartiger Tumoren. Die Arbeiten zur Funktion regulatorischer Proteolyse (gerade auch im Hefemodell) beschäftigen sich buchstäblich mit Fragen zu Leben und Tod. In der Klärung dieser Fragen liegt unter anderem die Basis zur Entwicklung neuer Strategien gegen Krebs.

KONTAKT
Prof. Dr. Dieter Wolf, Tel. 0711/685-4390,
e-mail: dieter.wolf@po.uni-stuttgart.de


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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