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Stuttgarter unikurier Nr. 90 November 2002
Interdisziplinäres Kolloquium:
Tradition und Modernität im interkulturellen Vergleich
 

Um „Tradition und Modernität im interkulturellen Vergleich“ ging es bei einem Kolloquium des Internationalen Zentrums für Kultur- und Technikforschung der Universität Stuttgart im Juni auf Schloss Solitude. Ziel der Veranstaltung war es, den bislang im wesentlichen auf die okzidentalen Kulturen und deren Denkmodelle von Tradition und Modernität gerichteten Fokus des Forschungsprojekts „Ursprünge der Moderne“ auf andere Kulturen zu erweitern. Mitveranstalter waren die Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris), der Lehrstuhl für Romanische Literaturen an der Universität Bremen, das Ägyptologische Institut der Universität Heidelberg und die Akademie Schloss Solitude in Stuttgart.

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Es ist ein Charakteristikum der okzidentalen Moderne, dass sie sich ständig neu erfinden und ihren Beginn als radikalen Bruch mit Bestehenden markieren will, wie dies etwa die herausragende Bedeutung der Renaissance für die westeuropäische Tradition demonstriert. Mit dem Kolloquium wurde nun der Frage nachgegangen, welche anderen Modelle des Verhältnisses von historischer Kontinuität und programmatischer Modernität denkbar sind und versucht, diese in anderen Kulturen, aber auch in den historischen Stufen der europäischen Denkformen seit der griechischen Antike aufzuspüren.

Mit der Frage nach anderen Möglichkeiten, das Verhältnis von Tradition und Modernität zu denken, ist auch stets die Frage nach der Herkunft des okzidentalen Modells verbunden. Als einen entscheidenden Punkt führte Gerhart Schröder (Stuttgart) hier in seinen einführenden Bemerkungen das an, was Jan Assmann (Heidelberg) die „mosaische Unterscheidung“ nennt, die Abgrenzung und Ausdifferenzierung des Monotheismus vom integrativen Polytheismus. Gerhart Schröder stellte dieser „mosaischen Unterscheidung“ die nicht minder folgenreiche „platonische Unterscheidung“ an die Seite, die mit einer ähnlich radikalen Unterscheidung von Wahrheit und Lüge operiert, allerdings nicht auf dem Feld der Religion, sondern auf dem philosophischen Feld von Sein und Schein. Daran knüpfte Jan Assmann an, indem er die Abkehr von mythischen Strukturen im antiken Griechenland mit der Konstruktion eines kontinuierlich gedachten ‚Altertumsbezugs’ im Alten Ägypten konfrontierte. Kann für manche Kulturen, wie dies die Ägyptologen im Falle der altägyptischen Kultur tun, von „Renaissancen“ gesprochen werden, ohne dass damit Brüche evoziert würde, so gibt es in der byzantischen Kultur, dies die These von Paolo Odorico (Paris), eine Moderne ohne Renaissancen.

Westeuropäische Renaissance als Ausgangspunkt
Die westeuropäische Renaissance selbst bildete immer wieder Ausgangs- und Mittelpunkt der Diskussion. Ihrer zögerlichen Aufnahme im Judentum ging Giuseppe Veltri (Bologna/Halle) am Beispiel des Philosophen Leone Ebreo nach. Yves Hersant (Paris) zeigte an der musikalischen Entwicklung, wie wenig die Renaissance tatsächlich einen radikalen Bruchs vollzieht, bezieht sich im Falle der Musik doch die Ablehnung lediglich auf die unmittelbar vorangegangene ars nova, nicht aber auf die davorliegende Musikpraxis. Die stete Wiederkehr des Vergangenen erinnere, so Hersant, eher an „revenances“ (als Wiederkehr von mehr oder weniger latent Präsentem) denn an „Renaissance“. Mit Montaignes Essay über die Kannibalen nahm Gisela Febel (Bremen) den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen über „Modernität und Ästhetik des Diversen“ ebenfalls in der Frühen Neuzeit, verfolgte dann aber verschiedene Formen des Schreibens über das Diverse oder aus dem Status des Diversen heraus bis ins 20. Jahrhundert bei Victor Ségalen und Edouard Glissant.

Einblick in den Umgang mit Tradition und Modernität in der zeitgenössischen ästhetischen Praxis gewährten die Beiträge von Tiziano Manca, Stipendiat für Komposition an der Akademie Schloss Solitude, und von Jean-Baptiste Joly (Stuttgart). Letzterer führte vor, wie Stipendiaten der Akademie beispielsweise den traditionellen Ort „Solitude“ verarbeiten.

Andreas Pflitsch (Berlin) und Reinhard Schulze (Bern) gingen beide der Frage der Aufnahme der okzidentalen Moderne in den arabischen Kulturen nach. Diese gestaltete sich zunächst - bis zur Eröffnung des Suez-Kanals 1869 - eher unproblematisch und bestand vornehmlich in einer Übernahme technischer Neuerungen. Diese kann allerdings, wie Reinhard Schulze an der Einführung des Buchdrucks in den arabischen Ländern zeigte, zu einer neuen, von den westlichen Ländern geprägten - im vorliegenden Fall von den orientalistischen Instituten - Traditionsbildung führen. 

Diese beiden Beiträge leiteten über in die von Gerhart Schröder und Gisela Febel moderierte Diskussion, in deren Verlauf sich vor allem ein Anliegen verdichtete, das bereits in der Diskussion der verschiedenen Beiträge Gestalt gewann: „Sortir du XIXe siècle“ als die Notwendigkeit, die Episteme des 19. Jahrhunderts endgültig zu verabschieden, um eine adäquate Diskussion über Fragen von Tradition und Modernität jenseits des okzidental dominierten Diskurses zu ermöglichen. 

Cornelia Lund

Kontakt
Internationales Zentrum für Kultur- und Technikforschung, (früher: Zentrum für Kulturwissenschaften und Kulturtheorie), Keplerstr. 11, 70174 Stuttgart,
Tel. 0711/121-2589, Fax 0711/121-2813,
e-mail: zkw@po.uni-stuttgart.de

 


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Pressestelle der Universität Stuttgart

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